Der Romantiker verlangt nach allem, was die Sinne verwirrt. Er steht ausserhalb jeglicher Moralität, menschgemachte Gesetze erkennt er nicht nur nicht an, sondern bricht sie, wo es ihm möglich ist. Die Sexualität ist ihm auch Perversion, ist ihm auch (und gerade) Tod. Georges Bataille gehört literaturgeschichtlich gesehen nicht zur Romantik, in seiner Konsequent führt er jedoch die Leidenschaften eines Lautréamont, Barbey d’ Aurevilly oder Huysman fort. Anthropologisch gesehen gehören Wollust und religiöse Ekstase ebenso zusammen wie Eros und Thanatos im Grunde. Von dem französischen Soziologen Marcel Mauss stammt der Ausspruch: “Das Gebot wurde erdacht, um es zu überschreiten.” Tabu und Tabuverletzung gehören für Bataille zur Voraussetzung erotischer Ekstase, der Entgrenzung des Ich. Um aber dorthin zu kommen, muss der Mensch etwas aufs Spiel setzen, möglicherseise sein eigenes Leben. Auf die Frage der Surrealisten „Warum schreiben Sie?“ antwortete Bataille: „Ich schreibe, damit die Leute kotzen.“
18 Gedanken zu „Georges Bataille“
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>Weil Bataille von Übertretung schreiben kann, ist er auch so viel interessanter als z.B. Sade (und verwirklicht sich erst bei ihm, was Roland Barthes schon bei diesem zu erkennen meinte, finde ich). Aber zugleich sind es auch unendlich traurige Texte. Ich habe versucht, das zu beschreiben "…Und doch lacht ihre Traurigkeit über alles": http://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2010/06/sade-in-der-lekture-horkheimeradornos.html Über Kritik, Widerspruch, Ergänzung zu meiner "Auslegung" würde ich mich freuen. Ich denke immer wieder über Batailles Texte nach. (Auch über seine Texte zur Ökonomie.) Und ich arbeite an etwas über Dandyism und Mode, was – für mich – auch in diesen Kontext gehört: Überwindung der "Arbeit" am Körper.
>Danke! Das Nachdenken über diesen Zusammenhang (zwischen Ekstase und Auflösung – und dem Einverständnis mit dem Tod -) lässt mich nie los. Ich bin mit dem Tod noch immer so sehr "auf Kriegsfuß", dass ich mich nicht von jener Kultur der Arbeit und des Mangels lösen kann, die jede Übertretung zur Entleerung macht.
>"Wenn wir uns diesem Geheimnis nähern entdecken wir die Lust am Verfall, nämlich wird nicht aus unserem Samen “etwas” sondern aus uns überhaupt." – Das ist – es kann ja gar nicht anders sein – offenkundig eine männliche Perspektive. Die "Lust am Verfall", der Zusammenklang von Todesnähe und Lust hängt, so glaube ich, eben doch daran, dass im Samen der Keim des Lebens steckt und also – dessen "Verschwendung". Aus einer weiblichen Perspektive kann (und muss!) das anders gedacht (und empfunden) werden. Bloß wie? Eine Frau – bliebe man im Bild – verschwendet nicht "etwas", sondern sich. Sehen Sie, wohin das führt? Es erhielte sich nicht "alles", sondern wäre – für "sie" – verloren.
Ich habe das nicht "zu Ende" gedacht. Ich weiß noch gar nicht, wohin mich das führt. Aber auch denken kann i c h nur a l s Frau (denn "der Mensch", historisch gesehen, ist eben "der Mann", der sein Geschlecht verneint). —Und genau daraus ergeben sich "Übersetzungsprobleme" beim Lesen von Bataille (und anderen).
>Ich würde aus Prinzip schon vorschlagen, das Geschlecht zu neutralisieren. Es liegt doch gerade das Besondere darin, sich das "Mensch" als platonische Einheit vorzustellen (wie im Symposion über die Trennung der Geschlechter beschrieben). Neigen wir uns nicht zu einer Seite, sind wir alle stets beides – wir müssen nicht gleich Hermaphroditen sein, um das zu verdeutlichen. Freilich: wären wir Pflanzen, hätten wir es leichter. In unserer gedachten Dreidimensionalität (oder Körperabhängigkeit) haben wir natürlich die spezifischen Merkmale zu tragen. Aber sind sie deshalb schon wirklich? Sie wirken vielmehr erst durch ein Rollenverhalten. Man könnte da in der Tat weit ausholen (ich zeige das im übrigen gar nicht so selten auf, weil mich das Matriachat primär interessiert).
Ich wollte mit dem vorher gesagten gar nicht so sehr auf die Fortpflanzung hinaus (die mich überhaupt nicht interessiert, wenn ich vom Sexus rede), eigentlich überhaupt nicht. Dieses Verschwenden ist, wenn der Same überall trocknet, aber nirgends trägt. Das ist auch "Existenz verneinen".
>Ich hatte das schon verstanden. Und wollte gerade darauf aufmerksam machen: Dass dieser scheinbar "geschlechtsneutrale" Standpunkt ein maennlicher ist. Auch bei Platon uebrigens :), gerade bei ihm. Er weiss, gar nichts von einer weiblichen Sexualitaet und ausser mit Blick auf die Fortpflanzung interessiert sie ihn auch nicht. Ich koennte, haette ich den Text jetzt hier das am Mythos vom Eros zeigen. — Auch die Metaphern, die Sie verwenden, sind einer maennlichen Perspektive geschuldet: z.B. "Merkmale tragen". Ich finde diese Auseinandersetzung sehr spannend, gerade befinde ich mich aber im Kampf mit der englischen Tastatur. Auf spaeter!
>Ich kann Ihnen da nicht folgen. Sie suchen nach männlichen Prinzipien? oder versuchen eine Definition "des Mannes" zu finden. Dazu wünsche ich Ihnen viel Glück, ich glaube nicht an solche Dinge. "Merkmal tragen" ist indes keine Metapher, zumindest sehe ich kein bildhaftes Gleichnis darin. Vielleicht haben Sie ja Synonyme, die Sie mir als weiblich präsentieren könnten? Sonst, fürchte ich, verstehe ich Sie nicht.
Plato: Tatsächlich verstand er nicht. Wir verstehen alle nicht.
>Maennliceh Prinzipien? Eine Definition "des Mannes" – um Himmels willen, daran versuche ich mich sicher nicht. Ich nehme nur wahr, dass Platon oder auch Bataille, wenn sie vom Eros sprechen eine maennliche Koerpererfahrung zum Ausgangspunkt nehmen. Welche auch sonst? Und es ist eben eine andere als die einer Frau. Diese Differenz n i c h t zu beachten, darin bin ich gut geschult: ein Zugang zu Kunst und Literatur haette sich sonst gar nicht finden lassen. Aber ich habe gelernt, dass die Differenz m i r wichtig ist. Gerade nicht um "Schuld"- oder "Opfer-Taeter-Geschichten zu erzaehlen, sondern um m i c h (und vielleicht andere Frauen) verstehen zu koennen. Ich halte die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz fuer wichtig und will dies gerade nicht den Reaktionaeren ueberlassen. Schubladen (Prinzipien und so…) interessieren mich da eher nicht. Eine Suchbewegung schwebt mir vor… Das Wort "tragen" kann man als Metapher verstehen. Aber ich gebe zu, das ist vielleicht eine Ueberinterpretation.
>Also gut, halten wir fest: Platon und Bataille nehmen eine männliche Körpererfahrung zum Ausgangspunkt, wenn sie vom Eros reden. Platon ist mir im Grunde wurscht, bis auf das Fallbeispiel zur Trennung der Geschlechter, das sich bei ihm eben niedergeschrieben findet. Der Platonismus hat ja auch die Kirchengeschichte sehr befruchtet undsoweiter undsoweiter (worum es gar nicht geht). Tatächlich aber gab es in der Antike Männer aus einer männlich zu verstehend und operierenden Welt. Man hat sich diese Welt damals ja so erfunden. Bataille muss man aber im Umfeld von Freud, Mauss und den Surrealisten suchen. Im Grunde neige ich zu der Auffassung, dass Frauen besser dazu eignen, Grenzen zu überschreiten. Es geht um nichts anderes wie das Verfehmde bei Bataille, das Ausgeschlossene, das man versucht ist, gesellschaftlich zu eliminieren. Ich als Raucher gehöre genauso dazu wie jemand, der mit einer Leiche kopuliert. Letzteres eignet sich allerdings besser dazu, menschliches Denken ins Absurde zu führen. Und bevor ichs vergesse: ein Paradebeispiel weiblichen Exzesses ist Anais Nin. Ist das jetzt eine weibliche Körpererfahrung, die sie uns da unterbreitet? Dann müsste ich fragen: wo ist er denn jetzt, der Unterschied.
>Es beschleicht mich der Verdacht, dass der Unterschied, um den es mir geht, Ihnen gar zu banal erscheint. Grade so banal aber meine ich es: Bleiben wir beim "Kopulieren mit einer Leiche". Ein weiblicher Körper könnte "nur" mit einem Sterbenden kopulieren (Batailles beschreibt die Szene übrigens), nicht mit einer Leiche. Ein männliches Begehren kann und hat sich das zu Begehrende Weibliche als Objekt vorgestellt. Ein weibliches Begehren stellt sich selbst oft als Objekt vor (und her). Ich will jetzt nicht entscheiden, ob das "Natur" oder "Kultur" ist. Ist mir eigentlich auch recht egal. Ein Fakt ist aber auch, dass weibliche bildende Künstlerinnen viel häufiger selbst fasziniert vom weiblichen Körper und dessen Darstellung sind als vom männlichen. Und wenn sie "Übertretung" am Körper/an der Körperdarstellung aufzeigen, dann häufig in der Form der Besetzung des weiblichen Körpers durch einen anderen Körper: in der Schwangerschaft. All das sind Differenzen. I c h finde sie nicht banal. Sondern wesentlich. Mir geht es auch gar nicht darum, einen männlichen Blick zu "entwerten" oder auch nur in Frage zu stellen. Ich möchte ihn nur um eine weibliche Sicht und Wahrnehmung ergänzen (können). (z.B. hieße das, eine Sprache zu finden für Lustempfinden im Inneren des Körpers und nicht an dessen Außenseite/den Extremitäten.) Auf Anais Nin kann ich nicht konkret eingehen, da ich ihre Texte nicht präsent habe.
>Banal… nein, das wäre eine Wertung, die habe ich nicht vor. Tatsächlich aber könnten Sie freilich mit einer Leiche kopulieren. Wie das ginge, diese Beschreibung möchte ich Ihnen an dieser Stelle ersparen. Freilich gibt es einen Topf und das Wasser, das hinein gehört (wenn man mir diesen blöden Vergleich gestattet). Und das zu erwähnen…. DAS wäre dann allerdings banal. Gehen wir aber einen Schritt aus der (wie ich anfangs schon erwähnte) Körperbafangenheit hinaus, dann stellt sich die Frage, wie neutral ein Begehren sein kann. Am Interessantesten wird diese Frage angesichts der Homosexualität. Das männlich/weibliche (das es ganz sicher gibt und das ich nicht abrede) ist so gut wie niemals fest umrissen. Die Natur, da bin ich mir sicher, ging in seiner ersten Stunde von einem Zwitterwesen aus. Jetzt müsste ich aber "Geist" ins Spiel bringen – für einen wissenschaftlich denkenden Menschen ein Graus – der entscheidet (oder durch Sozialisation "entscheidend gemacht" wird), wie er sich in seiner Rolle fühlen will.
Ich könnte jetzt anmerken, dass der Urinstinkt einer sexuellen Handlung der Vergewaltigung entspringt. Das "nehmen" zeugt davon. Und auch dass die weibliche Anatomie inklusive des Gebarens direkt auf die männlichen Transmitter wirkt. Auch die Flucht des Weibchens tut ihr übriges. Das sind, wie gesagt, Urinstinkte, die heute in unserem kulturellen Spiel wieder auftauchen (ich spreche jetzt nicht vom "Verbrechen"). Gleichzeitig ist in dieser "Zeit für das Spiel" die Möglichkeit des Männchens gegeben, die Rolle eindeutig zu vertauschen, eben auch Weibchen zu sein.
Sie scheinen mir da allerdings mehr an den natürlichen Komponenten zu hängen, die für jeden sichtbar sind. Ja, Frauen werden schwanger. Das ist ein grober Unterschied zur männlichen Welt. Das verändert natürlich Ansichten. Geschenkt. Aber worauf zielen wir in diesem Gespräch ab?
Das Argument, dass weibliche bildende Künstlerinnen vom weiblichen Geschlecht fasziniert sind, hilft uns da nicht weiter. Ebensowenig als würde ich sagen: viele große Schriftsteller waren schwul. Was aber ist mit einer ethnologischen Phallus-Verehrung (die im übrigen nicht, wie man meinen könnte, von eindeutig patriachalen Gesellschaften initiiert werden)?
>[...] Gesellschaftsportät unserer Zeit an. Perversion des Alltags? Ich weiß es nicht. Wo wollen wir landen? “Durchgeknetet”… Vielleicht sollte man die Installation doch noch eingehender [...]
>Bin ich ganz froh, dass Sie mir die Erläuterung ersparen
(Aber vielleicht auch nicht. – Wie Sie unterschwellig feststellen, ich neige zur Unentschiedenheit. Zumindest schreibend. Ich sogenannten richtigen Leben bin ich eher zu unbeherrscht und schnell entschieden.) Ob ich "hänge", weiß ich nicht, vielleicht treffen Sie da einen Punkt: In der Tat finde ich, was mich betrifft, eher in der Darstellung des "besetzten Körpers": die Übertretung der "Autonomie" im Schwanger-Sein (z.B. bei Louise Bourgeois oder auch in den Skulpturen von Barbara Hepworth). Das ist sicherlich a u c h einem individuellen biografischen Hintergrund geschuldet, einem persönlichen Trauma. Sie beschreiben, dass "Spiel" ermögliche es, die Rollen (auch männlich-weiblich) zu tauschen. Ja,- und doch hat das Grenzen. Schmerzliche auch. Wenn Sie einräumen, das Schwanger-Sein sei ein "grober Unterschied", dann versuche ich eben zu ergründen, welche "männlichen " Erfahrungen mir notwendig fremd (grob fremd) bleiben. Und mich nicht über diese Grenzen zu "billig2 hinwegzutäuschen. Tatsächlich weiß ich nicht, worauf ich oder wir in diesem Gespräch abzielen. Mich interessiert die Grenze, die eben nicht "fest umrissen" ist. Ein Fluss ohne Ufer. Ein Delta. "Twenty four rivers I see."
>Ein interessanter Punkt ist die grundsätzliche Verantwortungslosigkeit des Mannes. Verantwortung – die dann meist auch übersteigert ist – ist das Ergebnis einer Sozialisation, die die Frau in der Regel, bedingt durch die Möglichkeit ihres Schwanger-Werdens, nicht benötigt. Damit reiße ich eigentlich ein Fass auf. Ich sehe das Fehlen der Verantwortung und das Fiasko des Weltzustands auf der Seite einer patriachalen Gesellschaft, und ich scheue mich nicht, zu sagen, dass Männer für jede Katastrophe v e r a n t w o r t l i c h zeichnen. Ich fürchte jedoch, dass dieser Thread für eine derartige Diskussion nicht hinlangt.
Bourgeois floh im Übrigen vor ihrem Vater; Hepworth ist von henry Moore nicht zu trennen.
>nebenbei bemerkt: nach der filmischen dokumentation, die mir von Louise Bourgeois vorliegt, spricht die kuenstlerin unter traenen von einer vernachlaessigung ihrer person durch den vater, Jean-Louis, der mehr zeit mit dem hausmaedchen, seiner geliebten, verbrachte, als mit ihr. sie entwickelte regelrechten hass auf ihn, der ihre mutter 10 jahre lang im eigenen haus betrog.
>"Ein interessanter Punkt ist die grundsätzliche Verantwortungslosigkeit des Mannes. Verantwortung – die dann meist auch übersteigert ist – ist das Ergebnis einer Sozialisation, die die Frau in der Regel, bedingt durch die Möglichkeit ihres Schwanger-Werdens, nicht benötigt. " – Es ist "interessant", könnte man sagen, wenn ich nicht fände, das Wort sei fast zu schwach dafür, dass diese Aussage in einem solchen zunächst "richtungslosen" Austausch vom männlichen Beitragenden getroffen wird. Aber vielleicht ist es auch nur Zufall. "Verantwortung" in diesem Sinne kommt ja erst durch Vernunft, als Voraussetzung einer "Entscheidung" ins Spiel. Und das hieße dann – ohne dass Sie dies hätten sagen wollen, unterstelle ich – die Möglichkeit der Schwangerschaft bei der Frau damit zu verbinden, dass "sie" in einem wesentlichen Aspekt ihres Seins kein Vernunftswesen ist ("natürliche Muttergefühle"). Viel wichtiger aber ist mir noch, den Fokus auf den Mann zu lenken. In meiner Biographie (als Vater, Bruder, Freund, Lebensgefährte) kommt der "verantwortungslose" Mann, der also seine Sozialisationsschranken überschreitet, viel weniger vor, als jener aufgeklärte Vernunft-Mann-Mensch, der sich selbst in die Verantwortung nimmt und sich (z.B.) als Vater identifiziert. Doch diese Übernahme von Verantwortung (wo sie nicht bloß bürgerlich-bigotte Heuchelei und Doppelmoral ist) prägt sich dem so "gezähmten" Mann (auch körperlich) ein und auf: als Verhärtung, Verschlossenheit, Verkopfung und Selbstdisziplinierung, die auch Selbst-Unterdrückung ist.
>Die Vernunft habe ich in einem Essay als den "Herd der Geisteskrankheit" bezeichnet. Im Grunde haben wir ein schönes Resümee heute im 21. Jahrhundert. Ich selbst sehe mich nicht als "männlich Beitragenden", sondern als Dichter. Das bedeutet gleichzeitig, dass ich mich über den Geist definiere und nicht über den Schwanz (auch wenn ich ihn sehr gerne habe – so wie manche beim Wandern einen Stock bevorzugen, um durch die Lande zu streifen).
Was Sie dann zu ihrem "Mann" anmerken ist nichts anderes als die Wiederholung des Satzes, den Sie sich aus meiner Antwort markiert haben.
>Gerade darin sehe ich die "Geisteskrankheit": Im Leib-Seele-, Körper-Geist-Dualismus. Den Körper allenfalls als Krücke des Geistes wahrnehmen…
Ich definiere mich nicht. Nicht-Ich. ("I can´t forgive Descartes.")
"Die Utopien …nehmen in den verdrängten, removierten Erinnerungen der Hysteriker Form an…Die Erinnerung, die auf diese Weise bewahrt bleibt, ist nicht die an ein verlorenes Paradies, an eine "heile" Welt, sondern eine ganz andere: es ist das Wissen um die "Unvollständigkeit" des menschlichen ´ichs´; es ist die Erinnerung an zwei gespaltene Sexualwesen, an Sexualität und Sterblichkeit selbst. Kurz, es ist eine Utopie des Bewusstseins. Die Tatsache das es vor der Entstehung der Schrift Kulturen gab, die das Bewusstsein menschlicher "Unvollständigkeit" bewahrten, bedeutet nicht, dass diese Kulturen das Paradies waren, in das sie oft verwandelt werden. Die "spiegelbildliche" Vorstellungswelt vermittelt nicht die Geborgenheit, die das abendländische Denken so gerne projiziert. Aus unserer Sicht erscheint sie vielmehr als Ausdruck eines Denkens, in dem die menschliche Unvollständigkeit gegenwärtig ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn immerhin haben diese Kulturen selbst das Instrumentarium entwickelt, mit dessen Hilfe der Mensch sich aus seinem Bewusstsein der Unvollständigkeit herauszulösen vermochte: die Schrift." (Christina von Braun: Nicht-Ich.Logos. Lüge. Libido.)
"Ich" ist Hysterikerin. Vertrauensselig. Misstraut sie dem Logos.
>Mit dieser Aussage kann ich nun nicht wirklich sehr viel anfangen. Es bedeutet ja gerade Leben, unvollständig zu sein, Leben ist daher schon ein Mangel, der aber deshalb Lust bereit hält, weil er Mangel ist. In der Liebe (die ich für nichts anderes wie Absorbierung halte) drückt sich dieser Mangel aus. Ich gehe in meiner Arbeit immer wieder darauf ein, ja, diese Auffassung wird sogar zum alles beherrschenden Thema. Ich würde im obigen Zitat "Erinnerung" streichen. Wir erinnern uns weder an ein Paradies noch an eine Unvollständigkeit. Dennoch halte gerade ich als Erinnerungskünstler die Erinnerung selbst für die einzige Form, Bewusstsein zu erfahren – wir erfahren zunächst den Mangel – und dann erinnern wir uns an ihn, erarbeiten uns daraus Utopien, um den Mangel zu erklären. All unsere Triebe entstehen aus Mangel. Deshalb halten wir uns für unvollkommen, ohne einzusehen, dass Vollkommenheit nur ein menschlicher Begriff ist, der ein System zu erfassen sucht, das wir ohnehin nicht begreifen können. Die "Schrift" entfaltet ihren ganzen Sinn nur, wenn sie poetisch gebraucht wird, erst dann, und nur dann ist sie die Ursprache der Menschheit. Tritt die Schrift aus der Poesie aus, verstärkt sie das Bewusstsein der Unvollkommenheit und bändigt es nicht etwa.