Hundert Jahre Zeit

Nun, das ist ja auch ein Tagebuch (und ich habe gar keine Tage, ich habe nur Gespenster). Da zeigt sich, wie sehr es Quatsch ist, etwas aufschreiben zu wollen.
Noch vor einigen Wochen hatte ich das fertige Buch im Kopf und jetzt sehe ich nach (man muss ja kurz nachschlagen, so ein Hirn hat ja auch seine versteckten Anwandlungen) und finde nur noch Trümmer. Wahrlich habe ich noch einiges zu tun, bevor mich die Schwierigkeiten ereilen. Die Achterbahn in meinem Kopf sollte jedoch keinesfalls im Roman selbst präsent werden. Jetzt schon darüber nachzudenken, dass es ein weiteres Stückwerk bleiben wird, ist entsetzlich. Entsetzlich daran der Gedanke, dass ich nichts, was mir jemals in meinem Leben wichtig war, erreichen konnte. Das wäre für wahr ein schlechter Schlussstrich, wenn man ihn jetzt ziehen würde. Man muss natürlich nicht so denken, man muss nichts erreichen – aber wenn man seine Zeit ausschließlich verplempert hat, dann hat man sich geirrt, wenn man denkt, man habe ja noch hundert Jahre zeit – dann drück die Hoheit der Gedankenlast wie ein Alptraum auf die Brust. Anmut verwandelt sich in Fratzenhaftes.
Mir fällt doch tatsächlich erst die letzten Tage auf, dass ich mich in eine vollkommene Einsamkeit manövriert habe. Na, das ist ganz selbstverständlich völlig lächerlich, so als ob man dem Blendwerk der Moorlichter folgt, um dann erstaunt zu versinken.
„Dabei waren sie doch so schön anzusehen,“ wird man sich sagen (sollte der Mund bereits überspült sein, kann man es auch denken).
Um das Buch fertig zu schreiben, fehlt mir gegenwärtig jegliches Interesse, in Wirklichkeit kann ich mich die letzten Wochen auf nichts mehr konzentrieren. Oh, ich habe alle Zeit der Welt, niemand verlangt nach diesem Buch – aber ich fürchte, wenn ich mich emotional zu weit davon entferne, komme ich nicht mehr zurück. Die Momente völliger Klarheit sind verschwunden.
Was DAS alles kann: nichts. Gar nichts.

Veröffentlicht von

Michael Perkampus

Michael Perkampus war Moderator der Literatursendung Seitenwind für Radio Stadtfilter in Winterthur. Er ist Autor, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.