Der unbekannte Schiller: Taufpate Rieger
15. Januar 2005 | Von WT | Kategorie: LiteraturveranstaltungenIn einer Veranstaltungsreihe zum Schillerjahr geht das Mannheimer Nationaltheater auf die Suche nach dem weniger bekannten Schiller, nach Weggefährten, nach Kuriositäten und Raritäten aus Leben und Werk. Der zweite Teil der Reihe stand unter dem Titel: “Taufpate Rieger”.
Diesen unbekannten Schiller kennenzulernen, versammelten sich zum vereinbarten Zeitpunkt – Dienstag 11. Januar 20:30 Uhr – ungefähr zwei bis drei Dutzend Interessierte am Marktplatzbrunnen in Mannheim, wo sie von Christian Schönfelder und Erik Raskopf vom Nationaltheater in Empfang genommen wurden. “Wir möchten Sie bitten, hinüber zur Marktplatzwache, dem alten Mannheimer Rathaus, und dort in den ersten Stock zu gehen. Sie werden zunächst nicht verstehen warum, aber wir werden es Ihnen erkären.” Dort stand man vor einer Glastür und eine Holztafel warnte: “Vorsicht Rutschgefahr! – Bitte keinen Reis streuen.” Dann geleitete man die Exkursionsteilnehmer in den Trausaal des Standesamtes und bat Platz zu nehmen.
Hier endlich begann sich die Verbindung des Ortes zu Schiller zu erschliessen. Dietmar Böck, Dramaturg am Schauspiel, übernahm die Regie und zog die Fäden vom “hoorige Ranze”, dem ehemaligen Wacht- und Haftlokal neben dem alten Mannheimer Rathaus zum Hohenasperg, der Gefängnisfestung, in der Schillers Taufpate Rieger Kommandant gewesen war. Die Beziehung zwischen Schiller und seinem Taufpaten waren weniger familiärer als zweckmäßiger Natur; man erhoffte sich Schutz von dem einflußreichen Günstling im Dienste Karl Eugens Herzog von Württemberg. Die brutalen Rekrutierungsmethoden des Obersten Rieger fanden ihren Niederschlag in “Kabale und Liebe”. Das wechselvolle Schicksal des Taufpaten vom mächtigen Günstling, zum verstoßenen Häftling und wieder zurück an die Macht verarbeitete Schiller in der Erzählung “Spiel des Schicksals”. Dietmar Böck lieferte die biographischen Rahmendaten und Evamaria Salcher las die Erzählung “mit warmem Schillerton”, wie der “Mannheimer Morgen” vermerkt.
Danach zerfaserte der Abend zusehends. Man kehrte zu den biographischen Fakten um die Personen Rieger und Schiller zurück, die sich nur einmal real begegneten. Schiller besuchte 1781 auf dem Hohenasperg mit Erlaubnis seines Taufpaten den dort inhaftierten Musiker und Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart. Schubart wiederum lieferte Schiller die stoffliche Anregung zu den Räubern. Zwischendurch zeigte man als Video-Einspielung eine kurze Sequenz aus dem Defa-Film “Kabale und Liebe” von Martin Hellberg aus dem Jahr 1959. Eine Erstausgabe von “Kabale und Liebe”, eine bibliophile Kostbarkeit, die von der Theatersammlung der Reiss-Engelhorn-Museen für den Abend zur Verfügung gestellt wurde, und in einer Vitrine unter Glas zu bewundern war, fand erst nach der Verabschiedung der Zuschauer ihre Erwähnung und wäre fast unbemerkt geblieben.
Verdienst der Veranstaltung war es, Schiller einmal nicht mit seinen Dramen und Gedichten sondern als Erzähler zu präsentieren. Die Erzählung “Spiel des Schicksals” hätte als Text für sich allein den Abend getragen, um einen unbekannten Schiller vorzustellen. Sprache und Inhalt entsprechen nicht dem gängigen Schillerschen Tonfall. Der Weg des Protagonisten Aloysius von G*** vom Günstling der Macht, der seine Macht willkürlich zur Schau stellt und ausübt zum geächteten Gefangen, der selbst der Willkür ausgeliefert ist, und wieder zurück an die Schalthebeln der Macht wird aus einer Beobachterposition präzise geschildert. Die am eigenen Leib erfahrene Willkür und lange Jahre der Haft haben G*** scheinbar nicht verändert. Am Ende seines Lebens ist er immer noch der Despot, als der er in jungen Jahren gefürchtet war.
Vielleicht noch einige wenige Textpassagen aus Kabale und Liebe um den Einfluss des Taufpaten auf Schillers Werk zu demonstrieren, hätten völlig ausgereicht. Für die nächsten Vernstaltungen wünscht man sich mehr Schiller und weniger Volkshochschul-Germanistik als Beiwerk.
“Spiel des Schicksals” als pdf-Datei herunterladen. – (Acrobat Reader zum Lesen erforderlich)
Um Artikel über soziale Netzwerke weiterzuverbreiten, müssen Sie diese aktivieren - für mehr Datenschutz.