Þing
Produktszenario aus dem Startup-Romanprojekt "Aller Abend Tage"
Führt man sich einmal vor Augen, welche Anforderungen die moderne Gesellschaft an einen durchschnittlichen Menschen stellt, möchte man am liebsten gleich das Handtuch werfen.
Wir haben schön zu sein, durchtrainiert, unser Style trendgerecht und zeitlos zugleich. Nicht nur soll unsere Allgemeinbildung das Panorama des Möglichen abdecken, gleichzeitig sind wir up-to-date und kennen alle relevanten News. Beruflich sind wir erfolgreich, jedes Jahr können wir mindestens einen Schritt auf der Karriereleiter verbuchen. Mit unseren Freunden sind wir vernetzt, wir liken uns gegenseitig und folgen einander in virale Clubs und bestbewerteste Restaurants. Wir streiten nicht mit unseren Partnern, sondern füllen nach neuesten moralisch-ökologischen Standards den gemeinsamen Kühlschrank. Wir sind fantastische Liebhaber. Wir sind perfekte Vorbilder für unsere Kinder.
Das ist nicht nur der gängige Typus des Idealmenschen, die Wahrheit ist, wir wollen tatsächlich so sein! Auch wenn wir es uns nicht immer eingestehen. Öffentlich fürchten wir zwar die digitale Demenz, träumen von einem entschleunigten Wochenende, erzählen, dass wir darüber nachdenken unseren Facebook-Account zu löschen. Aber wenn wir uns einmal ehrlich zuhören, begründen wir das nicht mit: “Ich will endlich mal wieder abschalten!”, sondern: “Ich hänge den ganzen Tag auf Facebook rum und komme dann zu nichts Wichtigem.”
Der Jetzt-Mensch ist ein Mensch der Effizienz. Ein Mensch mit Zielen und einer Roadmap dorthin. Jeden Tag, jeden Augenblick stellt ihn diese Roadmap vor neue Entscheidungen: “Mache ich heute Abend mein Workout, oder schone ich mich lieber, um die kleine Erkältung auszukurieren?”
Aus eigener bitterer Erfahrung wissen wir: Im Zeitpunkt des Entscheidens können wir niemals sicher sein, die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Das menschliche Gehirn ist von der unendlichen Fülle an Daten und Informationen überlastet, wir verlieren den Überblick und das Gespür dafür, welche Daten wichtig sind, welche nicht. Wie diese be- und auszuwerten sind. Unser Gehirn verfälscht oft die Interpretation von Informationen, weil es auf Lustgewinn ausgerichtet ist. Übrigens ein Prinzip, dass in vormodernen Zeiten oft der richtige Weg zu einem erfüllten Leben war, in der Jetzt-Zeit aber nur zu Adipositas, Verschuldung und hohen Honoraren für Scheidungsanwälte führt.
Wenn die eigene Ratio das falsche Werkzeug ist, wie kann man in einer so komplexen Umwelt immer die bestmöglichen Entscheidungen treffen? Die intuitive Antwort auf dieses Problem ist meistens die Intuition. Aber mehrere Studien belegen, dass 78 Prozent aller intuitiven Entscheidungen im Nachhinein bereut wurden!
Unsere Antwort auf dieses Problem ist: das Þing.
Seit einiger Zeit gibt es unter den Early Adopters den Trend, das eigene Verhalten und die persönliche Umwelt mit den Möglichkeiten digitaler Technologien in Daten umzuwandeln und zu speichern. Das sogenannte Quantified-Self. In der Betrachtung der Daten gewinnt man eine nüchterne Distanz zu seinem Leben und kann diese analysieren und auswerten. Diese Auswertung ist aber immer nur eine Rückschau, ein “Was hätte ich besser machen können?” und unterliegt noch immer der Unzulänglichkeit der eigenen Gehirnleistung.
Eine gute Lösung für immerhin einen kleinen Teil des Problems liefern Verkaufsportale wie Amazon. Das Shopping-Verhalten des Kunden besteht eh schon aus Daten, diese werden mittels Algorithmus ausgewertet, hochgerechnet, mit anderen Datensätzen verglichen und tada: man bekommt die optimale Produktempfehlung für den nächsten Kauf.
Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Kombination dieser Ansätze eines der größten Probleme des Jetzt-Menschen löst. Deshalb entwickeln wir das Þing.
Das Þing ist ein Device, dass unsichtbar aber immer anwesend ist, ob zuhause, bei der Arbeit oder beim Sport. Es sammelt Daten aus allen Lebensbereichen des Benutzers, analysiert diese und liefert optimale Entscheidungsempfehlungen angepasst an die jeweiligen persönlichen Ziele.
Die ersten Anwendungsbereiche liegen auf der Hand, ein ganz konkretes Beispiel: Senioren, vor allem Demenzkranke, verspüren oft kein Durstgefühl, obwohl sie stundenlang nichts trinken und dehydrieren, was ernste gesundheitliche Folgen haben kann. Das Þing würde in diesem Fall den Flüssigkeitsgehalt im Körper messen und empfehlen etwas zu trinken. Ist gerade kein Orangensaft im Haus, wird die Position des nächsten Supermarkts ermittelt und der Benutzer sicher dorthin geführt.
Doch auch für jüngere Menschen kann das Þing lebensrettend sein, oder das Leben zumindest verlängern. Krebserkrankungen zum Beispiel werden oft zu spät erkannt, da der Erkrankte erst an den oberflächlichen Symptomen merkt, dass etwas nicht stimmt. Diesen Symptomen geht allerdings schon früher eine Veränderung des Blutbildes voraus, die das Þing erkennt und dem User bzw. Patienten den bestgeeigneten Arzt empfiehlt.
Aber sprechen wir nicht von Krankheiten, die meisten von uns sind unfassbar gesund. Damit das auch so bleibt, gilt es den eigenen Körper in Form zu halten. Bloß welche Sportart soll man wählen? Soll man lieber 30 Minuten am Tag joggen gehen oder eine Stunde? Was ist die beste Geschwindigkeit? Soll man Diät halten oder einen Kalorienüberschuss fahren? Ein Sport- oder Ernährungsberater würde antworten, all das hängt vom Trainingszustand des Körpers, der genetischen Disposition, der Tagesform und dem Trainingsziel ab. Nichts und niemand kennt diese Faktoren besser als das Þing und wird einen effektiveren Trainingsplan zusammenstellen können.
Die Sorge des Jetzt-Menschen um sich selbst betrifft natürlich auch seine Karriere. Es wird Zeit diese Sorge outzusourcen. Unser Device beobachtet das Stresslevel seines Benutzers während der Arbeitszeit und deren Dauer, rechnet sie mit dem Gehalt und den Karrierechancen gegen. Gibt es in der Region des Nutzers ähnliche und vakante Stellen, die einen höheren Karrierequotienten versprechen, wird zu einer Bewerbung geraten.
Je länger man das Þing benutzt, desto besser lernt es einen kennen. Wie viele Paarbeziehungen werden wohl geführt, obwohl beide Parteien seit Jahren keinen Funken Glück mehr verspüren. Glück lässt sich leicht am Hormonspiegel des Users ablesen. Vielleicht braucht es nur den guten Rat eines Freundes, zu dem das Þing mit der Zeit wird, um sich aus einer unglücklichen Situation zu befreien. Zwar gibt es immer kontextuelle Gründe Beziehungen weiterzuführen, Kinder zum Beispiel. Diese Gründe kennt das Þing natürlich auch. Doch wenn ein ehrlicher, moralisch neutraler Freund rät, eine Affäre zu beginnen, um einfach Mal wieder glücklich zu sein …
Apropos Moral. Natürlich wird der Freund und Berater keine Vorschläge liefern, die der Benutzer im Vorhinein ablehnt. Es steht ein umfassendes Prinzipiensystem bereit, das der User bei der Installation einstellt und im Laufe seines Lebens anpassen kann. Wir allerdings empfehlen, das Produkt erst einmal ohne Voreinstellungen zu benutzen. Es ist immer wieder überraschend, wie viel glücklicher und effizienter unser Leben ohne Prinzipien ist.
Das Þing wird im Übrigen mit den aktuellen Gesetzbüchern synchronisiert. Sollte der Benutzer doch einmal das Gesetz aufgrund einer Entscheidungsempfehlung seines Þing übertreten, übernehmen wir die die Prozess- und Anwaltskosten, und die volle Verantwortung.
Ein Problem sind Entscheidungsempfehlungen in spieltheoretischen Situationen, zum Beispiel bei Übernahmeverhandlungen. Auf reiner Datenbasis ist das ein simpler Prozess, das Þing erarbeitet im Internet alle relevanten Informationen und berechnet mögliche Zukunftsszenarios, rankt diese nach Wahrscheinlichkeit des Eintretens und gibt darauf aufbauend Empfehlungen. Da andere User aber ähnliche Empfehlungen anfordern, kommt es zu einer problematischen Dynamik. Wir arbeiten zur Zeit an einem Algorithmus, der auch solche Dynamiken in den Griff bekommt.
Es gibt also keine Entscheidung, die das Þing dem User nicht abnehmen kann. In Zukunft wird man sich den Stress sparen können, schwierige und unangenehme Entscheidungen selbst zu treffen. Sagt dem Þing wo euer Leben hingehen soll und es wird euch dort hinbringen. Das Þing ist stressfreie Effizienz. Die Optimierung von Entscheidungen. Der Autopilot fürs Leben.
Ich wäre damit am Ende meiner Vorstellung angelangt, möchte aber noch etwas zum Thema Monetarisierung anfügen. Wir produzieren zwar in China, aber natürlich sind die Produktionskosten hoch. Trotzdem ist es unser Wunsch den Preis des Þings so niedrig wie möglich zu halten um die Entry Barrier zu minimieren.
Ich möchte die Monetarisierungsmöglichkeit nur kurz andeuten: Die Empfehlung einen Orangensaft zu kaufen, kann die Empfehlung sein, den Orangensaft einer bestimmten Marke zu kaufen.