Die halbe Wahrheit über Martin Smyrk
“Der esotherische Poet Martin Smyrk lebte im 19. Jahrhundert in Planken.”
Dieser Satz steht seit dem 27. September 2007 im nach wie vor eher spärlichen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zur liechtensteinischen Ortschaft Planken. Nur daß Martin Smyrk in der Zwischenzeit, genauer: im Februar 2008, von den Wikipedianern das altbackene h aus seinem vielsagenden Poeten-Attribut “esotherisch” herausgekürzt wurde. Im Kanon der liechtensteinischen Lyrik ist Martin Smyrk nicht anzutreffen. Überhaupt trafen wir im ganzen Fürstentum bisher noch niemanden, der zugeben wollte, Smyrks Namen zu kennen. Diese Diskrepanzen ließen uns aufmerken. Wer mochte dieser zwar namentlich exponierte, doch ansonsten offenbar höchst unbe- bzw verkannte Dichter gewesen sein, der im 19. Jahrhundert in Planken lebte? (Fremdsprachliche Übersetzungen der Wikipedia-Quelle behaupten inzwischen sogar: geboren wurde.)
Womöglich ist es an dieser Stelle angebracht, die Ortschaft Planken etwas näher zu charakterisieren. Wo Liechtenstein insgesamt recht nah beieinander liegt, befindet sich Planken relativ abseits auf einer Anhöhe im nördlichen Landesteil, dem sogenannten Oberland. Eine Straße führt von Schaan durch den Wald bergan. Eine einsame Raserstrecke. Die Busanbindung ist der geringen Einwohnerzahl Plankens gemäß: ab 18 Uhr ist Sense. Auf rund 800 Metern Höhe verteilen sich die Häuser Plankens auf nicht viel mehr als zwei drei Straßen. Das Dorf dünstet Wohlstand aus und besteht aus extremer Stille. Weiter oberhalb rauscht ein kleiner Wasserfall. Die Talbewohner sagen, die Plankner bekämen häufig ungesunde Lüfte ab.
Im 19. Jahrhundert war Planken “nur über Trampelpfade zu erreichen”. So haben wir es zumindest gelesen und es ist auch leicht vorstellbar, denn diese Trampelpfade existieren teilweise heute noch und wir haben uns Planken mehrfach über genau diese Trampelpfade genähert. Bei schwieriger Witterung geht man diese Pfade nur ungern. Sie führen über knackige kurze Anstiege, durch brombeergesäumte Hohlwege und vorbei an Holzfäller-Mahnmalen, denn nicht nur die Holzfäller fällen Bäume, sondern die Bäume fällen bisweilen auch Holzfäller. Aus dem Tal ist Planken bei gutem Wetter deutlich sichtbar, in der Dunkelheit leuchten die Lichter der nurmehr bescheiden abgeschiedenen Ortschaft am Berg, doch im 19. Jahrhundert dürfte das deutlich anders ausgesehen und Planken viel weiter im Hinterland gelegen haben. Wer dort wohnte, hauste sozusagen in einem dunklen Hinterzimmer eines anstrengenden Waldmärchens.
Was hatte ein “esotherischer Dichter” in diesem Szenario zu suchen? Wie konnte er überhaupt dort überleben? Smyrk klingt eher wie ein slawischer, denn wie ein liechtensteinischer Name. Und: die Xenofobie der heutigen Liechtensteiner läßt eine gewisse Tradition vermuten. Zugleich wird den Liechtensteinern traditionell Verbrecherfreundlichkeit attestiert; und die Zahl der Dichterverbrecher ist schließlich Legion. Als wir uns bei einer slawischen Expertin nach möglichen Namensbedeutungen erkundigten, erhielten wir die vage Antwort, daß smyrk, dann ganz sicher aber in einer anderen Schreibweise, auf Tschechisch einen seltenen Waldpilz bzw ein Hutzelmännchen bezeichnen könne. Der Name habe gewiß mit Feuchtigkeit, Moor, Dämmerung zu tun, auch sei das russische “smorkajutsa” zu bedenken, ein Niesen und Schneuzen. Tests mit dem Google Übersetzer wiederum erbrachten das Resultat “grinsen” für “smirk” in mehreren slawischen Sprachen.
Martin Smyrk – ein grinsender Pilz? Ein Moormensch? Oder vielleicht eine elektronische Geburt, unversehens zwischen zwei Zeilen gerutschter Appendix, eine pure Erfindung für die ständig sich umwälzenden Enzyklopädien des digitalen Zeitalters, von denen ausgehend der Delinquent, eigentlich nur ein Avatar, ein Scherz, über den Umweg eines entlegenen Bergdorfs des 19. Jahrhunderts Gestalt und Geschichte annimmt, um endlich dem heutigen Planken als illuster geschilderte Gestalt zu Dichter- und Denkerehren, am Ende gar zu Tourismus zu verhelfen?
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