Matt Cardin: Interview mit Thomas Ligotti (2. Teil)

Interview geführt von Matt Cardin, July 2006
Published in The New York Review of Science Fiction, Issue 218, Vol. 19, No. 2 (October 2006)

Übersetzt von Michael Perkampus

Teil 1

MC: Ich erinnere mich aus früheren Interviews, daß deine Einführung in die Horror-Literatur durch Shirley Jackson, Edgar Allan Poe, Arthur Machen und H.P. Lovecraft stattfand. Glaubst du, daß dich diese ersten Leseerfahrungen bei dem, was du dann schreiben wolltest, beeinflußt haben? Ich meine nicht so sehr den Inhalt als vielmehr den auktorialen Ansatz. Ich weiß, daß dein Zusmmenbruch im Alter von 17 das emotionale und philosophische Fundament für dein Erzählen bildet. Aber in Verbindung mit der Frage nach Plot und Handlung weiter oben, frage ich mich, ob du der Meinung bist, daß dein stilistischer Ansatz von deinen Leseerfahrungen mitbestimmt wurde.

TL: Shirley Jackson gehört nicht zu dieser Aufzählung. Ich las “The Haunting Of Hill House”, weil mir der Film gefiel. Das war zu einer Zeit, als man sich Filme nicht immer anschauen konnte, wann man wollte. Also las ich den Roman, als ich zufällig auf ihn stieß und nicht besseres zu tun hatte. Das brachte mich nicht dazu, über ähnliche Dinge zu schreibem wie sie, aber es löste in mir den Wunsch aus, andere Werke der Horror-Literatur kennenzulernen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht wußte, ob es solche überhaupt gab. Das einzige, was ich damals las, waren die Sherlock-Holmes-Geschichten. Ich genoß sie, weil ich mich mit Holmes’ Neurosen identifizieren konnte, natürlich auch, weil er Drogen nahm. Der nächste Horror-Autor, den ich las, war Arthur Machen, der über ein sehr ähnliches Millieu schrieb, in dem auch die Holmes-Geschichten angesiedelt sind: neblige Londoner Straßen, gruselige Landschaften. Dann las ich Poe und Lovecraft zum ersten Mal und fand in ihren Texten etwas, von dem ich nicht einmal wußte, daß ich es überhaupt suchte: Autoren, die sich auf jeder einzelnen Seite ihres Werkes offenbaren, die einerseits wie persönliche Essayisten und andererseits wie lyrische Dichter schreiben. Jeder Schriftsteller, den ich je bewunderte, schrieb auf diese Art und Weise. Ich sage “schrieb”, weil sie heute alle tot sind. Eine andere Art von Schriftstellern gibt es für mich nicht.

MC: Bist du beim Schreiben schon einmal in einer Geschichte stecken geblieben? So daß du nicht mehr wußtest, wie es weitergehen soll?

TL: Nein, ich blieb noch niemals ‘stecken’. Ich weiß immer genug über die Geschichte, die ich gerade schreiben möchte und besitze die nötige Begeisterung, die es überhaupt erst ermöglicht, mit dem Schreiben zu beginnen. Ich denke darüber nach und mache mir eine Menge Notizen, frage mich, ob etwas fehlt oder ob etwas zu viel ist. Ich zermartere mir das Gehirn, um die Idee der Geschichte so weit zu treiben, wie es nur möglich ist. Während der Niederschrift kommen mir meist bessere Ideen als ursprünglich geplant. Wäre das nicht so, wären die Geschichten wohl gerade mal mittelmäßig, wie es einige meiner Geschichten dann ja auch sind. Es ist nicht möglich, jeden Aspekt im Voraus zu planen. Ich vertraue diesbezüglich auf meine Fähigkeiten, und es hat bislang ja immer geklappt.

MC: Das führt mich zu einer anderen, aber verwandten Frage: Hast du jemals unter einer Schreibblockade gelitten? Ich meine damit nicht einfach ‘in der Mitte stecken zu bleiben’. Was ich meine, wird am Besten von Thom Gunn beschrieben: “Es gibt Zeiten, in denen bist du steril, das heißt, Worte bedeuten gar nichts. Die Worte sind da, die Dinge der Welt sind da, du bist an den Dingen in der gleichen Weise interessiert wie immer und theoretisch könntest du sie zu Themen deiner Gedichte machen, aber du kannst einfach nicht schreiben. Du kannst dich hinsetzen, eine gute Idee für ein Gedicht haben, aber nichts kommt dabei raus. Als ob der Welt ein gewisses Licht vermissen ließe. Es ist eine wortlose Welt und irgendwie eine leere und ziemlich sterile Welt. Ich weiß nicht, was es verursacht, aber es ist sehr schmerzhaft.”

TL: Wann immer ich etwas schreiben wollte, habe ich das auch getan. Das Problem für mich ist nicht die Fähigkeit, zu schreiben, sondern daß ich mich um das Schreiben nicht schere … oder um überhaupt etwas. Im Zustand der Anhedonie (Zustand der Depression) enthüllt alles seine “wahre” Zwecklosigkeit und Nichtigkeit. Wir könnten über das Wörtchen “wahr” streiten, aber dann könnten wir auch über spirituelle Traditionen streiten, wie etwa den Buddhismus, der ebenfalls keinerlei Verwendung für irgendetwas hat, am wenigsten, Kurzgeschichten zu verfassen. Der Buddhismus ist nicht mein Ausgangspunkt, aber ich befinde mich an einem ähnlichen Ort. Ich bin von allem um mich herum losgelöst. Überhaupt etwas zu tun, erscheint einfach nur dumm, was es meiner Meinung nach letzlich auch ist. Das ist die Lehre der Anhedonie, ein Zustand äußerster Rationalität. In dem Moment, wo du dich dazu entschließt, irgendetwas zu tun, befindest du dich in einem Stadium des Irrationalen. Ohne dieser Irrationalität besteht dein Leben nur aus Zahlen: wie lang, wie viel, wie weit. Emotionen geben unserem Leben eine illusorische Bedeutung. Diese Bedeutung ist ein Motivator und läßt dich denken, daß etwas wichtig ist, obwohl das letztenendes nicht stimmt. Emotionen sind der Motor, um das sinnlose Leben überhaupt leben zu können.
Aber ich habe nicht den Eindruck, Anhedonia sei ähnlich schmerzhaft, wie Thom Gunn das über eine Schreibblockade sagt. Das heißt, ich werde nicht dadurch gequält, daß ich schreiben will und nicht kann. Anhedonia ist auch als “melancholische Depression” bekannt und als solche durchaus schmerzhaft, aber dieser Schmerz hat nichts mit der Unfähigkeit zu tun, auf etwas Emotionales zu reagieren. Der Anhedoniker kann nicht einmal begreifen, daß er seine Gefühle wiederhaben möchte, denn auch das scheint dumm und leer und nutzlos zu sein. Alles, was er will, ist, den Schmerz aufzuhalten. Aber auch Selbstmord scheint sinnlos zu sein. Dazu müßte man jene emotionale Energie aufwenden, die auf der anderen Seite zu finden ist. Nur dann könnte man sich den Selbstmord als Erlösung vorstellen. Ich weiß, daß das alles für Nicht-Anhedoniker schwer zu begreifen ist. Ich kann nur sagen, daß es ist, als wäre man blind, taub, stumm und völlig gelähmt, aber diese Vergleiche führen zu nichts, wenn man sie nicht erfahren kann. So übel Anhedonia auch sein mag, ist sie nichts im Vergleich zu einer Panik-Angststörung. Okay, genug gejammert über meine Krankheiten. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen.

MC: Dann wenden wir uns einigen anderen Fragen zu. Laß mich zu diesem Thema nur noch anmerken, daß du das Thema Angststörung in deinen Arbeiten großartig umgesetzt hast, in dem es dir gelang, diesen schrecklichen Zustand, diesen erschreckenden Blick auf die Realität, zu charakterisieren.
Aber weiter: Seit gut einem Jahr arbeitest du an deinem Opus Magnum “The Conspiracy against the Human Race”.
Ich erinnere mich an einige Ideen daraus, die du in dem ausgezeichneten Interview, das Neddal Ayad für “Fantastic Metroloplis” im letzten Jahr mit dir führte, erläuterst. Du wurden von einigen Leuten auf Internet-Platformen für das Auswalzen deiner persönlichen Ansichten kritisiert, die Pauschalurteilen gleichkommen.
Um es genauer zu formulieren: da wurde dein Vergleich zwischen Lovecraft und Shakespeare – und daß du Lovecraft für den besseren der beiden hältst – kritisiert. Du sagtest nämlich, daß “für Lovecraft, im Gegensatz zu Shakespeare, die Offenbarung des Lebens darin besteht, daß es die Erzählung eines Idioten ist. Es sind nicht nur  Lippenbekenntnisse, wenn er das als offensichtliche Tatsache des Lebens darstellt. Es ist der Kern seiner Arbeit.”
Du hast mir außerdem erzählt, daß ein Bekannter von dir, der den Enwurf von  “The Conspiracy” gelesen hat, mit der dunklen und verzweifelten Diagnose, die da über das Leben gestellt wird, nicht klar kam. Darüber, wie du über die Welt sprichst, wie sie sich darstellt, wie sie sich darzustellen hat, so als wäre das die objektive Wahrheit.
Würdest du etwas darüber sagen, vielleicht um das Bild gerade zu rücken?

TL: Nun, ich habe nie behauptet, Lovecraft sei ein besserer Schriftsteller als der “honigzungige” Shakespeare, wie ein Zeitgenosse ihn nannte. Aber Shakespeare war Dramatiker. Heute wäre er einer jener Autoren, von denen ich vorhin bereits sprach. Seine Figuren sagen Dinge, die mir gefallen und sie drücken sich gut aus, aber es ist nicht Shakespeares Stimme. Hamlets düsteres Geschwafel wurde von Girolamo Cardanos “De Consolatione” abgeschaut, das man auch als “Hamlets Buch” kennt. Ich weiß nicht, wer Shakespeare war und kann über seine Arbeit nichts sagen. Bei Lovecraft aber kann man anhand seiner Ideen erkennen, wer er war, deshalb fühle ich mich ihm eher verbunden. Das wird den meisten Lesern egal sein, die nur aus ihrer eigenen Welt flüchten wollen und sich gleichzeitig wünschen, diese Romanwelt möge ihre eigene sein. Sie möchten über Dinge lesen, die sie verstehen. Shakespeare schrieb nichts, was nicht auch der Fantasieloseste verstehen kann. Das sind Seifenopern und romantische Komödien. Das gleiche Zeug genießen die Leute auch heute. Lovecraft schrieb nicht für dieses Publikum. Er schrieb für die wenigen empfänglichen Menschen, nicht für die fröhliche Masse.
Was mein im Unabomber-Stil verfasstes Essay “The Conspiracy” betrifft, ist es weder ein philosophisches Werk noch mein Opus Magnum.
(Anmerkung des Übersetzers: Der ‘Unabomber-Stil’ bezieht sich auf das Unabomber Manifsto von Ted Kaczynski, einem amerikanischen Mathematiker, der mehrere Menschen anhand von Briefbomben tötete. Das FBI nutze den Begriff UNAMBOMB als Kürzel für UNiversity & Airline BOMBer. Der Text des Manifests richtet sich hauptsächlich gegen die Industrialisierung und Technisierung der Welt und wurde in einer philosophischen Sprache verfasst. Es gibt hierzu einen hervorragenden Bericht von Lutz Dammbeck.)
Vielmehr ist das Buch ein Zusammenspiel von Ideen, denen ich ein Lebenlang nachging, mit jenen, die andere Leute hatten und die zu meinen passten. Den Widerspruch, den jemand darin erkennen will, zwischen dem, was ich denke, und der Art, wie ich es ausdrücke, rührt daher, weil sie nichts darüber wissen können. Für mich gibt es diesen Widerspruch nicht. Ich könnte wahrscheinlich gar nicht über etwas schreiben, das nicht meine tiefe Abneigung gegen alles, was existiert, widerspiegelt, das lege ich meinen Figuren in den Mund. Als ob das, was für mich wahr ist, tatsächlich wahr wäre. Das ist ein in privaten Essays häufig verwendetes Mittel. Würde ich nicht daran glauben, daß meine Gedankengänge richtig sind, würde ich solange suchen, bis ich von deren Richtigkeit überzeugt wäre. Sogar einigen Wissenschaftlern,  denen man schlüssig nachweisen kann, daß sie sich geirrt haben, halten an ihrer fehlerhaften Sichtweise fest. Das ist eines der Hautthemen von “The Conspiracy”. Die Wahrheit funktioniert in einem sehr kleingesteckten, immer wieder selbstfeflexiven Rahmen. Drei Dinge von etwas sind immer mehr als zwei Dinge von etwas. Jemand glaubt, daß Gott existiert, weil ein Buch es ihnen sagt. Sie glauben, das Buch spricht die Wahrheit, weil  eine Menge Leute der Auffassung sind, es sei Gottes Wort. Außerdem mögen sie das, was in dem Buch steht. Das ist das Wichtigste überhaupt. Würden sie es nicht mögen, würden sie nicht daran glauben. Ich denke, das ist das Problem mit “The Conspiracy”. Die Leser mochten nicht alles, was da drin stand. Außerdem mochten sie die Vorstellung nicht, daß jemand, den sie eigentlich mögen, so ein Buch schreibt. Das ist in etwa so beunruhigend, als wenn du herausfindest, daß dein bester Freund ein Serienmörder ist, dem es Spaß macht, die Gehirne von Kleinkindern zu verspeisen.
Der Essay handelt hauptsächlich davon, wie wenig Menschen mit unangenehmen Wahrheiten umgehen können – und was das für Wahrheiten sind. Wir sind geneigt, nicht darüber nachzudenken, wie diese Dinge unser Leben beeinflussen. Aber das ist genau das, was mich ausmacht. Wäre das nicht so, befände ich mich in einem noch schlechteren Zustand als sowieso schon. Zweifellos würde ich dieses Interview nicht geben. Ich würde auch nicht “The Conspiracy” geschrieben haben. Wenn  mir jemand sagt, ich sei dämlich und auf dem Irrweg, kann ich darauf nichts antworten, außer vielleicht: “Bin ich nicht”. Es ist wirklich eine Qual, in einer Welt mit Leuten zu leben, mich eingeschlossen, die nicht aufhören können, zu denken.

3. Teil

Dieser Beitrag wurde unter interviews veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.