Christoph Drösser: Hast du Töne? (Musikpsychologie)

Warum wir alle musikalisch sind

von Walter Eigenmann

Gleich im frühesten Vorwort seiner neuen Veröffentlichung „Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind“ steckt der Hamburger Wissenschaftsjournalist Christoph Drösser einen fulminanten Claim ab: „In diesem Buch schreibe ich selten über konkrete Musik, sondern vor allem über das, was man in den letzten Jahren über Musik herausgefunden hat. Die meisten Erkenntnisse, die ich zitiere, sind nach dem Jahr 2000 veröffentlicht worden, und das zeigt, dass hier ein Forschungsgebiet geradezu explodiert, und die Resultate insbesondere der Hirnforscher erschüttern so manche alte Überzeugungen. Vor allem die, dass die meisten Menschen unmusikalisch wären.

Christoph Drösser: Hast du Töne? - Warum wir alle musikalisch sind - Rowohlt VerlagMusikalität ist vielmehr eine Eigenschaft, die praktisch jeder von uns besitzt. Trotzdem hören wir zwar immer mehr Musik, aber wir musizieren immer weniger. Ich würde gern ein bisschen dazu beitragen, dass sich das ändert.“
Provokativ und therapeutisch zugleich also geht der 51-jährige studierte Mathematiker und Amateur-Sänger Drössel ans Werk – und ums vorwegzunehmen: mit Erfolg bei wohl so ziemlich jeder Art von Leserschaft.

Vergnügliche Aufbereitung komplizierter Forschung

Dass der Autor, als thematisch breit tätiger TV-Redakteur, -Journalist und Print-Kolumnist, vom populärwissenschaftlichen Feuilleton herkommt, merkt man seiner Monographie auf Schritt und Buchstabe an, und seine dezidiert journalistische, nonstop vergnügliche Aufbereitung kompliziertester Forschungsergebnisse – bereits bekannt u.a. aus seinen Büchern „Der Mathematikverführer“ (2007) oder „Wenn die Röcke kürzer werden, wächst die Wirtschaft“ (2008) – feiert auch in „Hast du Töne?“ amüsante, aber eben gleichzeitig informative Urständ.

Christoph Drösser - Glarean Magazin
Christoph Drösser (geb. 1958)

Dabei hat er’s nicht leicht mit einem Forschungsgebiet, welches in der Tat während der vergangenen Jahre dank vielfältiger technischer Hochrüstung enormen Erkenntniszuwachs präsentieren konnte (siehe hierzu u.a. im „Glarean Magazin“: „Macht Musik schlau?“). In zehn Kapiteln muss Drössel denn eine beeindruckende Menge und Vielfalt an musikwissenschaftlichen Zahlen, Fakten und Einsichten resümmieren, für die drei mal hundert Buchseiten eigentlich allenfalls bloss die Ouvertüre liefern können.

Musikalität ist keine Göttergabe

Des Autors Tour d’horizont beginnt mit der Widerlegung alter Vorurteile wie dem bereits erwähnten, dass Musikalität eine Göttergabe sei, über die nur Ausnahmebegabungen verfügten, und in diesem Zusammenhang auch, dass Hans nimmermehr könne, was Hänschen nicht gelernt hat; dass also „in puncto Musik der grösste Teil der Menschen zum Zuhören veruteilt“ sei. (Bei dieser Gelegenheit kriegen übrigens solche TV-Quotenhämmer wie „Deutschland sucht den Superstar“ von Drössel ihr kräftig Stück Fett weg, aber ebenso die Haydn-Mozart-Beethoven-Anbeter mit ihrem unreflektierten „Genie-Kult“).

Sind Sie musikalisch? Wenn man diese Frage Studenten stellt (die meisten psychologischen Studien werden an Studenten durchgeführt), dann antworten 60 Prozent mit "Nein". Heute sind alle Menschen vor allem Musikhörexperten. Jeder von uns hat in seinem Leben mehr Musik gehört als Mozart, Bach und Beethoven zusammen. "Angst ist die dominierende Emotion bei Profimusikern" (Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Musikmediziner) Keine Frage, Musik, insbesondere Popmusik, hat diese sexuelle Komponente. Man muss nur ein paar Stunden MTV schauen - in den meisten Videoclips geht es nur um das Eine. Kinder sind von Geburt an sehr empfänglich für Musik. Sie kommen offenbar schon mit einem Gespür für "richtige" Harmonien auf die Welt. Man kann vermuten, dass die Neandertaler das absolute Gehör lebenslänglich hatten und es in ihrem Singsang auch zur Differenzierung von Bedeutungen einsetzten. (Aus Christoph Drösser: "Hast du Töne?", Rowohlt Verlag)
Sind Sie musikalisch? Wenn man diese Frage Studenten stellt (die meisten psychologischen Studien werden an Studenten durchgeführt), dann antworten 60 Prozent mit „Nein“.  ♦ Heute sind alle Menschen vor allem Musikhörexperten. Jeder von uns hat in seinem Leben mehr Musik gehört als Mozart, Bach und Beethoven zusammen. ♦ „Angst ist die dominierende Emotion bei Profimusikern“ (Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Musikmediziner) ♦ Keine Frage, Musik, insbesondere Popmusik, hat diese sexuelle Komponente. Man muss nur ein paar Stunden MTV schauen – in den meisten Videoclips geht es nur um das Eine. ♦ Kinder sind von Geburt an sehr empfänglich für Musik. Sie kommen offenbar schon mit einem Gespür für „richtige“ Harmonien auf die Welt. ♦ Man kann vermuten, dass die Neandertaler das absolute Gehör lebenslänglich hatten und es in ihrem Singsang auch zur Differenzierung von Bedeutungen einsetzten. (Aus Christoph Drösser: „Hast du Töne?“, Rowohlt Verlag)

Mit Fragen wie „Gibt es einen evolutionären Nutzen der Musik?“ leitet Autor Drösser dann über zu grundlegenden Untersuchungen über die (prä)-historischen Ursprünge und Entwicklungen der menschlichen Musik, über ihre neurophysiologischen Determinanten, über den Anteil der Sozialisation am überdurchschnittlichen Musiziervermögen, oder auch über spezifisch Musikpsychologisches wie der „Grammatik der Musik“ und der individuellen musikalischen Präferenzen. Weitere faszinierende, teils „klassische“, teils moderne Gebiete streift Drösser mit Forschungsgegenständen wie: „Neue Musik“, „Universeller Chill“, „Amusie“, „Ton-Farben“, „Musik&Emotion“, „Schulmusik“, „Computermusik“ oder „Musik&Autismus“, um natürlich nur einige zu nennen.

Hörhinweise im Buch – Internet inklusive

Wer unter der musikinteressierten Leserschaft nach statistischem Zahlenmaterial, nach wissenschaftlichen Fall-Studien oder nach apparatemedizinischer Grafik sucht, wird in Drössers „Hast du Töne?“ nur sehr unterschwellig fündig. Wer sich aber eine ebenso vergnügliche wie breitest dokumentierte, dabei sehr flüssig und gleichzeitig spannend zu lesende Auseinandersetzung mit ein paar der bahnbrechenden Entwicklungen innerhalb der modernen Musikforschung gönnen will, der kommt hier, ob nun Musik-Hörender oder Musik-Ausführender, mit einer höchst anregenden Lektüre auf seine Kosten.

Mehr noch: Drösser, ganz Medien-Experte, begnügt sich nicht mit Wörtern, sondern bezieht, maximal am Gegenstand orientiert, auch das Ohr mit ein: Im Buch eingestreut finden sich immer wieder Hörhinweise, denen man auf einer zugeordneten textbezogenen Internet-Seite direkt nachgehen kann.

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Christoph Drösser evoziert damit ein ausgesprochen abgerundetes Lektüre-Vergnügen, das neben viel Abstraktem eine gehörige Portion „Sinnliches“ zugesellt. Ganz abgesehen davon, dass der mit Eloquenz plaudernde Autor immer mal wieder autobiographische Subjektivitäten seines eigenen, offensichtlich amüsanten Musiklebens einstreut und damit doppelte wissenschaftliche Authenzität (quasi im Selbstversuch) herstellt.  Kurzum: Musikfreundinnen und -freunde aller Couleur und Bildung stellen diesen seinen Band ohne Zweifel mit Gewinn ins private Bücherregal. ♦

Christoph Drösser: Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind, 320 Seiten, Rowohlt Verlag, ISBN 978-3498013288

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