Die Stadt, die es nicht gibt (eine erste Skizze zu Raha)

Als der große und bittere Krieg tobte, den die Menschen als den zweiten ihrer Weltkriege zu bezeichnen gelernt haben, gab es, wie in allen Kriegen, Legenden von zweifelhafter Tapferkeit und eine Überhöhungen militärischer Überlegenheit und Unbesiegbarkeit. Es kam zu unerklärlichen Phänomenen. Es kam zu unerklärlichen und unmöglichen Erscheinungen, die ein Einzelner aufgrund der ungeheuren Strapazen schaute, und es gab Erscheinungen, die einem Kollektiv vor die Augen kamen. In all den Jahrzehnten danach, fiel es einem Psychologen nicht schwer, das Geschilderte mit einer besonnenen Rationalität zu erklären, die zwar einleuchtete, aber deshalb noch lange nicht den Tatsachen entsprach. Wo immer nämlich etwas Unerklärliches geschieht, geschieht es nicht ohne Grund und manifestiert sich meist da, wo ein starkes Energiefeld nicht abfließen kann. Nicht der Verstand verbietet es, die seltsamsten Begebenheiten mit aufgeklärter Logik zu erklären, sondern die Angst vor dem Zusammenbruch all dessen, was wir die Wirklichkeit nennen, in der wir scheinbar leben, die wir scheinbar erkennen und von der wir mittlerweile annehmen, daß wir sie sogar beherrschen. Meine Leser mögen darüber teils belustigt, teils erzürnt aufgrund der unfaßbaren Dummheit sein; wenn doch: in einem Chaos, das unberechenbar ist, findet sich der einfache und kaum belastbare Geist nicht zurecht, er geht zugrunde. Lassen wir diesen Menschen ihre eingebildete Sicherheit und widmen wir uns stattdessen einem Phänomen und seinen Protagonisten, das von Kennern “Raha” genannt wird, von anderen “Der Zeitenkelch” und von wieder anderen “Die Stadt, die es nicht gibt”. Erinnern wir uns an Lord George Gordon Byron, als er sagte: “Never was there a town!” Als er einer geheimen Landkarte folgte, die er vermutlich von Percy Shelley bekommen hatte, in der Hoffnung, Raha zu finden. Folgen wir den Märchen der Welt, die oft von einer seltsamen Stadt sprechen. Namen lassen sich dort kaum finden, und auch “Raha” ist mehr ein Ausdruck der Verlegenheit, als ihr wirklicher Name. Man sollte diese Stadt nicht suchen, und man muß sie auch nicht suchen, denn Raha ist überall – und genau deshalb findet man sie nicht. Wir kennen alle das Motiv des “Entwendeten Briefes” (The Purloined Letter); der Brief wid nicht gefunden, weil er offen herumliegt.
Vielleicht könnte man sagen, Raha verält sich wie ein Dämon, der in einen Körper fährt, weil er selbst keinen hat. Dabei wäre es falsch, daran zu denken, daß es ein Dämon auf die Lebensenergie des Besessenen abgesehen haben könnte, vielmehr nutzt der Dämon den betreffenden Körper als Schnittstelle; als Kreuzung – wie man früher sagte. Dämonen steht es frei, sich überallhin zu bewegen, aber sie können nur an Orte gelangen, die sie bereits kennen. Ruft man ihren Namen, finden sie dich und wollen den neuen Ort in allen Einzelheiten erkunden. Kenntnis der Orte – das ist ihre Strategie, denn Kenntnis ist auch in der Geisterwelt mit einem Zuwachs an Macht verbunden.
Und Raha? Raha möchte die einzige Stadt sein, die alle anderen Städte assimiliert. Unbegrenzt, aber nicht unendlich (denn die Unendlichkeit fürchtet sie in gleichem Maße wie jene Lebewesen, die davon wissen).
Fast möchte ich behaupten, daß wir alle schon mindestens einmal durch Raha oder in Raha spaziert sind. Vielleicht haben wir einen Ort, den wir eigentlich sehr gut kennen, für einen Augenblick nicht wiedererkannt, oder wir entdeckten eine Gasse, einen Weg in unserer Heimatstadt, und fragten uns, wo jener so plötzlich hergekommen ist. Wir finden die Orientierung wieder, eine kurze Sinnestäuschung hat uns genarrt. Wir gehen nach Hause und am nächsten Tag ist diese “neue Straße” immer noch da, doch jetzt ist sie voller Leben. Wir wären töricht, einen Passanten zu fragen, ob es diese Straße gestern schon gab, ob er selbst sie bereits kennt. Unser Unterbewußtsein hindert uns daran, denn was wäre, wenn der willkürlich Angesprochene ganz verblüfft antworten würde: “Sie kennen also diese Straße auch nicht? Sie müssen sich vorstellen, ich lebe nun schon seit über vier Jahrzehnten hier und habe sie erst kürzlich für mich entdeckt!”
Sehen Sie ruhig nach: es gibt immer wieder Straßenkarten, in denen nicht alles verzeichnet ist. Das braucht uns nicht zu beunruhigen, ständig wird etwas neues gebaut, wer soll den Überblick behalten? Allerdings ist es schon vorgekommen, daß dieses merkwürdige Auftauchen einer Straße, die es vorher noch nicht gab, größeren Wirbel verursachte. Weil sich das jedoch meist in anderen Ländern ereignet, rechnen wir das der Sensationspresse an. In Mexiko geschieht so etwas sehr häufig, aber anstelle es in die Zeitungen zu schaffen, zucken die Menschen hier nur mit den Schultern. Ich bin selbst einmal dort gewesen und ich schlenderte Pfade entlang, die nur für mich gemacht schienen. Ich begegnete niemandem dort, und ein einziges Mal geschah es, daß ich eine Gasse, die nicht weit von meinem Hotel entfernt lag, nicht mehr wieder fand, obwohl ich am Vortag dort sogar in einer Taperie saß und das dunkle San Miguel getrunken hatte. Denn auch das gibt es: Straßen und Gebäude, die einfach verschwinden.
In diesem großen und bittern Krieg, der das heutige Europa fabriziert hat, brauchte sich Raha nicht verstecken. Es ließ sich sogar in Schutt und Asche legen. Bartholomäus (wie er in unserer Geschichte genannt wird) verlor dort seine Erinnerung und zog sich Verletzungen zu, die verhältnismäßig gering erscheinen, geht man davon aus, daß er den “Fängern”, die Menschenfleisch aßen, als einer der Wenigen entkommen konnte.