Wie ich eine für dreißig bekam
Als ich dann vor der Theke stehe, überkommt mich das Verlangen nach einer Kaisersemmel. Ich frage, wie viel sie kostet und sie kostet 36 Cent. Das ist ungeheuerlich genug, ich sage, daß ich eine für 30 nehme – und das wäre schon außerordentlich.
„Aber sie kostet 36“, will mir das Backwarengör weismachen. „Das habe ich vernommen, ich werde aber nur 30 Cent dafür bezahlen. Ich muß so eine Semmel haben, jetzt. Womöglich würde ich auf diesen Unsinn sogar eingehen, aber ich habe nur noch 30 Cent. Sie erkennen die Problematik?“ „Dann können Sie eben keine kaufen.“
Ich sage ihr, wenn sie mir nicht umgehend eine dieser Semmeln reicht, werde ich mich an einen der Tische ketten. Natürlich lacht sie zunächst, humorlos, wie ich finde, fast schon theatralisch. Natürlich kann sie mich nicht leiden, ich war schließlich schon öfter hier. Als ich in meiner Tasche krame und ihr ein Fahradschloß zeige – aus der Zeit, als ich noch ein Fahrrad besaß, quasi bevor man es mir gestohlen hat, und das, obwohl ich es stets mit dem Wasserschlauch bespritz draußen Wind und Wetter ausgesetzt ließ, so daß es von oben bis unten mit Rost überzogen war und höllisch quietschte, ganz zu schweigen davon, daß, wenn ein Wind kam, überall Rostpartikel durch die Gegend schwebten – nimmt sie einen doch erstaunlichen Gesichtsausdruck an. Sie fühlt sich, das kann man erkennen, dem nackten Wahnsinn ausgesetzt, denn ihr ist klar, daß ich mich mit diesem Fahrradschloß nirgends anbinden kann. Dennoch wiederholt sie: „Eine Semmel kostet 36 Cent.“ Es ist wohl der Schlange, die sich langsam hinter mir bildet, zu verdanken, daß ihre Chefin ruft. „Geben Sie ihm die Semmel, um Himmels Willen.“ Nein, nein, Fräulein – es ist ganz allein MEIN Wille.

Die eigene Marmelade auf einer Kaisersemmel für dreißig