Der Andere

Wie jeder andere denke ich mir manchmal aus, wie es wäre, jemand zu sein, der ich für gewöhnlich nicht bin. Ich deute mir dann jemanden heraus, der sich schon allein deshalb von mir unterscheidet, weil er nicht exakt da steht, wo ich stehe, und sich anschaut, der also an seinem Ort steht und mich anschaut. Aber anders als ich ihn.
Jemand anderes zu sein unterscheidet sich erheblich davon, sich jemanden auszudenken. Man behängt die ausgedachte Person mit allerlei schönem Biografieschmuck, denn man will die Person ja sein, die man sich da ausdenkt, man will sie selbst dann sein, wenn sie in den Tod geht, denn es stirbt ja doch nur der Andere. Man selbst aber kann dann vom Tod sprechen, man kann sagen, wie man ihn empfunden hat, wenn auch nur als Gedankenmodell.
Was ist das Leben anderes?
Jedoch der zu sein, der einem da zufällig auf der Strasse begegnet, im Einkaufszentrum (ein Wort, das es früher nie gegeben hätte!), ist eine Herausforderung der gnadenlosen Art. Ich müsste dessen Schuhe tragen, seine Hemden, Hosen, seine Socken und die Unterhosen (insofern er sich anders kleidet als ich mich). Doch das Schlimmste ist zweifelsohne, dass ich seinen Hintern abputzen müsste.
“Natürlich”, wird man sagen, “natürlich ist ja der Andere dann Du, und Du würdest deshalb nicht solche Gedanken haben.”
Aber natürlich würde ich, denn das Geheimnis bleibt; das Geheimnis: ICH bin der ANDERE, und das bin ich vielleicht sogar in mir.

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