Übersetzer: Michael Perkampus
Das Original erschien auf “The Weird Fiction Review” unter “Uncanny Interviews – A Conversation with Kafka via Michael Cisco” von Jeff VanderMeer
Das folgende Interview fand in Michael Ciscos New Yorker Apartement statt, das auf dem Fundament eine Hauses aus dem 17. Jahrhundert steht. Einen weiteren Keller hat er unter das Niveau des ursprünglichen gegraben. Er begrüßte mich an der Tür in einem roten Hut, einem bunten Poncho, Arbeiterhosen und Sandalen, in denen seine Füße mit weißen Socken steckten. Cisco führte mich durch das Arbeitszimmer, die Bibliothek, Küche, Praxis, einer Werkstatt für Tierpräparationen, Lunarium, zu einem engen, eigentümlichen Raum, den er als Kafka-Raum bezeichnet. Wände und Decke bestanden aus angeklebten oder angenagelten Trümmern und Schutt: Bruchstein, einigen Drähten, Stoffstreifen, der Hülle eines Teddys und sogar der Hälfte eines Koffers. Der Boden bestand aus altem Kopfsteinpflaster, in der Mitte stand ein klappriger Pokertisch umsäumt von zwei abgewetzten Gartenstühlen. Auf dem Tisch saß ein Stück Fels.
“Die Grundlagen unheimlicher, verpflanzter Topographie,” erzählt mir Cisco. “Sie raffen so viel Material aus Raum und Zeit des Objekts Ihrer Begierde wie möglich zusammen.”
“Auch das hier?” fragte ich und zeigte auf die Reste des Koffers.
“Besonders das,” sagte Cisco. “Das ist ein Teil des letzten Koffers, den Kafka jemals besaß. Und das” – er deutete in eine Ecke des Zimmers – “sind die mumifizierten Überreste eines bellenden Hundes, nach dem er einmal einen Stein geworfen hatte.”
Das Kopfsteinpflaster, erklärte er, wurde unter großem Aufwand aus Kafkas Lieblingsfußweg durch Prag extrahiert. Der Fels auf dem Tisch stammt von da,wo Kafka einst in den Mauern der Stadt lebte. Die Liegestühle gehörten seinem Freund Max Brod, sie wurden von einem Ferienort am Schwarzen Meer entwendet. Und so weiter und so fort.
Wir saßen uns an diesem Tisch mit dem Felsen in unseren Gartenstühlen gegenüber, Ciscos linke Hand lag auf dem Stein. Ich würde gerne behaupten, daß der Raum kalt wurde, daß da ein blendendes Licht war, daß es eine Erscheinung gab … aber in Wirklichkeit hat sich nichts verändert. Alles, was geschah, war folgendes: Ciscos Gesicht wurde leer und sein Körper nahm einen für Cisco untypischen, meditativen, schlaffen Ausdruck an. Ich erkannte, daß seine Augen nicht mehr die von Cisco waren, sondern ganz klar die von Franz Kafka. Ich spürte das tief in meinem Mark und ohne Zweifel. Da ich weder Angst noch sonst ein Gefühl der Bedrohung empfand, begann ich mit dem Interview. Cisco, in Absprache mit Kafka, sprach in seiner eigenen Stimme, simultan von Cisco ins Englische übersetzt. Am Ende kehrten Ciscos Augen in ihren gewöhnlich leblosen, von Opium abgestumpften Zustand zurück. Kafka hatte eindeutig das Zimmer verlassen. – Jeff VanderMeer
Weirdfictionreview.com: Nach der Überraschung über Ihre posthume Popularität, Herr Kafka, welche Gefühle oder Gedanken hegen Sie aufgrund dieser Wendung der Ereignisse?
Cisco (Channeling Kafka): Er fühlt Wut, derart mißbraucht zu werden, sich in ein Adjektiv und eine Spezialtät verwandelt zu haben. Enttäuschung darüber, einer so umfassenden Untersuchung ausgesetzt zu sein, auf T-Shirts gedruckt zu werden. Schuld, weil auch die, die ihm nahestanden, von der Neugier nicht verschont bleiben. Er fühlt sich eingeschüchtert und unterdrückt von all den kritischen Studien. Entsetzt. Es ist, als ob er bestraft würde.
Weirdfictionreview.com: Wünschten Sie, Sie hätten Ihre Schreiberei besser versteckt?
Cisco: Er wünschte, niemand hätte herumgeschnüffelt, um sie zu finden. Diese Frage betrifft eher die Kritiker, von denen er lieber nicht entdeckt worden wäre.
Weirdfictionreview.com: Gibt es eine Erzählung, von der Sie wünschten, sie wäre niemals veröffentlicht worden?
Cisco: Er hätte lieber die meisten von ihnen nicht veröffentlicht gesehen, und wenn, dann wären sie besser unbekannt geblieben. Er wundert sich über die Verantwortung, die er für so viele Leser hat – oder auch nicht. Tatsächlich kann er sich nicht für den Wunsch erwärmen, auch nur eine seiner Geschichten jemals wieder veröffentlicht zu sehen.
Weirdfictionreview.com: Welche sind die amüsantesten Fehlinterpretationen Ihrer Geschichten, vielleicht spzeziell in Bezug auf “Die Verwandlung”?
Cisco: Es ist keine Frage der Fehlinterpretation; da ist ein grundsätzlicher Fehler, der gemacht wird und es amüsiert ihn nicht in dem Maße wie es ihn davon überzeugt, gescheitert zu sein, auch wenn er keinen Weg sieht, wie er dieses Scheitern hätte verhindern können. Eine Geschichte interpretieren zu wollen ist immer ein Fehler; daß die Geschichte überhaupt geschrieben wurde, ist allerdings der erste Fehler, wenn auch ein verzeihlicher. Alles in der Geschichte ist völlig einfach und klar, ohne jegliche spezielle Symbolik. Es ist eine simple Geschichte, wie irgendetwas in der Tageszeitung. Natürlich kann sie mit den großen Themen Familie, Staat undsoweiter assoziiert werden, aber eben nur in dem Sinne, wie man eine Zeitungsgeschichte liest.
Weirdfictionreview.com: Haben Sie Quirk Books’ Satire mit dem Titel “Kittymorphosis” gelesen? (Anm. des Übersetzers: Der Autor Quirk Books hat sich Kafkas “Verwandlung” angenommen. Anstelle, daß sich Samsa in einen Käfer verwandelt, verwandelt er sich in eine Katze).
Cisco: Keine Antwort. Ich glaube nicht, daß die Frage für ihn verstehbar ist.
Weirdfictionreview.com: Wie viel aus “In der Strafkolonie” basiert auf persönlicher Erfahrung?
Cisco: “Alles!” sagt er.
Weirdfictionreview.com: Glauben Sie, daß die Menschen heutzutage an den richtigen Stellen lachen?
Cisco: “Die richtige Stelle ist überall, das ist das Gute,” sagt er.
Weirdfictionreview.com: Sie wurden in vielen Erzählungen und Romanen als Figur charakterisiert. Ist eines dieser Portraits richtig und spielt es überhaupt eine Rolle?
Cisco: Nein, das spielt keine Rolle, oder keine maßgebliche. Das Denken, die gesitige Existenz ist, wie es scheint, wichtig zu einer bestimmten Zeit, aber diese Existenz hängt am organischen, lebenden Ding. Dennoch könnte das Denken von einem Stuhl oder einer Wand oder einer Straße stammen. So lange bei einem Menschen zu verweilen, scheint ein Fehler zu sein; es ist so, als ob dir jemand erzählt, die Person, die du jeden Tag siehst, eine durchaus unauffällige Person, sei ein berüchtigter Mörder oder ein abgesetzter König. Du würdest ihn heimlich anstarren und versuchen, diese Ungeheuerlichkeiten mit ihr zu verknüpfen.
Weirdfictionreview.com: Was macht Sie wütend, rückblickend, jetzt, da Sie im Jenseits leben?
Cisco: Er mag die Enthüllung seines Privatlebens nicht, obwohl er weiß, daß er die Aufmerksamkeit durch Veröffentlichungen auf sich gezogen hat.
Weirdfictionreview.com: Fürchten Sie sich vor etwas dort, wo Sie jetzt sind?
Kafka: “Nicht mehr. Ich denke weniger, viel weniger.”
Weirdfictionreview.com: Haben Sie gegenwärtig noch Kontakt zu Ihren alten Freunden?
Cisco: Ich bekomme keine Antwort. Ich glaube, er hat Kontakt, aber er sagt es nicht.
Weirdfictionreview.com: Sie haben einige Ihrer Geschichten zerstört, als Sie noch am Leben waren. Können Sie uns eine kurze Zusammenfassung einiger dieser Geschichten geben?
Cisco: “Sie sind es nicht wert.” Eine handelte von einem Holzarbeiter, dem es nie gelang, in die richtige Richtung zu fahren. Er schrieb über einen Eskimo, der Robben jagt und sie zunächst auf dem Eis und dann unter Wasser verfolgte, aber er konnte die Geschichte nicht beenden. Es gab noch eine andere über einen Mann, der eine neue Art Licht erfand.
Weirdfictionreview.com: Haben Sie seit Ihrem Tod etwas literarisches gelesen, und wenn, was können Sie davon empfehlen?
Cisco: Er mag Bruno Schulz, Borges, Cortazars Geschichten und einiges von Beckett. Er denkt “Die Lotterie” ist gut (Anm. des Übersetzers: Die Lotterie von Shirley Jackson). Er mag “Fahles Feuer” (Anm. des Übersetzers: Roman von Vladimir Nabokov). Rene Leys hat er genossen (Anm. des Übersetzers: Roman von Victor Segalen). Roland Topors “Der Mieter”. Akutagawas Geschichten, wie “Rashomon” und “Der Faden der Spinne”. Ich bin sicher, ich habe einiges vergessen.
Weirdfictionreview.com: An was arbeiten Sie gerade?
Cisco: Nichts davon ist fertig.
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Michael Cisco (geb. 1970) ist ein amerikanischer Schriftsteller, bekannt durch seinen ersten Roman “The Divinity Student”. Er gewann den International Horror Guild Award 1999. Weitere Veröffentlichungen sind The San Veneficio Canon, The Traitor, The Tyrant, The Narrator und The Great Lover. Zusammengenommen gelten Michael Ciscos Bücher als das größte Werk der Jahrtausendwende im Sektor der “Weird Fiction”, ihm gelingt es, die visionäre Kraft seiner Erzählungen auch über die Romanlänge beizubehalten. (Anm. des Überseters: was äußerst selten vorkommt. Nichts von seinem Werk wurde bis jetzt ins Deutsche übertragen.)