Eine Buchbesprechung von Karsten Kruschel
Man könnte es sich einfach machen und behaupten, daß der ukrainische Kultautor Juri Andruchowytsch in seinem Roman „Moscoviada“ die Theorie aufstellt, der KGB züchte in der Moskauer Unterwelt genetisch veränderte Riesenratten, um mit ihnen die Macht in Rußland wiederzugewinnen. Und es gebe ein geheimes Metrosystem unter der Aufsicht sinistrer Geheimdienstleute, das den ganzen Moskauer Untergrund perforiert. Angesichts der Tatsache, daß heute selbst die ernsthaftesten Kommentatoren eindringlich darauf hinweisen, daß der russische Staat mehr und mehr unter die Kontrolle von Geheimdienst und Mafia zugleich gerät, klingt die Geschichte mit den monströsen Rattenmutanten gar nicht mehr so phantastisch. Allerdings: Andruchowytschs schaurig-schräge „Moscoviada“ wurde bereits 1993 in einer Kiewer Zeitschrift erstmals veröffentlicht und verschaffte seinem Verfasser Kultstatus in der Ukraine.
Wenn ein dreizehn Jahre alter Text so tagesaktuell wirkt, dann handelt es sich wohl um dichterische Hellsicht. Oder die wodkagetränkte Wirklichkeit.
Der Held des Buches – ein angehender Schriftsteller namens Otto von F. – verbringt seine Zeit mit Koma-Saufen und sexuellen Eskapaden, falls er nicht gerade zufällig etwas schreibt oder sich nach Österreich-Ungarn sehnt. Er wohnt zur Zeit der sich auflösenden Sowjetunion in einem Wohnheim voller angehender wodkasaufender Schriftsteller im siebenten Stock. Ein Student klettert bei ihm aus dem Fenster, um neuen Wodka zu besorgen, denn das Wohnheim ist nachts verriegelt und verrammelt. Auf dem Rückweg geht – siebenter Stock – alles schief. Absturz. Mausetot. Drei Monate später klopft der Tote an die Fensterscheibe, um einen Plausch zu halten (und da soll man nicht zur Flasche greifen?). Dieses Ereignis bildet den Auftakt für eine immer irrwitziger werdende Abfolge von unwahrscheinlichen, unglaublichen und unmöglichen Geschehnissen.
Eine Trinkhalle voller Bier und Wodka trinkender Moskauer wird – vielleicht von tschetschenischen Terroristen, vielleicht vom KGB – in die Luft gejagt. Mit einer schwedischen Extrem-Trinkerin testet Otto von F. die biologischen Grenzen des Alkoholismus. Eine angebliche Freundin von Otto entpuppt sich als Fachfrau für Schlangengift, die in Wirklichkeit für den Geheimdienst arbeitet, und traktiert ihn mit Fausthieben und fliegenden Bügeleisen. Ein Offizier des Geheimdienstes versucht Otto erst zu erpressen, will ihn an die Mutantenratten verfüttern und tut dann so, als würde er versehentlich Ottos Käfigtür offenlassen. Beim besoffenen Herumirren in der Kanalisation begegnet Otto einem Zigeunerbaron, der ihn flugs ausraubt. Dabei ist er angeblich auf dem Weg ins Kinderkaufhaus, um ein Geschenk zu kaufen, obwohl er trotz seines enormen Rausches genau weiß, daß es dort nichts zu kaufen gibt.
Der Wirbel der phantastischen Szenen gipfelt in einem unterirdischen Dante-Keller auf einem Symposion der Toten, wo Otto von F. nacheinander Stalin, Iwan den Schrecklichen, Lenin, Katharina die Große, Felix Dserschinski und andere Gestalten der russischen Geschichte erschießt, ehe er sich selbst eine Kugel in die Schläfe jagt. Danach macht er sich verkatert auf den Heimweg in die Ukraine.
Die Lust am Morbiden speist sich aus dem Bewußtsein, daß ein ganzes Riesenland – im Buch nur das „Imperium“ genannt – sehenden Auges in den Untergang schliddert und etwas Neues kaum zu ahnen ist (heute weiß man, daß kaum besser war, was danach kam). Juri Andruchowytsch reißt die Grenzen dessen, was sowjetischer Literatur erlaubt war, in einem phantastischen Fieberwahn nieder. Daß die zusammengesperrten Nationen nicht nur nicht miteinander leben können, sondern einander auch spinnefeind sind, schlägt er dem Leser beispielsweise genüßlich um die Ohren – und er macht kein Hehl daraus, daß er als Ukrainer die russische Hauptstadt Moskau nur aus tiefstem Herzen hassen kann. Alle Mittel sind dabei erlaubt. Auch Wodka, KGB-Metronetze und hundegroße Ratten.
Die ätzende Ironie Andruchowytschs macht vor nichts halt, nicht einmal vor sich selbst. Den Spaß an der Apokalypse, den dieses Buch bereitet, kann man allerdings erst dann zu würdigen wissen, wenn man wenigstens ein oder zwei Glas Wodka intus hat. Dann macht es auch nichts mehr, daß die Postmoderne sich immer fröhlicher und ungenierter daran macht, die Science Fiction genauso als wohlfeilen Steinbruch für Ideen zu benutzen wie alles andere auch. Moscoviada: Ein mit Wodka abgefüllter Blade Runner, der statt Replikanten zu jagen einem Einkauf hinterherstolpert, die niemals stattfinden wird.
-Karsten Kruschel
Juri Andruchowytsch: Moscoviada.
Roman, aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr (Moskoviada), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006, 223 S., Euro 22,80.
Interessanterweise scheint das geheime, zweite Metro-Netz eine spezifisch russische “urban legend” zu sein. In dem SF-Roman “Metro 2033” von Dmitri Glukhovski kommt es auch vor, und selbst im deutschen Wikipedia-Artikel über die Moskauer Metro wird die MetroZwei gewürdigt.
Generell laden Ubahn-Schächte wohl zu Mythen ein und dort wo man kein zweites Netz vermutet, wird der stillgelegte Teil, der zB unter New York riesig ist, mit Legenden überschüttet. Und dann gibt es Legenden, die sind letztlich gar keine, zum Beispiel diese: http://www.amazon.de/Mole-People-Life-Tunnels-Beneath/dp/155652241X
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