Bitte warten

(E8)

Das Imaginäre. Das Spekulative. Das Absurde. Die theoriebildenden Kanäle. Benedikt war verwirrt, als er sich noch einmal all die unterschiedlichen Ausschnitte vorgenommen hatte. Wie sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Klarheit in die Begrifflichkeiten, in ihre Unterscheidung, in die einzelnen Ansätze bringen. Schrieb der eine Autor über dieses, meinte er aber auch jenes, unter Ausschluss wiederum eines anderen. Ein anderer sah im anderen dieses und in jenem ein Tertium, das er in eine Fussnote verdrängte. All die Konzepte theoretischer Bibliotheken also solcher, die es – nach Benedikt – nur auf den Vorstellungsflächen eines Lesers zu besichtigen gab, wurden nur mit einem mehr oder weniger starken Vielleicht, nicht nur in ihrer Umsetzbarkeit, nein, sogar in ihrer Versteh- und weiter: Vermittelbarkeit bestimmbar. All diese Gebilde hatten nur eines gemeinsam: eine sprachliche Ursprünglichkeit, an der jedes andere Medium zu knabbern hatte.

Benedikt erinnerte sich an einen kleinen Abschnitt, den er innerhalb eines Kapitels seines ersten Romans platziert hatte. Es war eine Art Miniphilosophie des Vielleicht, und er hoffte nun, dass er dieses vielleicht plündern konnte, dass er das dort einmal Gedachte, herübernehmen konnte und auf der seltsam abgesteckten Fläche, einer kaum umrissenen Karte der paar Wörter, die er bald immer weniger verstand, auswalzen konnte, als Backmasse, die einen soliden Boden abgeben würde, die er dann vielleicht mit einer selbstgefundenen Bezeichnung nur noch auszustechen hatte.

Alles Suchen war erfolglos. Weder auf seiner Festplatte fand er etwas, das ihn über den Titel zu diesem Abschnitt brachte, noch ein Retrieval mit einer Suchmaschine, die er über seine Internetseite auf die er all sein Geschriebenes spiegelte, gleiten liess, machte ihn fündig. Eine Abfrage mit dem Wort „vielleicht“ ergab ihm, schien es, dagegen eine unendliche Treffermenge, die er nicht einmal in einer Schnelldurchsicht bewältigen wollte.

Dann schaute er auf die Uhr. Schon Zwölf vorbei. Er hatte den ganzen Vormittag durchgebracht ohne auch nur einen Satz zu Papier zu bringen. Und was er in die unzähligen Formularfelder eingegeben hatte: alles vergessen. Er war an einem Punkt angelangt, an dem seine Suchhistorie, wie er sich nun vorstellte, selbst den Umfang eines Romans haben musste und belustigte sich auch sogleich über diese Vorstellung. Eine Suchhistorie zu einem Romanthema selbst als Roman auszugeben, wie es in jüngerer Zeit wohl durchaus möglich geworden war, nachdem ein Roman denn fast alles sein konnte, was eine gewisse Zeichenlänge überdauerte und die Entwicklung seines Inhalts – eine Frage der Dechiffrierungskompetenz – nun schon seit langem in die Verantwortung seines Lesers übergegangen war. Ein netter Einfall. Aber Benedikt genügte es in diesem Moment so etwas Nettes gedacht zu haben und beliess es damit und strebte nicht etwa seine Umsetzung an, nach der Abwägung kategorischer und anderer Imperative: er selbst würde dies nicht einmal lesen wollen.

Dann öffnete er eine Flasche Bier, denn es war ja schon zwölf vorbei und liess Luft in eine Dose Wasabi.

Bibliotheca caelestis war der seltsame Titel, den er dann nach weiterer, etwas lustloser Recherche im Onlinekatalog der Bibliothek fand. Er war eigentlich per Zufall auf diesen Eintrag gestossen, wie, das konnte er sich nun im Nachhinein nicht mehr erklären. Vielleicht, weil er auch den Untertitel Versuch über die Unmöglichkeit einer Ordnung enthielt, und ihm nach Ordnung, zumindest im Moment zumute war.

Das Indexat enthielt noch keine Sacherschliessung und auch im Standortfeld fand er nur die dürftige Information: in Bearbeitung.

Um weitere Auskünfte darüber zu erhalten, denn Benedikt hatte es sich nun partout in den Kopf gesetzt, darüber Näheres in Erfahrung zu bringen, und offensichtlich war auch dem gesamten Internet dieses Buch ein Fremdes, rief er auf einer Zentralnummer an, die ihn aber nur mit einer ausweichenden Antwort eines Automaten beunfriedigte. Schnell trank er noch ein weiteres Bier, dann machte er sich erneut auf den Weg in die Stadt, liess alles stehen und liegen, fertigte aber schnell noch einen Bildschirmausdruck seines Funds an. Er wollte ja nicht wieder mit leeren Händen dastehen.

Heute kam es ihm so vor, als wäre noch viel grösserer Betrieb und die Summer der Checkpointkonsolen am Eingang in pausenlosem Einsatz, die Schlangen vor den Ausgabestellen und Terminals, mit zuckenden Schwänzen, eine Geraune wie vor Vorstellungen üblich, bei denen lange nicht gesprochen werden durfte. Verbitterte, frustrierte Fassaden, schubweise Hektik, Zwischenrufe, Insultationen, Hände in Nebenhänden, das Lesen im Lesesaal verunmöglicht, ein Schild am Eingang des Katalogsaals: Entschuldigung, ein Serverausfall, man arbeite daran, danke.

Benedikt machte sich gar nicht erst die Mühe, sich in einen langen Wartepfad einzureihen, sondern ging direkt, beschwingt wie er immer noch war, wieder quer durch den Saal in Richtung des kleinen Kabuffs, worin er Hilfe hoffte.

Auf sein Klopfen erhielt er keine Rückmeldung, auch nicht auf das kunstvoll synkopierte oder war es nur in diesem Gewitter untergegangen? Er wollte es ein letztes Mal probieren, erntete aber verständnislose Blicke, dachte er, von Seiten der aber vollständig eingebundenen Bewirtschafter, die sich aber allesamt schnell wieder an das Ausfüllen von Kärtchen machten.

Mit dem Ohr an der Türe konnte er sich aber dennoch etwas Zugang verschaffen. Konnte ihre Stimme, die das gesamte Betriebsgeräusch in eine stumme Kugel zu bannen vermochte, hören, die einfach nur: lieblich war und eine andere Umschreibung ihm gerade nicht zupass – , wenn auch etwas unter Druck geraten. Er presste die Klinke nach unten, sie gab ihm gerne nach. Anna schien sein Erscheinen gar nicht zu bemerken, so intensiv kümmerte sie sich um ihre Klientel am anderen Ende der Leitung. Erst als sie diese unter vielmaligen Vertröstungen verabschieden konnte, blickte sie auf und erschrak ein wenig.

Als auch die zweite Leitung zu glühen begann und ein Wortwechsel mit ihr verunmöglicht wurde, stellte Anna mit ein, zwei entschlossenen Tastenkombinationen die penetrante Belästigung auf lautlos, sodass lediglich ein paar nervöse Lämpchen von prallgefüllten Pipelines kündeten, und wendete sich Benedikt zu, gar nicht erbost, dass er hier unerlaubt hereingeraten war, sondern fragte ihn, geschäftsmässig freundlich allerdings, wie ihm denn zu helfen sei.

Benedikt bedankte sich höflich dafür, dass sie sich ihm widmen wollte und legte ihr den Ausdruck vor, schob nach, ob er denn Einsicht in dieses rätselhafte Werk erhalten konnte, sobald es denn bearbeitet worden war.

Anna errötete schlagartig, nachdem sie den Eintrag gesehen hatte. Dann wand sie sich umständlich und versuchte ihm den komplexen Durchlauf eines Buches in dieser Institution zu schildern, wie es von seiner Bestellung bis hin es zu seinem ersten Benutzer gelangte, wie man die Leser hier nannte, worauf sie stockte, als sich hinter Benedikt die Türe öffnete und ein Vorgesetztengesicht abzeichnete. Anna, sagte es kurz und machte eine Brauenbewegung, um sich dann wieder zurückzuziehen. Es erzielt eine Wirkung. Anna versuchte sich kurz zu fassen. Ich kann jetzt wirklich nicht, und: es liegt bei diesem Fall etwas anders. Dann hielt sie erneut inne. Das Buch, das Sie da suchen, setzte wieder an, es ist tatsächlich noch nicht vorhanden, es ist vielmehr wirklich „in Bearbeitung“. Und: sie könne noch nicht einmal ungefähr sagen, wann man es denn greifen könne, ach, flüsterte sie nun beinahe: ich will zu Ihnen ehrlich sein. Ich habe es.

Aber ich kann im Moment beim besten Willen nicht mit Ihnen darüber sprechen. Nicht hier. Benedikt war unangenehm berührt, dass er mit seinen Wünschen Anna offensichtlich in Schwierigkeiten brachte. Ich kann warten, meinte er schliesslich, und: es eilt überhaupt nicht, und: es wäre nur schön, könnte man mich benachrichtigen, sobald es zugänglich wäre. Er verspräche sich doch soviel davon, fügte er hinzu, von seinem Titel, denn mehr kannte er ja noch nicht, oder noch eher: von seinem Untertitel. Und dass er eigentlich nie so unverfroren gewesen, ja, dass es seiner Persönlichkeit sehr zuwider läge, sich so in Stellung zu bringen … Dann entpackte er ein Kräuterbonbon, als er auch seinen Atem für unangemessen befand und nahm dieses ein. Und: ja, es sei ein Thema, das ihn gerade brennend beschäftigte und er war gerade: irgendwie in eine Sackgasse geraten.

Anna begann gerade etwas aufzutauen, da tauchte wieder der Kopf des kahlen Herren auf, nun mitsamt Oberköper, der in ein kariertes Jackett gefasst und von einer grünen Krawatte zusammengehalten wurde. Anna!, gab er – nun noch etwas bedrohlicher – von sich, um ebenso wiederholt, einer Kasperlpuppe nicht unähnlich, ins Jenseits des Vorhangs zurückgeholt zu werden.

Wissen Sie was?, beendete Anna nun das Gespräch und reaktivierte das Klingeln der Sprechanlagen. Wenn Sie unbedingt etwas darüber erfahren möchten, dann finden Sie mich heute Abend im Güldenen Falken. So um Sieben. Wissen Sie wo das ist?