Dranmor VII,2a

(Das Kind)

Es klopft an der Tür. Viertel vor Acht. Ich öffne das Schloss und entsichere die zusätzliche Sperrautomatik des Kabuffs. Der Schaffner, er versucht es auf Französisch, nachdem er merkt, dass ich kein Spanisch spreche. Ich habe mein Frühstück versäumt, er habe schon vor einer Stunde versucht, mich zu wecken. Wir werden das Estación de França in wenigen Minuten erreichen. Böser Blick. Ich entschuldige mich umständlich. Noch ein, zwei Augenblicke also bis zur Einfahrt. Ich beeile mich, räume das wenige Ausgepackte zusammen und stopfe es in meinen Rucksack, meinem einzigen Gepäckstück. Schon seit einer Stunde im halbwachen Zustand das Abwiegen und Durchrechnen, das Entwerfen von Szenarien, wie ich sie und Roman bei der Ankunft aus gesicherter Distanz beobachten, abfangen, mich an ihre Fersen heften könnte. Ich war doch wach? Erneute Zweifel, was hier zu tun sei, was ich mir davon verspräche, wie ein eifersüchtiger Ehemann einem heimlichen Liebespaar nachzufolgen, konnte ich doch erfolgreich zerstreuen. Entschleunigung. Ich spreche seltsame Wörter aus, um zu hören, wie sie klingen. Erhellung, Skandalisierung einer nicht mehr vorhandenen Beziehung, Vergewisserung. Ekel. Wörter für pathetische Schleifen, aber keine für den Urlaub: Dass dies aber kein Urlaub sei, eine Reise eher, die Suche, eine Sucht nach Entscheidungsstoffen, Richtungsvorgaben, die ich selber nicht mehr setzen kann. Traurige Analyse schäbiger Wörter. Ich überprüfe meinen Rucksack ein letztes Mal auf Vollständigkeit, drehe und wende die Stoffdecke auf dem Klappbett, schaue in dem kleinen Spiegelschränkchen nach Hinterlassenschaften und packe auch noch ein in Plastik verpacktes Reisenecessaire mit Waschlappen, von mir unbenutzt, ein. Vielleicht werde ich es noch benötigen. Wir befinden uns unmittelbar vor der unterirdischen Einfahrt in die Station. Bremsen quietschen eisern, Lichter gehen auf dem Gang an, die Bahnsteige, wie U-Bahnhöfe. Ich will den Zug wieder dort verlassen, wo ich eingestiegen war – die beiden würden sicher wieder ihren Ausstieg benutzen. Stillstand. In einem kleinen Stau, einer Menschenschlange am Eingang, ich beginne zu schwitzen. Ein Hitzeimpuls, als sich die Schwenktüre des Zuges öffnet und die Leute hinausströmen. Umständlich, eckig, mit all ihrem Gepäck, das verkantet und nie auf das erste Mal durch die Türe passen will. Ich überspringe eine Trittstufe, lande sicher im Gewühl, ein Körper fängt mich auf, sofort richte ich den Blick auf den Nachbarwagen. Sie zu verpassen würde das Hauptziel der Reise schon zu Anfang verfehlen. Auch hier Säulen, hinter denen ich mich verstecken kann, aber im Strom der Reisenden, umständlich, sperrig, ich werde gestossen und gedrückt.

Sie steigen aus, ich kann Roman beobachten, wie er erst ihr Gepäck entgegennimmt, dann ihr beim Ausstieg behilflich ist. Ein Händehalten an der Bahnsteigkante, verliebte, glückliche Augenkontakte. Die zwei Koffer, zwei Rucksäcke sind aus einer Kollektion, wie ich jetzt erst bemerke. Sie werden von dem Menschenstrom aufgenommen und zur Rolltreppe getragen. Fast automatisch setze ich meine Sonnenbrille auf und folge im Abstand von zehn, fünfzehn Metern, immer etwas geduckt, werde nach oben befördert, hinter ihnen, ihr Blick nach oben gerichtet. Die Rolltreppe mündet in eine freundliche, hell erleuchtete Wartehalle, mit all ihren fremden Sprachen, blendend; oben angekommen versuche ich mich an bekannten Strukturen und Symbolen zu orientieren. Vor allem an ihnen. Zwei Augenpaare mit synchronisierter Zieleinstellung, suchen nach etwas Bestimmtem. Werden sie erwartet?

Kein Informationsstand, keine Anhaltspunkte erster Orientierung, nein, hier kennen sie sich aus. Dann, ihre Koffer fallen zu Boden, Hände schnellen zu Grüssen in die Luft – sie haben jemanden gesehen. Ein ungleiches Paar bewegt sich auf sie zu, beschleunigt. Ein Kind löst sich von der Hand einer Frau und rennt auf die beiden zu, steuert sie an, springt an ihr hoch und umarmt sie, umgreift ihren Hals. Die andere junge Frau, in ihrem Alter, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, das also muss ihre Schwester sein, begrüsst die beiden. Eine Kleinfamilie formiert sich, ein unerwarteter Kern. Ist es denn möglich? Konnte es denn wirklich sein, dass das Kind ihres ist? So mütterlich, wie sie es berührt und umfasst? Das ungefähr zehnjährige Mädchen. Unmöglich, dass sie das Kind behalten hatte. Ich folge ihnen in angemessener Distanz auf den Vorplatz, dort bewegen sie sich in Richtung eines Taxistands. Hatte sie mir all die Jahre die Existenz dieses Kindes vorenthalten? Eines Kindes, dessen Vater ich möglicherweise war? Sie beladen ein Taxi mit ihrem Gepäck, steigen ein und fahren los.

Ich bleibe konsterniert zurück. Etwas Stoff, ein Kleidungsteil verfängt sich an meinem rechten Schuh, nimmt für kurze Zeit meine Aufmerksamkeit in Beschlag. Ich schüttle es ab. Zurück bleibt ein dunkler Fleck. Ich fahre in Hosen- und Jackentaschen, um nach einem Taschentuch zu fahnden, werde schliesslich fündig. Beim Herunterbeugen weicht ein Bein aus, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Mir wird etwas schwindelig und ich muss mich wieder aufrichten. Die Füsse tragen weg, um ein Einsacken zu verhindern, dem Sonnenstand entsprechend nach Osten. Häuser. Eine Zeile erst, dann zwei, drängen sich mir auf.