Grosz, Andreas: Meine Geliebte

Meine Geliebte

Ich liebte sie, doch nackt hatte ich sie noch nie gesehen. Und wie viel mehr würde ich sie lieben, sähe ich sie erst nackt, sagte ich mir.

Der Saal war voll. Viele Bilder hingen an den Wänden, barockes Zeug mit nackten Gott- und Halbgottheiten, eine Gemäldeausstellung, hätte man meinen können. Und meine Geliebte saß irgendwo in der Menge, an einem der Pulte. Ich selbst nahm nicht Platz, sondern blieb bei der Tür stehen.

Ein Schüler stand auf und ging zum Katheder. Ein zweiter, dritter, ein vierter folgten, und es wurden immer mehr, alles junge Kerle, die nach der Küche ihrer Mutter rochen. Dann gingen auch Schülerinnen nach vorn, die Reihen lichteten sich hinten, und um den Katheder herum drängten sie sich alle und entkleideten sich gegenseitig.

Ich suchte meine Geliebte unter ihnen, reckte den Kopf, stand auf die Zehenspitzen, aber sie ließ sich nicht blicken. Von hinten legte mir jemand die Hände auf die Augen und sagte: »Nicht erschrecken, ich bins.« Es war ihre Stimme.

»Wie bist du an mir vorbeigekommen, ich stehe doch die ganze Zeit schon hier neben der Tür?«, fragte ich.

»Nackt bin ich unsichtbar. Das wusstest du nicht?«



(c) / aus: Andreas Grosz, Fahnenflucht mit der Lokalbahn, edition pudelundpinscher 2007.

Andreas Grosz, 1958 geboren, lebt in Unterschächen UR. 1982 Übersetzerdiplom. 1994 ZUG (mit Guido Baselgia). 1996 Die Ameisenstraße im Schrank (Gedichte, mit Zeichnungen von Daniela Raimann). 2007 Fahnenflucht mit der Lokalbahn (Prosa)