Meine Gedichte haben Koerperlichkeit
17. Januar 2005 | Von WT | Kategorie: LiteraturveranstaltungenMeine Gedichte haben Körperlichkeit, davon ist Zehra Çirak überzeugt. Bis auf den letzten Platz besetzt war die Café-Bar Ritz als die 1960 in Istanbul geborene Lyrikerin vor ihr Mannheimer Publikum trat, ein paar Nachzügler konnten nur noch einen Stehplatz ergattern. Im Alter von drei Jahren kam sie nach Deutschland, wuchs in Karlsruhe auf und lebt heute in Berlin, zusammen mit ihrem Mann, dem Bildenden Künstler Jürgen Walter, Jahrgang 1940. Mit 17 habe sie ihn kennengelernt, als sie 21 war, wurden sie ein Paar, nicht nur privat sondern auch künstlerisch. Seine Objekte seien Lautsprecher für ihre Texte. Sie seien auch schon zusammen aufgetreten; er mit seinen Objekten – sie mit ihren Texten. Performances habe man das genannt. Im Verlaufe des Abends belegte sie die gemeinsame Arbeitsweise an drei Beispielen: “Essgewohnheiten” so der Titel von Objekt und Text nach dem Gemälde “Saturn verschlingt seine Kinder und Drei Lachsscheiben” von Francisco de Goya; “Anklänge” nach “Erleuchtung des Präsidenten” von René Magritte und “Stückwerk” nach “Pferdeschädel mit rosa Rose und Schwarze Iris” von Georgia O´ Keefe. Objekte und Texte können auf der Website von Jürgen Walter betrachtet werden.
Ihren Auftritt im Ritz wolle sie austarieren zwischen Lyrik und Prosatexten. Fast ebenso konsequent wechselte sie zwischen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten aus einem Manuskript, das sie seit drei Jahren mit sich herumschleppe. Einen ersten starken Eindruck hinterliess ihr Text über eine Frau und ihren Umgang mit Büchern; ein ganzes Zimmer voll sei es gewesen, ihre Bibliothek habe sie es genannt und mit jedem Buch eine persönliche Beziehung verbunden, Beziehungen, die sich auch untereinander verändert haben, indem sie in die Bücher hineinschrieb, Seiten herausnahm und in andere Bücher wieder hineinlegte. Sie habe sich Bücher als Matratze untergelegt, darauf geschlafen und vom Inhalt geträumt. Sie habe die Bücher auch durch äussere Einwirkungen verändert, mit Tee-, Kaffe- und Weinflecken oder ihren eigen Körpersäften. Nach ihrem Tod seien Scharen von Antiquaren damit beschäftigt gewesen, die Bücher wieder von ihren Spuren zu befreien. Dann gab es die Geschichte “Auf dem Lande” mit der typischen türkischen Kleinfamilie Mama, Papa, Kind und Katze, die am 1. Mai von Berlin aufs Land zur Oma flieht, um den Demonstrationen und der Randale zu entkommen. Der acht Jahre alte Sohnemann hat nichts anderes zu tun, als sich für die kommende Woche neue Macken und Marotten auszudenken über die er akribisch Tagebuch führt. Maul-Aufreissen und Kopf-Zurückwerfen war als nächstes angesagt. Die Familienkatze gefiel sich anscheinend darin, die Macken des Sprösslings nachzuäffen. Ein weiterer Text beschäftigte sich mit dem Liebesbrief einer Frau an ihre Freundin; die Freundin existierte zwar noch, aber die Freundschaft gab es nicht mehr.
Die Prosatexte Zehra Çiraks malen Stimmungsbilder der Ruhe in den Alltag, der ganz und gar nicht ruhig ist. Ihre Lyrik ist härter von schärferen Kontrasten gezeichnet. Auch Sprachspielereien gegenüber sei sie aufgeschlossen; sie pflege sie gerne aber nicht oft – man werde sonst gleich in eine Schublade gesteckt. Ihr Beispieltext mit: “ein Wanderer – Einwanderer – Einwand” und seinen Variationen findet den stärksten Beifall des Publikums an diesem Abend. Mit dem Publikum ist es so eine Sache: Als Zehra Çirak einen Augenblick in ihrer Lesung innehält, und das Publikum entscheiden lässt, ob sie mit Prosa oder Lyrik weitermachen soll, entscheidet sich das Publikum für Prosa. Andererseits scheint es in Zehra Çiraks Lyrik zu Hause zu sein. Ihre Gedichte sind bei einzelnen Leuten im Kopf präsenter als bei der Autorin, die im Buch erst nach dem passenden Gedicht suchen muss, weil der Verlag am Inhaltsverzeichnis gespart habe. Als sie dieses Gedicht, in dem es um das “sich warm laufen” geht, um an sein Ziel zu kommen und die Zeile “Auf Brücken ist es am kältesten” nach der Wende 1989 zum ersten Mal in Ost-Berlin gelesen habe, sei das Publikum der Ansicht gewesen, sie habe es zu diesem Anlass extra für sie geschrieben. Zum Abschluss des abends las Zehra Çirak als Zugabe auf Wunsch aus dem Publikum ein Liebesgedicht. Die erotische Ausstrahlung der Zeilen dürfte auch den Letzten überzeugt haben: Zehra Çiraks Gedichte haben nicht nur Körperlichkeit sondern auch Sinnlichkeit.
Preise und Auszeichnungen u.a. 1989 Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, 1993 den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis, 2001 Adelbert-von-Chamisso-Preis (Hauptpreis).
Kleine Bibliographie:
Zehra Çirak, Vogel auf dem Rücken eines Elefanten : Gedichte / Zehra Çirak. – Köln : Kiepenheuer und Witsch, 1991
Zehra Çirak, Fremde Flügel auf eigener Schulter : Gedichte / Zehra Çirak. – Köln : Kiepenheuer und Witsch, 1994
Zehra Çirak, Gedichte – Sinasi Dikmen, Satiren : [eine Publikation des Goethe-Instituts, Pädagogische Verbindungsarbeit] / [Hrsg.: Will Hasty und Christa Merkes-Frei unter Mitarb. von Linda Kay Clements ...]. – München ; Atlanta : Goethe-Inst., 1996
Zehra Çirak, Leibesübungen : Gedichte. – Köln : Kiepenheuer und Witsch, 2000
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