Stell dir vor, du müsstest dein ganzes Leben lizenzieren. Jeder Ton aus deinem Mund, jede Geste, jedes Augenzucken, jede zufällig in dein Gesicht hängende Strähne: All das ist so oder ähnlich bereits da gewesen. Alles schon einmal auf Platte gepresst, abgefilmt, von irgendeinem Publikum rezipiert und in irgendeiner Form beurteilt. Der Wiederholungsfall, ob geplant oder unbewusst, ist im besten Fall ein Zitat – bösartig ausgelegt aber ein Plagiat. Jedenfalls aber wäre er lizenz-, und damit auch kostenpflichtig.
Schon klar: Du willst dir so eine Welt gar nicht erst ausmalen, findest die Vorstellung lächerlich. Aber das ist genau das Umfeld, in dem sich die Soundinistas über kurz oder lang befinden werden – wenn die Band den Plan eines mächtigen Musikkonzerns nicht zu verhindern weiß.
#incommunicado: eine Fiktion?
Die Ausgangssituation von Michel Reimons Romanerstling lässt den Ich-Erzähler – er ist Musikjournalist – während eines Selbstfindungs-Trips in Italien als Aushilfs-Gitarristen zur Band stoßen. Er hat sich ziemlich in Anna, die Sängerin der Soundinistas verschaut, die ihn jedoch nach einem One-Night-Stand abblitzen lässt. Nicht so Eugene, Manager der Gruppe, die seit Jahren die Punk-Clubs der Welt mit ihrem Crossover aus allen vorstellbaren Musikstilen bespielt. Zufällig steht Eugene auch noch in einer besonderen Beziehung zu Anna: Ein spannend-amüsantes Dreieck, an dem die LeserInnen im Verlauf der Geschichte nicht weniger (heimlichen) Spaß haben als die restlichen zwei Bandmitglieder.
Als die Soundinistas aufgrund eines kurzen Konzertmitschnitts, der auf YouTube landet, eine inhaltlich kaum nachvollziehbare Urheberrechtsklage aufgedrückt bekommen (an der der neue Mann an der Sechssaitigen nicht ganz unschuldig ist), beschließen sie den Weg des größten Widerstands zu beschreiten.
In der Folge führen uns Reimons Helden durch halb Europa, während sie ihre Geschichte hinaus singen und brüllen, während ihre Bekanntheit vor allem über Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und eben YouTube steigt, und im Zuge dessen ihre Anhängerschaft in die Zehntausende geht. Der umfassende Rest dieses großartigen popliterarischen Spektakels soll hier nicht verraten werden, lässt aber das Herz jedes zwischen ca. 1965 und heute sozialisierten Musik-Liebhabers höher schlagen. Und ersetzt, mit einer Vielzahl eingewobener Zitate und Paraphrasen klassischer und zeitgenössischer Philosophen, Historiker und Medientheoretiker dazu noch locker eineinhalb bis zwei Semester an der Wiener Publizistik.
Die Hintergründe
Darüber hinaus beherrscht Reimon das Schreibhandwerk besser als so mancher der super-gehypten Romanautoren, die nach einer Nominierung auf den Long- und Shortlists diverser Deutsch(sprachig)er Buchpreise die Spiegel-Bestsellerlisten der vergangenen Jahre anführten. Auch das Lektorat ist, wie aus den verhältnismäßig wenigen Typos der 581 Seiten (im für E-Book-Reader optimierten Reclam-Format) hervorgeht, jenem der renommierten Verlage ebenbürtig.
Zudem haben der Autor und sein Roman auch noch ein echtes Anliegen: Das Wissen und die Kultur, die sich die Menschen erarbeitet haben, soll allen lebenden und künftigen ErdenbürgerInnen möglichst ohne Beschränkungen zur Verfügung stehen. Das heißt längst nicht, dass die Illegalität jeder im Internet vorhanden Film-, Musik- oder Textdatei bestritten wird. Reimons Text belegt aber, dass die gesellschaftliche Umklammerung der von vielen gescholtenen Content Mafia (bei deren Suche Google u.a. hierher verlinkt) mittlerweile einfach zu eng ist, und sie vor allem die politischen Eliten zu nahe an sich gezogen hat. Das zeigt etwa der im Buch wunderschön dargelegte Fall des „Sonny Bono Copyright Term Extinction Act“.
Das Buch – das „Buch“
Die Veröffentlichung von #incommunicado als kostenloser Text in unterschiedlichen Dateiformaten ist in diesem Sinne nur konsequent. Das garantiert den LeserInnen maximale Verfügbarkeit und sichert dem Autor theoretisch ein Weltpublikum – umso mehr, als über die gewählte „Creative Commons“-Lizenzierung eine Bearbeitung des Textes sowohl den Inhalt als auch jede Übersetzung betreffend erlaubt ist.
Via Twitter ist in den ersten Tagen nach der Veröffentlichung eine Diskussion darüber entbrannt, auf welche Art das Werk am besten zu genießen sei. Da gab es Stimmen von Smartphone-Besitzern, die auf den Lesegenuss am iPhone oder z.B. am neuesten Google-Phone (Galaxy Nexus mit Riesen-Display) schworen; andere wiederum verwiesen auf ihre iPads oder andere Tablet-PCs. Ich selbst probierte es am Galaxy Tab, verlor aber rasch die Lust daran, da sich dieses Gerät zwar für ein bis eineinhalb Stündchen sehr gut zum absurfen diverser Nachrichtenportale eignet, jedoch wegen der Hintergrundbeleuchtung keinen wirklichen Lesegenuss ermöglicht – es ist in erster Linie ein Arbeitsgerät.
Schließlich bekannte ich mich öffentlich als der Internetausdrucker, der ich auch sonst bin, und habe mir #incommunicado in Papierform geholt: In fünf Tranchen, von denen ich in den darauf folgenden Tagen stets ein bis zwei in der Manteltasche hatte, um die halbstündige Fahrt ins Büro für diesen Lesegenuss zu nutzen.
Eine Geschichte, die mich zweifach bewegt…
1. Reimons Werk war (und ist) der Anstoß dafür, dass ich mich ernsthaft mit den Möglichkeiten eines E-Book-Readers beschäftige. Jedoch bin ich auch nach zwei Wochen Recherche unschlüssig: Der Amazon Kindle scheint mir doch ein zu sehr geschlossenes System; ich würde jedenfalls keinen bestellen, ohne nicht zuvor ein solches Gerät getestet zu haben. Alternativen wie Thalias Oyo (hässlich, schwer und schlecht lesbar), die Sony-Geräte (im Test hat sich so ein Ding bei mir v.a. durch die schreckliche Software disqualifiziert, ohne die das Übertragen von Textdateien nicht möglich ist) oder die Reader der Hersteller iRiver und Kobo sind zumindest ebenso eine nähere Betrachtung wert.
In erster Linie wäre mir ein solcher E-Reader auch keine Plattform für gekaufte Literatur – deren Preis teils nur wenige Euro unter jenem eines echten Buchs liegt, die jedoch nicht verliehen oder verschenkt, nicht unkompliziert mit Notizen versehen und wohl auch nicht ausgedruckt werden kann –, sondern für Leseerlebnisse wie eben das vorliegende #incommunicado, für wissenschaftliche Abhandlungen oder auch eine Menge freier Literatur, die etwa das Gutenberg Projekt das „Internet Archive“ zur Verfügung stellen.
2. Die fiktive Handlung des Romans fußt nicht zuletzt auf den bekannten Prozessen der vergangenen zehn bis zwölf Jahre. (Man könnte hier einmal mehr auf das Ende von Napster verweisen.) Der Autor war vorausschauend genug, sich zwar den historischen Hintergründen seiner Fiktion zu widmen, sich jedoch nicht in die brandaktuellsten Themen zu vertiefen. In dem Begleittext, den Reimon anlässlich der Veröffentlichung auf sein Blog gestellt hat, nimmt er jedoch sehr wohl auf seinen Kampf gegen ACTA Bezug, das „Anti-Counterfeiting Trade Agreement“.
Dieses geplante mulitilaterale Handelsabkommen auf völkerrechtlicher Ebene soll internationale Standards im Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen etablieren – mit Folgen, die durchschnittliche ErdenbürgerInnen in eine ähnliche SchuldnerInnen-Rolle wie die Soundinistas drängen könnte. Für mich war die Lektüre von #incommunicado der letzte notwendige Schritt zur Unterzeichnung einer internationalen Petition gegen ACTA, und zudem eine weitere Bestätigung meiner früheren Unterstützung einer nationalen Bürgerinitiative zum Stopp der Vorratsdatenspeicherung auf der Website des Österreichischen Parlaments.
Politische Literatur!
Um es auf den Punkt zu bringen: Michel Reimons Text funktioniert in bester Orwell’scher Manier. Auch der große George Orwell hat mit 1984 eine Fiktion auf der Basis leidlich bekannter Hintergründe entwickelt. Der Buchtitel, mehr noch aber der Verweis auf Orwells „Big Brother“, ist mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Romans (dem ich mich vor längerer Zeit an ganz anderer Stelle gewidmet habe) längst zum geflügelten Wort geworden. Ähnliches wäre uns allen in diesem Fall zu wünschen: Dass nämlich #incommunicado künftig BürgerInnen und PolitikerInnen meint, die auf die unanständige Macht von Konzernen aufmerksam werden und entsprechend kritisch darauf reagieren.
Das Buch eignet sich insbesondere im letzten Viertel auch als prächtige Vorlage zur Organisation erfolgreicher unangekündigter Protestmärsche, die freilich – angelehnt an die US-Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre – stets als friedliche Demonstrationen konzipiert sind.
Über all dem steht die politische Botschaft des Schriftstellers, der im kleinsten österreichischen Bundesland, dem Burgenland, die Funktion des Grünen-Parteichefs innehat. #incommunicado taugt demnach – zumindest in Österreich – auch als Wahlempfehlung für die Grünen. Immerhin handelt es sich dabei um die einzige Partei, die sich konsequent und nachhaltig der im Roman behandelten Urheberrechtsthematik annimmt. Und die endet eben nicht bei der Frage, ob ich mir nach dem Vorbestellen der kommenden neuen Doppel-Vinyl von The Cult nicht auch zusätzlich eine digitale Kopie aus dem Netz ziehen darf, sondern denkt die Problematik weiter, und bringt sie z.B. mit der Frage nach der (moralischen) Rechtmäßigkeit von Patenten auf Saatgut in Verbindung.
Fazit
#incommunicado ist ein Stück politischer Popliteratur, das riesigen Spaß macht. Wer sich für Beethoven, die Beatles, die Sex Pistols, Pearl Jam, Sokrates, Kant, Adorno, McLuhan oder 12 Monkeys begeistern kann, wird sich darin wieder finden. Stellenweise darf man sich an Denis Johnson, Jörg Fauser oder auch Alex Garlands „Strand“ erinnert fühlen.
Holt euch den Text von der Website des Autors, genießt ihn, denkt darüber nach – und empfehlt ihn gefälligst weiter: Spätestens zu Weihnachten will ich #incommunicado nämlich als „echtes“ Buch besitzen und an viele Leute verschenken können.
Sehr schöner Artikel und vor allen Dingen sehr interessant klingendes Buch! Danke dafür, Bernhard! :)
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