Das Zitat der Woche
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Über den Materialismus
Jean-Paul Sartre
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Es scheint, dass der erste Schritt des Materialismus dahin geht, die Existenz Gottes und den Gedanken des transzendenten Zwecks zu verneinen; der zweite darauf, die Bewegungen des Geistes auf diejenigen der Materie zurückzuführen; der dritte darauf, das Subjektive auszuschalten, indem er die Welt, mitsamt dem Menschen darin, nur noch als ein Gefüge von Gegenständen sieht, die untereinander durch allumfassende Beziehungen verbunden sind. Ich schließe daraus in gutem Glauben, dass dies eine metaphysische Lehre ist und dass die Materialisten Metaphysiker sind.
Man wird mich sogleich unterbrechen und sagen, dass ich mich täusche; die Materialisten verabscheuen nichts so sehr wie die Metaphysik; es ist nicht einmal sicher, ob auch nur die Philosophie Gnade vor ihren Augen findet. Der dialektische Materialismus ist nach Naville «der Ausdruck einer fortschreitenden Entdeckung der gegenseitigen Auswirkungen im Weltall, einer Entdeckung, die keineswegs passiv ist, sondern die Tätigkeit des Entdeckers, des Suchers und des Kämpfers in sich schließt». Nach Garaudy geht jener erste Schritt des Materialismus dahin, zu verneinen, dass es zurecht ein Wissen außerhalb des wissenschaftlichen Wissens gebe. Und für Frau Angrand kann man nicht Materialist sein, wenn man nicht von vornherein jegliche A-priori-Spekulation verwirft.
Solche Ausbrüche gegen die Metaphysik sind altbekannt: man begegnete ihnen im letzten Jahrhundert in den Schriften der Positivisten. Diese waren jedoch folgerichtiger und lehnten es ab, über die Existenz Gottes etwas auszusagen, weil sie die Vermutungen, die man in dieser Hinsicht machen konnte, für unbeweisbar hielten; sie hatten ein für allemal darauf verzichtet, über die Beziehungen zwischen Geist und Körper Fragen zu stellen, weil sie dachten, wir könnten darüber nichts erkennen. Tatsächlich ist es klar, dass der Atheismus von Naville oder Frau Angrand nicht «der Ausdruck einer fortschreitenden Entdeckung» ist. Er ist eine klare and apriorische Stellungnahme zu einem Problem, das unsere Erfahrung unendlich übersteigt. Dieser Standpunkt ist auch der meine, aber ich dachte nicht weniger Metaphysiker zu sein, indem ich Gott die Existenz versagte, als Leibniz es war, indem er sie ihm zubilligte. Und der Materialist, der den Idealisten vorwirft, sie trieben Metaphysik, wenn sie die Materie auf den Geist zurückführen – durch welches Wunder würde er dann selbst davon befreit, Metaphysik zu treiben, wenn er den Geist auf die Materie zurückführt? Die Erfahrung spricht sich nicht zugunsten seiner Lehre aus – übrigens auch nicht für die entgegengesetzte Lehre: die Erfahrung beschränkt sich darauf, die enge Verknüpfung zwischen Physiologischem und Psychischem klar an den Tag zu legen, und diese Verknüpfung ist geeignet, auf tausend verschiedene Arten gedeutet zu werden. Wenn der Materialist behauptet, seiner Grundsätze sicher zu sein, so kann seine Sicherheit nur aus Intuitionen oder aus Überlegungen a priori stammen, das heißt eben aus jenen Spekulationen, die er verdammt. Und jetzt ist es mir klar, dass der Materialismus eigentlich eine unter einem Positivismus versteckte Metaphysik ist; aber es ist eine Metaphysik, die sich selber zerstört; denn weil sie grundsätzlich die Metaphysik untergräbt, hebt sie jede Grundlage für ihre eigenen Bejahungen auf.
Mit demselben Streich zerstört sie auch den Positivismus, mit dem sie sich tarnt. Aus Bescheidenheit führten die Schüler Comtes das menschliche Wissen einzig auf die wissenschaftlichen Kenntnisse zurück: sie hielten die Vernunft in den engen Grenzen unserer Erfahrung, weil sie sich nur in dieser wirksam zeigt. Der Erfolg der Wissenschaft war für sie eine Tatsache; aber es war eine menschliche Tatsache: vom Standpunkt des Menschen aus und für den Menschen ist es wahr, dass die Wissenschaft erfolgreich ist. Sie unterließen es, zu fragen, ob das Weltall in sich den wissenschaftlichen Rationalismus trägt oder verbürgt, aus dem guten Grunde, weil sie verpflichtet gewesen wären, aus sich selbst und der Menschlichkeit herauszutreten, um das All, so wie es ist, mit der Vorstellung zu vergleichen, die die Wissenschaft uns davon gibt, und in bezug auf den Menschen und die Welt den Standpunkt Gottes einzunehmen. Der Materialist seinerseits ist nicht so schüchtern: er tritt aus der Wissenschaft, der Subjektivität und dem Menschlichen heraus und setzt sich an die Stelle Gottes, den er verneint, um das Schauspiel des Weltalls zu betrachten. Er schreibt in aller Ruhe: «Die materialistische Auffassung der Welt bedeutet einfach die Auffassung der Natur, so wie sie ist, ohne irgendeine fremde Zutat» (Marx&Engels, Sämtliche Werke XIV der Feuerbach-Ausgabe). Es handelt sich wohl in diesem überraschenden Text darum, die menschliche Subjektivität zu unterdrücken, diese «der Natur fremde Zutat». Indem der Materialist seine Subjektivität verneint, denkt er, sie zum Verschwinden gebracht zu haben. Aber die List kann leicht entlarvt werden: um die Subjektivität zu unterdrücken, erklärt sich der Materialist als Gegenstand, d. h: als Stoff der Wissenschaft. Hat er nun aber einmal die Subjektivität zugunsten des Gegenstandes unterdrückt, so nimmt er für sich – anstatt sich als Ding unter den Dingen zu sehen, hin und her geworfen durch den Wellengang des Alls der Natur – eine objektive Sicht in Anspruch und behauptet, die Natur, so wie sie an sich ist, zu betrachten.
Es gibt einen Doppelsinn von «Objektivität» – welche bald die Passivität des betrachteten Objektes bedeutet und bald den absoluten Wert eines erkennenden Blicks, der aller Schwächen des Subjektiven ledig ist. So ergeht sich der Materialist, nachdem er alle Subjektivität hinter sich gelassen und sich der reinen objektiven Wahrheit angeglichen hat, in einer Welt von Objekten, die bewohnt ist von Menschen-Objekten. Kommt er von seiner Reise zurück, so lässt er uns an dem, was er gelernt hat, teilnehmen: «Alles was vernünftig ist, ist wirklich», sagt er uns, «alles was wirklich ist, ist vernünftig.»
Woher kommt ihm dieser rationalistische Optimismus? Wir begreifen, dass es ein Kantianer war, der uns diese Erklärungen über die Natur abgab, weil nach ihm die Vernunft es ist, welche die Erfahrung aufbaut. Aber der Materialist gibt nicht zu, dass die Welt das Erzeugnis unseres konstituierenden Handelns sei: ganz im Gegenteil sind wir in seinen Augen das Erzeugnis des Alls. Warum also sollten wir wissen, dass die Wirklichkeit rational ist, da wir sie ja nicht geschaffen haben und wir von ihr, von Stunde zu Stunde, nur einen winzigen Teil widerspiegeln? Der Erfolg der Wissenschaft kann, strenggenommen, uns zu dem Gedanken anregen, jene Rationalität sei wahrscheinlich, aber es kann sich um eine örtliche, statistische Rationalität handeln; sie kann für eine gewisse Größenordnung gelten und über oder unterhalb dieser Grenze zusammenbrechen. Was uns als eine kühne Induktion oder, wenn man will, als Postulat erscheint, daraus macht der Materialist eine Gewissheit. Für ihn gibt es durchaus keinen Zweifel: die Vernunft ist im Menschen und außerhalb des Menschen. Allein durch eine dialektische Rückwendung, die man voraussehen konnte, «geht» der materialistische Rationalismus in den Irrationalismus «über» und zerstört sich selber: Ist die psychische Tatsache unerbittlich streng durch das Biologische, und die biologische Tatsache ihrerseits durch den physischen Zustand der Welt bedingt, so sehe ich wohl ein, dass das menschliche Bewusstsein das All auf die Art ausdrücken kann, wie eine Wirkung ihre Ursache, aber nicht so, wie ein Gedanke seinen Gegenstand ausdrückt.
Eine geknechtete Vernunft, von außen her regiert, vermittels Ketten blinder Ursachen gelenkt – wie sollte das noch eine Vernunft sein? Wie sollte ich an die Prinzipien meiner Schlussfolgerungen glauben, wenn doch bloß das äußere Geschehen es war, das sie in mir niedergelegt hat und so, wie Hegel sagt, «die Vernunft ein Knochen» ist? Durch welchen Zufall wären die Rohprodukte der Umstände zu gleicher Zeit die Schlüssel der Natur? Man beachte übrigens, wie Lenin von unserm Bewusstsein spricht: «Es ist», sagt er, «nur der Widerschein des Seins, im besten Fall ein annähernd genauer Widerschein.» Wer aber soll entscheiden, ob der vorliegende Fall, hier der Materialismus, der «beste Fall» sei? Man müsste zugleich draußen und drinnen sein, um vergleichen zu können. Und da davon unter den angenommenen Voraussetzungen nicht die Rede sein kann, haben wir kein Kriterium über die Gültigkeit des Widerscheins, es seien denn innerliche und subjektive Kriterien: seine Übereinstimmung mit anderen Widerscheinen, seine Klarheit, seine Unterschiedenheit, seine Dauer. Kurzum idealistische Kriterien. Überdies bestimmen sie bis jetzt nur eine Wahrheit für den Menschen, und diese Wahrheit, die nicht wie die von den Kantianern vorgeschlagene konstruiert ist, sondern eine solche, der man sich unterworfen hat, wird niemals mehr als ein Glaube ohne Grundlage und eine Gewohnheit sein. Dogmatisch geht der Materialismus, wenn er behauptet, das All bringe den Gedanken hervor, alsbald in idealistischen Skeptizismus über. Mit der einen Hand stellt er die unwandelbaren Rechte der Vernunft auf, mit der anderen nimmt er sie wieder weg. Er zerstört den Positivismus durch einen dogmatischen Rationalismus, er zerstört beide durch die metaphysische Behauptung, dass der Mensch ein materieller Gegenstand sei, und er zerstört diese Behauptung durch die radikale Verneinung jeder Metaphysik. Er stellt die Wissenschaft gegen die Metaphysik und, ohne sein Wissen, eine Metaphysik gegen die Wissenschaft. So bleiben nur Trümmer zurück. ♦
Jean-Paul Sartre (Bild) war der bedeutendste französische Existentialist des 20. Jahrhunderts. Das vorliegende Zitat entstammt dem Eröffnungs-Teil seines Essays «Ist der Existentialismus ein Humanismus?» (Ullstein Verlag 1973)
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