Myomorpha

(E17)

Diese Art Dornröschenwunder ohne Dornröschen. Mit Weissglut zwischen den Zähnen. Kleinflächenbrände in, an, um Leib und Seele. Die Bettwäsche: Leinwand der Fleische, aussen steif, hartgefroren, innen klamm, versiegende Glut, lachsfarben. Häutungen, stellenweise. Und Furchen: Faltenzüge, Striche, Gemetzelreste, Züge. Auch an Armen und Beinen und woimmerhin der Glaskörper sich richtete. Blendungen. Risse in der Membran. Sonne – Partikelstösse durch feinste Ritzen. Digitale Botschaften?

Wie lange hatte er geschlafen? Tage? Wochen? Monate? Oder zurück, mit dem Zeitrad gegen Uhrzeigersinn: sich verjüngt? Denn da waren fehlende Stellen und solche, die auf eine unkontrollierte Poetik seiner Memexzellen, Tätigkeiten hinwiesen, die ihm jetzt nur scheinen konnten. Und nicht sein.

Es gab aber auch ausdrücklich Spuren, die dafür sprachen, dass es tatsächlich war. Gewesen war. Ganz Greifbares: Haare beispielsweise. Nicht die Seinen. Und kleine Stofffetzen, beispielsweise – nicht die Seinen. Und anderes nicht Seiniges. Vieles sprach für eine astreine Präsenz.

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Benedikt legte wieder auf, weil er sich bei keiner der angebotenen Optionen beheimatet fühlte. Sicher hätte er sich der Leitung VIER, dem sogenannten Staubsauger, anvertrauen können, fand aber, dass in Wedernochsituationen Persönlichkeit gefragt war, die im besten Sinne auch vollumfänglich vorhanden sein sollte. Ausserdem: er hatte sich geduscht, rasiert, gekleidet, gestrählt und duftete: und das sollte nun doch auch bemerkt werden, von den wenigen Bezugspunkten, denen er geneigt war. Und die Überwindungshürden geringer.

Die Hausmeisterin grüsste ihn freundlich, die Haustüre klappte sanft ins Schloss, die Gehwege ebneten sich ihm zu Füssen, die Geschäfte: erst im Begriff zu öffnen, gähnend, wie die Apothekerin – noch nicht ganz in ihrem weissen Mäntelchen. In den Trendwarenläden die Mädchen aber schon und wie immer: „sexy“, wie sie zwangsgelabelt wurden, und aufgekratzt wie Springmäuse. Die rauchenden Juristchen in spe noch nicht im Kreischen ums Aschetöpfchen versammelt, noch im Kampf und Getümmel um die besten Plätze in den Lesesälen, wo man sieht, aber nicht gesehen wird, noch hochmotiviert, grossmäulig nach dem dritten Kaffee, wie man hörte: vom ersten Untergeschosse herauf.

Aus den oberen dagegen, wieder, immer noch der Klangteppich fleissiger Dieselgeneratoren und anderer Techniken, die Rohstoffe in mechanische Akte und Energie verwandelten, die den Laden, wie Benedikt aufs zweite Mal abschätzte, am zappeln hielten, holpernd und tuckernd bisweilen, aber doch stabil.

Der rote Teppich allerdings war verschwunden, oder doch zumindest zur Seite geräumt, befand sich wohl im Austausch, wurde ersetzt, geflickt, gereinigt oder sonstwie aufgepimpt, die Treppenhaut: man sollte sehen, dass hier Veränderung stattfand, dass etwas floss, zum Guten, zu was denn sonst?

So war es auch die Aufgabe freigelegter Marmorplatten, Staub zu fangen, zu verschlieren, Fussabdrücke zu sammeln und zu vernetzen, um zu zeigen: auch hier Bewegung.

Mannigfaltige Bewegung auch in den Vitrinen. Auf Augenhöhe der Zeit und Winzigkeiten darüber verrieten sie den Geburtstag eines Grossschriftstellers mit Pfeife doch Wochen zuvor, gaben Hinweise auf potentielle, künftige Nobelpreisinhaber, waren also Teil des Ganzen, was sich nannte: vor Selbstspannung zitternde, strukturelle und gepflegte Öffentlichkeit, und das beruhigte. Beruhigte auch Benedikt, der gar nicht erst die heruntergeladenen Textbausteine zu den Jubilaren lesen musste, alle waren: mit ihrer Existenz versöhnt.

Was aber war im Katalogsaal passiert? Der Raum hatte sich seit seinem letzten Besuch verlängert. Und verbreitert. Neue Farben angenommen. Neue Gänge und Nischen ausgebildet. Weniger Nischen. An Gewicht verloren. Eine optische Täuschung, wie Benedikt sogleich entlarvte: Man hatte die Regale mit den papierenen Katalogkarten samt ihren Zylindern entfernt. Aufgrund eines „technischen Zwischenfalls“, wie es hiess, waren sie in Mitleidenschaft gezogen worden und befanden sich: woanders, da in solch einer Unvollständigkeit: nahezu unbrauchbar. Stattdessen waren die Raumränder anderweilig nützlich geworden. Waren Unterflächen blinkender Interfaces geworden, die zu locken und zu rufen schienen: Kumm man röwer, ick hebb ‘ne Birn. Oder: Just do it. Oder: Touch me, feel me.. Oder: Alles so schön bunt hier. Mit ihren Standardmasken und kaum zu übersehenden Eingabefeldern und Kohorten von Menues: Hilfetasten. Hilfetabellen. Hilfenummern und Hilfeadressen. Hilfe, wohin man schaute.

Die Person, von der sich Benedikt Hilfe versprach, war hingegen fast schon erwarteterweise nicht vorhanden. Auch die Auskunftsecke hatte sich in etwas anderes transformiert. Ein Beratungspool. Eine vollautomatische Dienstleistungsinsel mit Schnittstellen, Sprechstelen, Shortmessage-Modulen und ortskundigen Avataren, dazu winzige Membrane, die Fragen entgegennahmen oder mit jenen verbanden, wie sie sagten, die Antworten wussten: Auf alles, was Sie wissen wollen. Und wissen wollten es einige, denn plappernd waberte hiervor eine geschlossene Benutzergruppe, in gedämpfter Aufregung – die Auskunft aber: physisch quasi unbesetzt.

Wenigstens an der Ausgabe stelle liessen sie Fleisch an den Dingen. Subordinierte und als solche gekennzeichnete – „Ich lerne noch“ – mit Vornamenkärtchen und steilem Logo, die in gebrochenen Sprachen sprachen: etwas geknickt. Benedikt stellte sich an, und fragte, als er an der Reihe war, schüchtern: Darf ich Sie etwas fragen?

Nein, eigentlich dürfe man da keine Auskunft geben. Eine Auskunft in dieser Form, wäre vielleicht noch am ehesten an dem dort eigens eingerichteten Kompetenzcenter zu erwarten, und Informationen über Interna – man könne sich nicht vorstellen, nein, man wisse wirklich nicht … Anna Wiewardenngleichdername? … Man könne auch gar nicht solch einen Eintrag finden, auch nicht in der Personaldatenbank, wenngleich es da jüngst Löschungen gegeben habe, wie man gerade sehe, aber man müsse ihn nun bitten …

Benedikt konnte aus diesem Winkel auf dem plasmierenden Screen nur wenig erkennen, aber vielleicht hiess es doch hinter diesem Datensatz in einer Tabelle: ausgeschieden.

Der Lehrling klickte das Fenster weg, als Benedikt doch verwegen und immer zielstrebiger über den Counter glitt, wurde unsicher, bitte, bitte wenden Sie sich doch … Ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Informationen dazu … Seine Finger fuhrwerkten unter der hellblauen Platte und fanden, wonach sie suchten, ein Schrillen im Bürobereich war zu vernehmen.

Geschmeidig schwenkten sich zwei bislang unbemerkte Kameras im Hintergrund der Ausgabestelle auf ihn ein und zoomten sich surrend an. Nur wenige Megabyte später eröffnete sich ein Sesam von Schiebetürenhydraulik und ihm drei wohl Bekannte. Der Abteilungsleiter in Festmontur schnaufte mit holzgesichtigen Schergen heran. Noch im Anweg wie Vorwurf auf den Lippen: Sie! Sie kennen wir doch! Sie haben wir doch schon einmal gesehen!