Ulalume

Es ist ja unbestritten, dass Poe zu den grössten Lyrikern der englischen Sprache gehört; ein Drittel seiner ca. 50 Gedichte gehören zur Krone seines Schaffens, allen voran Ulalume, Die Glocken sowie Der Rabe.

Das Genre der Short-Story begründete er doch eher aus einer Notlage heraus. Viele Literaturwissenschaftler bedauern zutiefst, dass er nicht mehr Gedichte schreiben konnte, sein unstetes Leben hinderte ihn daran.
Poe’s Tante nahm Frau Nichols, die mit dem Verleger Colton zu Besuch war, als Ulalume gerade geschrieben war, beiseite und bat sie, diesen zu bewegen, dieses neue Gedicht Poe’s zu kaufen, damit sich dieser neue Schuhe beschaffen könne. Frau Nichols berichtet:

 „Wir hatten das Gedicht jedoch bereits gelesen, und, der Himmel möge uns vergeben, wir hatten keinen Sinn darin entdecken können. Aus einigen melodischen Stellen hätte man allenfalls schließen können, es sei in einer längst verlorenen Sprache abgefasst. Ich erinnere mich, die Vermutung geäußert zu haben, dass Poe uns nur an der Nase herumführen wolle, um zu erfahren, wie weit er mit seinem imponierenden Ruf gehen könne.“

Man muss kaum erwähnen, dass besagtes Ulalume heute als der Gipfel von Poe’s Lyrik angesehen wird, jedoch bezeugt die Aussage von Frau Nichols, wie fremdartig und schockierend zu dieser Zeit solche Gedichte wirkten.
Die erste Strophe dieses wahrlich großartigen Gedichts lautet:

The skies they were ashed and sober;
The leaves they were crispéd and sere –
The leaves they were withering and sere:
It was night, in the lonesome October
Of my most immemorial year:
It was heard by the dim lake of Auber,
In the misty mid region of Weir –
It was down by the dank tarn of Auber,
in the ghoul-haunted woodland of Weir.
Nach Aussage von Watts-Duncan drückt sich Poe auf die gleiche Weise aus wie ein Musiker, durch monotone Wiederholungen. Richtig intoniert würde Ulalume auf einen Hörer, der kein Wort Englisch versteht, die gleiche Wirkung haben, wie auf jene, die diese Sprache kennen.
Die übliche, nicht ganz befriedigende etymologische Erklärung: lat.ululare (= weh-klagen) + loom (= drohend aufragen) oder gloom (= Düsternis).
Wir können heute sagen, daß ohne Baudelaire, dem 1847 die Erzählung „Die schwarze Katze“ unter die Augen kam, Poe vermutlich vergessen wäre. Just in jenem Moment, als der Dichter voller Trübsinn und Angst am Sterbebett seiner jungen Frau wachte, setzte er die ganze literarische Welt Frankreichs in Aufruhr, doch davon bekam er nichts mit.
Durch eine bis heute unübertroffene Übersetzung von 36 Prosastücken und die damalige Weltgeltung der französischen Sprache, wurde das Prosawerk Poes schnell in Europa und Südamerika bekannt. Dazu gesellte sich im Jahre 1875 Stéphane Mallarmé, ein glühender Verehrer Poe’scher Lyrik, mit der Übertragung der Gedichte in rhythmischer Prosa. Vorher schon, 1873, hatten Verlaine und der junge Rimbaud Englisch zu lernen begonnen, um Poe im Original lesen zu können.
In Frankreich steht die ganze Reihe der Lyriker, Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Mallarmé und Valery in der Nachfolge Poe’s, von seinem Prosawerk beeinflusst wurden unter anderem Huysmans und Maeterlinck. Selbst Conan Doyle sagte:

„Wenn jeder Autor, der ein Honorar für eine Geschichte erhält, die ihrer Entstehung Poe verdankt, den Zehnten für ein Monument des Meisters abgeben müsste, dann ergäbe das eine Pyramide so hoch wie die Cheops.“

Und so ist es. Ich habe an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, dass Poe faktisch alle modernen und heute bekannten Genres im Alleingang begründete, doch auch die Tiefenpsychologie nahm er vorweg, führte die wissenschaftliche Kriminalistik ein und war ein unbeugsamer und beinahe hellsichtiger Kritiker. In einem Jahr verfasste er über 90 Rezensionen, die derart bissig waren, dass er praktisch das ganze literarische Establishment brüskierte. Seine Kritik war ebenso rücksichtslos wie lustig, man konnte ihm danach unmöglich vergeben.
Die ganze amerikanische Literatur war 1835, als sie von Poe gemustert wurde, zunächst seine Erfindung. Die Nachfolger, die diese Behauptung erst eigentlich legitimierten, wie Hawthorne, Melville und Whitman – jeder von ihnen war von Poe beim Erstlingswerk, sozusagen auf Anhieb erkannt, und zwar richtig erkannt worden.
Wenn ich so viel und so gerne über Poe parliere, dann nicht zuletzt deshalb, weil er die wohl einzigartigste Erscheinung der ganzen Literaturgeschichte darstellt, weil, wie auch Ernst Jünger meint, weder vor, noch nach Poe jemals jemand so geschrieben hat wie er, und vielleicht wird das auch niemals wieder jemand zu Wege bringen, denn es war eine Verknüpfung außergewöhnlicher Umstände erforderlich, um einen derart genialen literarischen Psychopathen wie Poe hervorzubringen.
In  Poe bewundere ich einen Meister, dessen Frauen stets ätherische Wesen voller rätselhafter Schönheit, meist in Todesnähe oder von Krankheit gezeichnet sind.
War es Elizabeth Poe, die in ihrem frühen Tode mit 24 Jahren aussah wie blanker Marmor, im flackernden Kerzenschein, schöner als je zuvor, deren Bild der 3-Jährige Poe in Erinnerung behielt und deren Sinnbild zu einer schauerlich-gefährlichen, aber auch zur unverzichtbar romantischen Begleiterin der Liebe wurde, die ihn die 13 Jährige und blasse Virginia, die ihm nie Gefährtin sein konnte, weil selbst schon bald vom Tode umkrallt, heiraten ließ?
Oder rührt die Nekrophilie, die in Poe’s Erzählungen immer wieder auftaucht von der Mutter eines Freundes, zu der er in seiner Jugend leidenschaftliche Zuneigung fasste und die er einmal „die Ideale Liebe meiner Seele“ nannte. Als sie starb besuchte er Nacht für Nacht ihr Grab.
Ausnahmslos sind alle Frauen seines Werkes entweder Statuen oder Engel.
Virginia starb, drei Tage nachdem der in Frankreich noch unbekannte Baudelaire zu Poe’s Apostel wurde und die Lektüre der „schwarzen Katze“ in seinem Tagebuch vermerkte.
Müsste ich zwei Dichter erwähnen, die in meinem Leben nicht fortzudenken sind, ohne dass sie mich je beeinflusst hätten, dann gäbe ich Edgar Poe und Borges an. Es wären zwei, auf die ich unmöglich verzichten könnte. Von diesen beiden begleitet mich Poe bereits seit ich lesen kann und ich bin sicher, dass ich ihn niemals los werde.
Von allen Gedichten, die ich jemals gelesen habe, ist Ulalume das Schönste. Ich habe es wieder und wieder gelesen, ich mag nicht zu sagen wie oft und ich bin sicher, es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.