Laut einer Langzeitstudie einer Gruppe von Wissenschaftlern der Universitäten Bielefeld und Marburg hegen 50 Prozent der Deutschen fremdenfeindliche Gedanken. Vom Alltagsrassismus bis zu tätlichen Angriffen reicht die Spanne, 182 Todesopfer rechter Gewalt zählt die Amadeu-Antonio-Stiftung in Deutschland seit 1990. Doch das – so musste Autor Thomas Kuban feststellen – interessiert leider niemanden. 15 Jahre lang hat er sich in die Neonazi-Szene eingeschleust und unter hunderten Decknamen Veranstaltungen aller Art besucht, um das Wesen des heutigen rechten Gedankengutes in der Bundesrepublik zu ergründen, auf eigene Kosten, die sich auf viele hunderttausend Euro beliefen. Das Ergebnis erscheint mit “Blut muss fließen” auf 319 Seiten und die Empörung bleibt aus. Ebenso die Kostendeckung. Was war geschehen?
Als Kuban (ebenfalls ein Pseudonym des Journalisten, der dank seiner Arbeit in ständiger Bedrohung lebt) seine Recherche begann, war er sicher – das würde eine große Story. Er besorgte sich Spionagekameraausrüstung, filmte Veranstaltungen der Nazis von innen heraus, als einer von ihnen, komplett in Skinhead-Outfit. Und er lieferte spektakuläre Bilder ab. Nazis, die zu hunderten Hitlergrüße Richtung Bühne schickten, Bands die Texte gröhlten, die selbst ihm noch hart erschienen, und er hatte sich eingearbeitet in die Materie. Auch die Zeile “Blut muss fließen, knüppelhageldick, wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik” nach der das Lebenswerk benannt wurde, hat er in den Jahren hunderte Male gehört und zur Tarnung oft mitgesungen.
Thomas Kuban deckte in Detailarbeit Strukturen von verbotenen volksverhetzenden Clubs wie “Blood & Honour” auf und schrieb sich seitenlange Emails unter diversen Identitäten mit Musikern der Nazibands. Über 90 Mal drehte er bestes Videomaterial, davon auf allein 50 Konzerten. Und jedes Mal, wenn er besonders schwere Gesetzesverstöße filmte, bot er das Material den deutschen Fernsehsendern an. Die Politmagazine sollten gegen Verwendung die Kosten für die Drehs decken, viel mehr wollte er nie. Bei einem Etat von mehreren Milliarden Euro würden die Öffentlich Rechtlichen im Bildungsauftrag ja Interesse haben und die wenigen hundert Euro zahlen können, um gegen Rechts vorzugehen. Dachte er. Verwendet wurde sein Material fast nie. RTL hatte für SpiegelTV einige Male kurze Schnipsel seiner Arbeit verwendet, sonst interessierte sich niemand dafür.
Kuban wandt sich an die Politik, doch je öfter er politische Veranstaltungen besuchte, aller Parteien, desto klarer wurde ihm, dass auch hier mit so vielen Maßen gemessen wurde, dass man so wenig Zeit aufbringen wollte um gegen rechte Straftaten vorzugehen, dass sich die Arbeit nicht lohnte. Er machte dennoch weiter und schloss die Recherche nach fünfzehn Jahren auf eigene Faust mit dem vorliegenden Buch und dem Dokumentarfilm “Blut muss fließen” ab. Auch diesen Film wollten die Öffentlich Rechtlichen im übrigen nicht zeigen. Wenn, dann könne man kulant nach 24 Uhr einen Teil, aber sonst, da wäre kein Thema drin. “Ich sehe die Story nicht”, den Satz hat er hunderte Male gehört seit Beginn seiner Arbeit.
Mit “Blut muss fließen : Undercover unter Nazis” liegt ein einzigartiges Stück politischer Dokumentararbeit vor. Es geht darin nicht nur um die Bandbreite der rechten Bands in Deutschland, Europa und weltweit, oder um ein paar rebellierende Jungspunde, die deren Konzerte besuchen. Viel mehr deckt Kuban die Strukturen auf, die sich gegenseitig finanzieren und stützen und die Tragweite der rechten Musikszene wird sichtbar, wenn er von Konzertveranstaltungen mit mehreren tausend Besuchern berichtet, die von der Polizei begleitet, aber toleriert werden. Von Konzerten mit fünfhundert Besuchern und Eintrittspreisen, die als “Geburtstagsfeier” völlig legal stattfinden und von Politikern, die zur Thematik nichts zu sagen haben außer “Das ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, damit haben wir nichts zu tun”.
Der Autor sitzt nach Beendigung dieser Arbeit, die er selbst zu Recht als sein Lebenswerk betrachtet, auf einem Schuldenberg, den er nicht mehr abtragen wird. Zweihunderttausend Euro sind es allein, die der Kinofilm nicht einspielen wird, weil er nur ein Mal öffentlich gezeigt wurde, zwar ein gutes Medienecho erhielt, aber einfach nicht von einem Verleih aufgekauft wurde. Die Ausgaben der gesamten fünfzehn Jahre lassen sich unter Umständen nicht beziffern. Durch die zig Identitäten und das permanente Verändern seines Äußeren auf Nazi-Standards über fünfzehn Jahre hinweg hat er auch sein Privatleben geopfert.
Uns bleibt nur, das Buch zu empfehlen. Und zwar nicht den musikinteressierten Lesern unter Ihnen, sondern jedem, der das Problem Rechts und die Naziszene in Deutschland verstehen möchte. “Blut muss fließen” ist ein zuweilen verstörendes Buch, weil es sich sehr offen liest. Thomas Kuban ist mit der Recherche in den Privatraum der Nazis eingedrungen und dort so lange verblieben, wie er es aushalten konnte.
“Blut muss fließen” von Thomas Kuban ist im Campus Verlag erschienen und für 19.99€ erhältlich.