Andreas Wieland: Vom Koffer in den Mund (Kurzprosa)

Vom Koffer in den Mund

Andreas Wieland

Aus Behagen fläzte ich eine Zeitlang auf dem Stubenteppich und rannte darauf freudenschreiend aus der elterlichen Wohnung. Die Treppe hoch und runter, vorbei an dem betagten Herrn Eisenhut und seiner schrumpeligen Frau Lilchen, an der schielenden Miss Siusan Cunningham, an der immerzu kichernden Tamilin AaduMayil und weiteren, mir unbekannten, doch äusserst adretten und uniformen Persönlichkeiten. Allesamt standen sie mit aufgerissenen und, wenn ich es richtig gesehen habe, auch angefeuchteten Augen zwischen Tür und Angel. Sie wussten – jetzt hat er’s geschafft. Jetzt hat er den Koffer zugeklappt. Die Schlösser eingeschnappt. Sich entfesselt von allen Hemmnissen und die Packung mit den Betablockern zerknüllt und ins Klo geworfen. Als verschroben mochten mich meine Mitbewohner empfunden und meinen Aufbruch als impertinent bezeichnet haben, doch erachtete ich meine Entscheidung als die gelungene Tat eines Genies. Ausgeklügelt und doch in der Spontanität des Rastlosen. Ich war eine der Natur abgewonnene Bereicherung für die Gesellschaft. Ich war jener Held, welcher für das Gemeinwohl die Courage aufbrachte und eine Bresche in den Alltag zu schlagen wagte. Wie ein Popstar zog ich von Ort zu Ort, lebte aus dem Koffer, von der Hand in den Mund. Man liebte mich. Man weinte um mich. Man jubelte mir zu. Natürlich ermunterte mich dies in meinem Schneid und tatsächlich stand ich in schönster Blüte. Sublimiert mein ganzes Wesen und ausgebrochen aus der Pedanterie quälender Sesshaftigkeit. Und mit dem Ehrenwort des Genies versichere ich Ihnen meine Geistesgrösse und den Verdienst meiner Begabung. Wider meiner eigentlichen Verschwiegenheit, ist es mir eine Ehre, hiervon berichten zu dürfen.
Fragen Sie sich bitte nicht nach dem Indikator meines aussergewönlichen Triebes nach Höherem streben zu wollen. Betrachten Sie meine Reisen als Ventil hedonistischer Bemühungen, als das Liebesabenteuer des Kyrenaikers. Nun gut, für mich standen Tür und Tor offen, eigentlich wünschte ich dies auch meinen Mitmenschen oder zumindest meinen Mitbewohnern. Den Eisenhuts, Miss Siusan und AaduMayil. Aber auch den Neuzugezogenen mit ihren Kindern, Verwandten und Bekannten. Jauchzend rannte ich in Socken und Boxershorts über die polierten Fliesen in die Wohnung zurück und fragte mich, ob jemand mir zu liebe das Treppenhaus so fürstlich geschmückt hatte. Mit Blumengestecken und sonstigem Firlefanz, Bildern und Duftkerzen. In knappen Worten, wie es sich für einen Mann der Tat gehörte, informierte ich meine Eltern über mein Vorhaben. Den Katzen warf ich das für den Sonntag bestimmte Roastbeef in den Napf und den Zierfischen überliess ich den vorgebackenen Yorkshire-Pudding plus Katzenfutter. Auch bedankte ich mich in den Abschiedszeilen für ihre Warmherzigkeit und das unerschütterliche Wohlwollen, anstandsgemäss vergass ich nicht Vaters Videokamera zu erwähnen, welche für meine reisejournalistische Arbeit, welcher ich mich gezwungenermassen stellen musste, von äusserster Tragweite war. Und nur weil ich kein Kleingeld mehr hatte war ich genötigt, aus Mutters Einkaufsportemonnaie ein paar Groschen für die Strassenbahn zu klauben. Natürlich hätte ich auch das Taxi nehmen können, doch sagte ich mir, dass ich von Anfang an zum Geld Sorge tragen will. Alleine schon ob dieser Einstellung liebten mich meine Eltern und schenkten mir volles Vertrauen. Ohnehin stand für uns Vertrauen an oberster Stelle. Liebend gern hätte ich die Rückkehr meiner Eltern abgewartet und mein Abschiedsgeschenk entgegengenommen. Doch wollte ich noch Tante Hedwig über meine Abreise in Kenntnis setzen, damit sie mir etwas mit auf den Weg geben konnte. Ein Wunsch, welchen ich ihr jeweils nicht abschlagen durfte. Zumindest nicht damals, wo ich mich in einer hoch lebhaften Phase befand und für jegliche Form des Ansporns dankbar war. Eine sich alleweil lohnende Investition, auf solche Leute zu setzen. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Eine von mir klipp und klar definierte Zielsetzung. In relativ kurzer Zeit liess sich der Besuch bei ihr abhandeln. Ich bestellte dann doch noch ein Taxi und liess mich zum Bahnhof chauffieren. Mutters Spaziergeld spendete ich der Fahrerin. Schliesslich trug sie mir meinen Koffer noch bis zum Perron. Versehentlich setzte ich mich ins Erstklasse-Abteil, was allerdings keine Rolle spielte. Den Aufschlag bezahlte ich gerne und um ein Haar wollte ich dem Schaffner noch ein Trinkgeld geben. Eigentlich stellte ich mir die Fahrt um einiges entspannter vor. Doch diesmal, zugegeben, lag es an mir. Ich hätte mich eindeutig besser informieren sollen. Über mich selbst verwundert setzte ich mich in den Speisewagen und klappte den Laptop auf, um neue Möglichkeiten abzuchecken. Zürich – Köln – Bruxelles – Antwerpen dauerte mir auf einmal entschieden zu lange. Über Paris war eine schlechte Alternative. Diese hatte ich ja zuvor schon abgecheckt. Ich schlürfte meinen Capuccino und lächelte strahlend der hübschen Bedienung entgegen. Ich hatte ja auch allen Grund dazu. So fand ich doch tatsächlich einen Lastminute Flug von Köln nach Venedig. Businessclass! Morgen um 07:30 Uhr. Um einem weiten Weg zum Flughafen vorzubeugen, mietete ich mir gleich ein Zimmer in einem der noblen Hotels in der Agglomeration. Antwerpen Ade, schrieb ich in die Agenda und: Sitze vergnügt im Überschallzug nach Köln. Bereite VJ-Aktion vor. weissabgleich, Ton usw. eingestellt. Interview mit Service-, Küchen- und Hilfspersonal. Anschliessend Travelling-Aufnahmen Speisewagen.
Aus Rücksicht erstsatte ich Ihnen keinen ausführlichen Bericht über meinen Hotelaufenthalt in Köln. Nicht über die anfänglichen Schwierigkeiten am Empfang und auch nicht über das Missverständnis in der Pianobar. Schlussendlich hatte sich ja alles zum Guten gewendet und selbst der Pianist nur noch für mich gespielt. Zumindest kam es mir so vor. Am nächsten Morgen verpasste ich auch den zweiten Shuttlebus des Hotels und liess mir deswegen ein Taxi rufen. Auf mein Verlangen hin holte ein Portier meinen Koffer vom Zimmer zur Rezeption, als ich auscheckte. Formgewandt winkte ich ihn damit gleich zum Taxi mit dem viel zu nervösen Chauffeur weiter. Natürlich gab ich ihm dafür eine Belohnung und auch dem Taxifahrer – gleich im Voraus. Höflich hielt ich noch kurz nach dem Hoteldirektor Ausschau, doch war dieser nirgendwo aufzufinden. Ihn herbeirufen lassen wollte ich nicht. Ich dachte nur, dass er sich vielleicht gerne von mir verabschiedet hätte. Auf dem Flughafenterminal angekommen, wurde mein Name bereits mehrere Male aufgerufen und ich fühlte mich seit langem wieder einmal ernst genommen und genoss mein Dasein als Videojournalist und Darsteller jenes Popstars, der mir in vielen Dingen ähnlich war. Rein physiognomisch, in Gestik und Mimik, aber auch in seiner vornehmen Gangart. Einziger Unterschied: ich war nicht in Begleitung von Bodyguards, sondern von einer Flugbegleiterin, welche mir wahrlich versuchte Feuer unterm Hintern zu machen. Natürlich spielte ich ihr zuliebe mit und rannte an ihrer Seite zum Flugzeug wie ein gehetzter Starmanager; in meiner Situation wie ein Popstar ohne Privatjet. An Bord angekommen stellte ich mich persönlich mit meinem Nachnamen, dann nachdrücklich mit Vor- und Nachnamen beim Personal vor und bedankte mich gleichzeitig für ihr Entgegenkommen. Dem Piloten liess ich meine Ankunft ausrichten. „Startklar!“, rief ich den Flugpassagieren aufmunternd zu, die wie im Theater gespannt ihre Blicke auf den Protagonisten (ich) richteten, obwohl neben mir eine nette junge Dame bereits das Erstehilfe-Set gebärdenstark vordemonstrierte. Ich machte meine dritte Travelling-Aufnahme (die zweite war in der Hotellobby), dann wurde ich untergehakt zu meinem Platz gebracht und sogar angeschnallt. Businessclass! Venezia, ich komme!, schwelgte es in meiner Brust und glücklich verköstigte ich mich an dem von mir gewünschten Weight-Watcher-Frühstück. Ich verlangte Tageszeitungen in Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch, klappte den Laptop auf und liess mir koffeinarmen Kaffee nachschenken. Immer wieder erntete ich bewundernde Blicke von anderen Passagieren. Wahrscheinlich waren sie hin und her gerissen ob meiner Person. Wussten nicht wo sich mich einzustufen hatten. Sei es im Showbiz oder im Management. Ich verriet es in keinster Weise. Den Flugbegleiterinnen hingegen, zwinkerte ich schon mal zu oder hob die eine Augenbraue.
Venedig war einfach wundervoll. Zauberhaft! La Serenissima. Molto bello. Bellissima. Ich vermisse weder Zürich, noch Antwerpen. Paris und Köln können mir gestohlen bleiben, notierte ich in meine Agenda. Bleibe vielleicht etwas länger. Filmfestspiele. Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia. Plane Videoaufnahmen. Dann klappte ich die Agenda zu wie damals den Koffer, verliess das Zimmer, das Hotel, den Garten und trat auf den sonnenbeschienenen Platz hinaus. Ich trug eine dunkle Sonnenbrille, meine gelierten Haare waren streng nach hinten gekämmt, das Hemd trug ich trotz unbehaarter und jünglingshafter Brust bis zu den untersten Knöpfen offen. Hose und Schuhe waren äusserst elegant und mit Leichtigkeit, ich spürte es genau, faszinierte ich etliche Leute. Natürlich profitierte ich von den Festspielen und einiges vereinfachte sich für mich dadurch. So waren viele meiner Geschichten den Leuten beinahe ihre Existenz wert und ich wurde zu den verrücktesten Sachen eingeladen, was mir wiederum eine Verlängerung meines Aufenthaltes ermöglichte. Meine Eltern und auch Tante Hedwig fingen sich bereits an zu sorgen, worauf ich sie herzlichst vertröstete und meine Situation bis ins Detail schilderte. Natürlich erwähnte ich auch Hoteladresse und Bankverbindung. Täglich sandte ich ihnen wunderbare Bilder von Palästen, goldenen Gondeln, aufflatternden Taubenschwärmen, märchenhaften Brücken, vom feudalen Theater und der Bibliothek. Von Schulen, Zunfthäusern und Piazzas, vom Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Doch fühlte ich mich nach zwei Monaten der Rast erneut von seltsamer Unruhe heimgesucht und weder Kunst noch Weiblichkeit konnte mich festhalten. Ich bat um das Lösen meiner Fussfessel. Ich fühlte mich elend. Und was ich lange Zeit als unumstössliches Privileg betrachtete, war mir auf einmal nicht mehr genug. Ich zückte Agenda und Bleistift und schrieb: Das Liebesabenteuer des Kyrenaikers hat sich ausgelebt. Denn was bedeutete mir jetzt noch Zürich, die Stadt meiner Jugendjahre? Was die Reisen nach Indien und Russland, China und Amerika? Auch Hamburg, Wien und Rom hatte ich gesehen. Die Akropolis und die Golanhöhen. Afrika. Die Spitzbergen. Jetzt, so wusste ich genau, musste ich einen neuen Weg einschlagen. Einer, der sich nicht kartographieren liess. Einer, der durch unsichtbare Gefilde führte und sich jeglicher Beschreibung und Sprache entzog. Ein Durchwandern eines unendlichen Gebietes sollte es werden. Von einer Lauterkeit in die nächste. Ein hinter undurchdringbarer Umzäunung geglaubtes Land wollte ich entdecken und mit meinem Ehrenwort versichere ich Ihnen, ich hatte es gefunden. Mit wahren Gefühlen und unter buschigen Brauen hervor betrachtete ich diese neue Welt wider üblicher Gewohnheit. In aller Bescheidenheit. Sogleich bemerkte ich diese fantastische und erdenferne Ungebundenheit und ob ich demnach in Venedig auf einem kaiserlichen Balkon weilte oder in New York in einem der miefenden Yellow cabs sass, meine neu entdeckte Welt traf ich überall an. Ich fühlte mich herrlich dabei. Alles je Erträumte breitete sich vor mir aus wie ein funkelndes Geschenkpapier. Kein Zeitdruck, keine Hetze an Bahnhöfen und Flughäfen, Businessclass gab es keine. Weight watcher war verpönt. Tante Hedwig besuchte ich jeweils aus reinen Motiven heraus, auch verfütterte ich in meiner Beherztheit kein Roastbeef an Katzen und der Yorkshire-Pudding blieb Beilage. Herr Eisenhut zeigte sich mir alles andere als betagt und Lilchens Haut sah aus wie nach einem Intensiv-Gesicht-Körper-Wunder-Peeling. Siusan blickte aus zwei wunderschönen blauen Augen und AaduMayil, na ja, sie behielt ihr eigensinniges Lust-, beziehungsweise Humorempfinden. Das irdische Reisen, Sie werden staunen, behielt ich aber trotzdem bei. So zog ich von der elterlichen Wohnung aus und mietete mir ein Zimmer. Gleich zwischen Miss Siusan und AaduMayil, was sich als äusserst vernünftig herausstellte. Denn, wie Sie ja wissen, lebte ich vom Koffer in den Mund, war also häufig unterwegs, und so war es für meine Anwohner äusserst kommod und ohne grossen Aufwand verbunden, während dieser Zeit meine Räumlichkeit zu lüften, das Mobiliar abzustauben und die Pflanzen zu giessen. Im Gegenzug durften sie sich soviel Kaffee oder Tee kochen wie sie wollten, turmhohe Lagen an Schokolade und Keksen lagen jeweils auch bereit. Sie konnten sich also in keiner Weise beklagen. Auch schrieb ich ihnen regelmässig Ansichtskarten. Ich fühlte mich von ihnen verstanden. ♦


Andreas Wieland

Geb. 1969 in Chur/CH, Studium an der Höheren Fachschule für Hotel- und Tourismusmanagement, anschliessend als diplomierter Hotelier in den Kantonen Graubünden, Zürich und Luzern tätig, Kurzprosa- und Roman-Publikationen, lebt als freischaffender Schriftsteller in Walenstadt/CH

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