Was ich schreibe und lese: in nächster Zukunft.

© karanzy / buywhere.org

Verbindungs- und Bewegungsdaten von Smartphones können genutzt werden, um zielsichere Vorhersagen über den nächsten Aufenthaltsort eines Lesers zu machen. In der nächsten Literatur funktioniert dies auch mit der zukünftigen Lektüre. © karanzy / buywhere.org

Die “nächste Gesellschaft” wird, sagt der Soziologe Dirk Baecker, “in all ihren Strukturen auf das Vermögen fokussiert sein, einen jeweils nächsten Schritt zu finden und von dort aus einen flüchtigen Blick zu wagen auf die Verhältnisse, die man dort vorfindet für die nächsten Schritte in einem unsicheren Gelände”.

Dafür werden die entsprechenden Computerprogramme entwickelt. Für sie sind Vergangenheit und Gegenwart Datenpools, aus denen hochgerechnet werden kann, was in nächster Zukunft passiert. Die Frage, was wir im letzten und in diesem Sommer gemacht haben, interessiert Programme dieser Art nur noch im Hinblick auf das, was wir im nächsten Sommer tun werden.

Wer diese gesamtkulturelle Drehung verstanden hat, ist nicht überrascht, wenn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute gemeldet wird, dass Programmentwickler an der Universität Birmingham den Smartphones beibringen können, Verbindungs- und Bewegungsdaten des Nutzers so auszuwerten, dass “zunehmend zielsichere Vorhersagen” darüber gemacht werden können, wo man als nächstes hingeht. Die Abweichung von einer Prognose für die nächsten vierundzwanzig Stunden beträgt im Schnitt lediglich zwanzig Meter.

Behauptet wird, dass sich ein solches Programm gut zur Bekämpfung von Kriminalität einsetzen läßt. Realisten wissen, dass es sich eher um ein neues Instrument für Werbetreibende handelt. Wer sich, so wie ich, für die nächste Literatur interessiert, kommt aber auch noch auf ganz andere Ideen.

Nehmen wir an, ich hätte ein Programm auf meinem Handy, das mir nicht nur sagen könnte, wo ich morgen bin, sondern auch, was ich morgen lese. Dann könnte ich heute schon über das berichten, was morgen die FAZ schreibt. Ich hätte auch den neuen Roman von Rainald Goetz schon vor seiner Veröffentlichung gelesen, mit einer Abweichung von etwa zwanzig Seiten.

Überhaupt wüsste ich heute, was ich morgen schreibe – und was andere mir dazu schreiben werden. Ich könnte generell von Gegenwart auf die nächste Zukunft umstellen und einen Tag im Voraus agieren. Das Programm gäbe mir eine entsprechende Möglichkeit, mein eigenes Verhalten im Hinblick auf das zu beobachten, was mir vorausgesagt wird. Ich könnte zum Beispiel immer gegen die Erwartung schreiben. Und lesen könnte ich, was andere Nutzer eben nicht lesen, gerade weil sie sich für dasselbe Buch in einem ähnlichen Leben interessieren, das morgen eigentlich in etwa so laufen sollte wie meins.

So wird sich die literarische Kultur der nächsten Gesellschaft ganz grundsätzlich verschieben. Sie wird ein offenes Spiel. Denn wir werden nicht mehr über das sprechen, was wir gelesen haben. Interessant ist das, was wir als nächstes lesen werden, und wieviel Seiten Abweichung unsere Lektüre haben wird.

Ein eigenartiger Gedanke ist das, nicht wahr?! Aber mein Handy sagt voraus, dass ich mich morgen nicht nur an ihn gewöhnt haben werde. Ich werde ihn auch noch toller finden als heute.