Das Skindle
Notizen, die unter die Haut gehen
underneath your skin
Sie fahren auf das Retromodell ab. Auf Retromodelle fahren immer alle ab. Sie lassen sich einen Chip unter die Haut spritzen, in Tropfendosis, und sehen dabei zu, wie er speicherkartenklein oder matchboxautogroß wird, flach bleibt, eine zusätzliche Hautschicht unter der Haut. Sie laufen mit diesem Fremdkörper unter ihrer Haut durch die Gegend, als hätten sie ein neues Tattoo. Sie tragen diesen Chip als Accessoire. Greifen zu retro. Ihr Skindle sieht aus wie das Modell eines Notizblocks, wie die Miniatur eines Klemmbretts, eines altmodischen Journals. Sie stehen auf schlichte Farben, auf schwarz und ein bisschen silber, auf weiß, Crème- und Grautöne, vielleicht ab und zu: underneath we are golden. Sie verlernen, wie es ist, stets einen Kugelschreiber bei sich zu tragen, sie wissen nicht mehr, wie es ist, mit einem stumpfen Bleistift zu schreiben. Sie kennen nicht mehr dieses Geräusch, das das Reißen von Papier begleitet. Aber CUT, gehen wir an den Anfang zurück:
Das Skindle kommt auf den Markt. Schriftsteller werden neugierig. Ein Gerät unter der Haut, das literarische Gedanken festhält. Ein Notizbuch, das ohne manuelles Zutun gefüllt wird. Der Spaß kostet 1000 Euro. Man wagt es, kauft. Wie viele Gedanken sind verloren gegangen, wie viele Texte wurden nicht geschrieben, weil man nicht die Möglichkeit hatte, die ach so gute Idee festzuhalten, für später aufzuheben, später, wenn man am Schreibtisch sitzt und auf Ideen wartet. Lyriker kaufen es, weil ihnen kein Wort, kein kompletter Vers, kein geiler Vergleich mehr durch die Lappen gehen soll. Dramatiker kaufen es, weil sie die Dialoge in Straßenbahn und ICE nicht mehr mitschreiben müssen. Und die, die Romane schreiben, kaufen es und schreiben unter der Haut mit, wenn sie eine Figur beobachten, wenn sie in der Schwimmhalle plotten, wenn ihnen beim Autofahren, beim Duschen, beim Sex weltbeste (erste) Sätze, Enden der Geschichte, Höhepunkte einfallen.
Die Schriftsteller gehen joggen, gehen ins Fitnessstudio, ins Hallenbad, verkaufen Softeis oder Ansichtskarten, sie haben Dates, haben Sex, essen Sushi, fahren Rad oder S-Bahn, sie duschen bei 37 Grad Wassertemperatur, sie wickeln ihre Kleinkinder, halten Vorträge, machen Werbung und Coq au vin. Abends docken sie sich an. Ipad, Iphone, Macbook, Netbook, Laptop, PC. Und dann: Tagesschau. Das Skindle listet alle sprachlichen, alle literarischen Gedanken des Tages auf, ordnet sie nach Stimmungen und Atmosphären. Es zeigt alle Gedanken zu einer beobachteten Person als ganz natürliche, leicht kryptische Notizen. Es verschriftlicht mitgehörte Dialoge. Sortiert ganz ordentlich Ideen. Macht das Schriftstellerleben einfacher. Für Köche gibt es schließlich auch Küchenhelfer.
Der Schriftsteller, die Schriftstellerin wählt eines unter vielen ästhetisch ausgefeilten Designermodellen. Retro geht gut. Er oder sie wählt, in welcher Schriftart die Notizen auf dem Screen erscheinen. Er oder sie wählt, in welcher Schriftart die Notizen ausgedruckt werden. Oder ob sie in der eigenen Handschrift aufs Papier kommen sollen. Er oder sie wählt, in welchen Sprachen notiert werden soll. Er oder sie wählt, ob Gedanken zu einem bestimmten Thema völlig ausgeklammert werden sollen. Er oder sie wählt individuell wie in einer Coffeebar.
Den Spaß will man mitmachen. Oder zumindest mal ausprobieren. Geht aber nicht, ein Skindle ausleihen. Also kauft man es sich, lässt es sich unter die Haut spritzen. Die meisten wählen den Unterarm, den kann man am einfachsten an ein Screen pressen; da wird es gesehen, wenn es gesehen werden soll. Und darum geht es: Soll es gesehen werden? Oder nicht? Die einen nutzen es heimlich. Sie wählen die unsichtbare Version. Andere bleiben Schriftsteller mit vollen Notizbüchern, mit Stift in der Tasche, mit Sätzen auf Kassenzetteln und schmutzigen Servietten, mit verlorenen Ideen und immer wieder diesem Konjunktiv: Was daraus geworden wäre. Sie wehren sich gegen die Skindleschriftkultur. Starten Kampagnen à la Maschinenschreiben – nur mit 10 Fingern. Veröffentlichen ihre Journale, geben Kurse im Elementaren Schreiben. Die extremsten Köpfe der Anti-Skindle-Fraktion tragen Bleistift hinter dem Ohr, Notizheft um den Hals. Sagen:
Notizen gehören zum späteren Werk dazu. Doch nur, wer selbst und bewusst notiert, schreibt am Werk. Alles andere ist schlechte weil unglaubwürdige Science Fiction.
Und die anderen? Die Skindle-isten mit ihren Skindle-Listen? Sie fahren auf das Retromodell ab. Auf Retromodelle fahren immer alle ab. Sie lassen sich einen Chip unter die Haut spritzen, in Tropfendosis, und sehen dabei zu, wie er speicherkartenklein oder matchboxautogroß wird, flach bleibt, eine zusätzliche Hautschicht unter der Haut. Sie laufen mit diesem Fremdkörper unter ihrer Haut durch die Gegend, als hätten sie ein neues Tattoo. Sie tragen diesen Chip als Accessoire. Sie krempeln ihre Pullover und Sweatshirts, ihre Tweet- und Strickjacken, ihre Longsleeves hoch, tragen gern T-Shirt, zeigen wieder ganz bewusst: Ich bin Schriftsteller. Es entwickelt sich eine neue Clubkultur. Du bist drin und du bist drin und du bist drin und du noch nicht. Du sparst noch und kommst aber bald rein. Man trifft sich, um zusammen Tagesschau zu gucken. Auf den Screens. Man trifft sich wieder – wie früher, Paris, Literatencafés und so weiter. Die Schriftsteller gehen wieder entspannter durchs Leben. Sie können sich auf jeden einzelnen Tagesordnungspunkt – Werbung, Fitness, Liebe, Kinder, Sushi – viel besser konzentrieren. Sie sind den ganzen Tag gespannt auf den Abend. Und wenn sie Zeit zum Schreiben haben, wenn sie sich explizit Zeitfenster dafür einrichten, morgens, wenn alles aus dem Haus ist, nachts, wenn alles schläft – dann ist die Vorarbeit schon geleistet. Dann ist der Salat schon geputzt, dann sind die Nudeln schon gekocht. Dann kann konzentriert geschrieben werden. Auf der Basis der geordneten Notizen, der Skindle-Listen. Der Schriftsteller, die Schriftstellerin ist ausgefüllt und zufrieden, beruhigt und doch aufgeregt – an jedem Tag wartet schließlich eine sichere Überraschung.
Viele Schriftsteller kauften sich das überaus interessant klingende Produkt – eine Weltneuheit – und fragten erst beim Einspritzen nach Auflademöglichkeiten. Das Skindle wird über Sex aufgeladen. Schriftsteller haben wieder mehr Sex. Schriftsteller haben wieder mehr Kinder. Schriftsteller haben wieder mehr Bewegung. Schriftsteller haben wieder mehr Lust. Es entsteht eine neue Clubkultur, die jegliche Buchmessenaffären potenziert. Und man wagt es, man kauft es. Ein teurer Spaß, aber ein Spaß. Mit Stil – statt mit Stift.