Dranmor I,1b

(Taktlos)

Was ich über mich erzählt hätte, hat er mich gefragt, bei diesem Vorstellungsgespräch – bei meiner Vita. Ja, er hat tatsächlich das Wort Vita benutzt. Nicht viel, habe ich entgegnet. Ich hätte mehrheitlich einfach geschwiegen. Ich schweige nun öfter, ich habe glücklicherweise geschwiegen. Zu oft haben andere sich schon in peinlichen Psychologisierungen versucht. Verstiegen. Ein paar Mal wurde es mir dann zu bunt und ich packte aus und fasste zusammen, immer darauf bedacht in alles Gesagte einen genügend ironischen Ton zu legen, um mich notfalls wieder zurücknehmen zu können. Dann das immergleiche Echo: Es wären Folgen einer Demütigung, mehrfacher Demütigungen gewesen, die zu dieser Ort- und Orientierungslosigkeit, ja, zu diesem entschlossenen Abstreiten von allem, was Ort sein könnte, getrieben hätten.

Die professionelle Hilfe, die ich Anfang meiner Zwanziger in Anspruch nahm, zu deren Inanspruchnahme ich gedrängt wurde, wie ich jetzt denke, – ich weiss nicht mehr, wie es damals genannt wurde – vielleicht wurde das Wort Stabilität gebraucht, und Wirklichkeit, von Wirklichkeit und Realität war eine Zeit lang die Rede, bis ich dann zum zweiten Mal aus meinem Elternhaus ausgezogen bin. Wieder in einer Nachtundnebelaktion, und damit Nacht und Nebel vorerst beendete.

Das “intakte Umfeld”, ein Begriff, der von mir immer wörtlich genommen wurde, wie der Marktplatz mit seinen mittelalterlichen Fachwerkhäuschen, und die Kirche mit der sensationellen Freitreppe. Dem Reihenendhaus mit kleinem Garten, für das sich der Vater beinahe tot geschuftet hatte. Die Mutter, die sich in und an dieser Idylle beinahe zu Tode soff, dann aber irgendwann mit einem anderen durchbrannte, die Klassenkameraden, die ich heute nur noch Schweine nenne. Der Unfall meiner Schwester. Ihr Kampf zu Tode, meine erste Toderfahrung. Hätte ich erzählen können. Teile an den Rändern der intakten Welt. Fremdkörper im Begriffsapparat derjenigen, denen ich nacheifern sollte. Bestimmt kein Einzelfall.

Intakt war das Andere – damals mit vierzehn, und schwang rhythmisch, pendelte in geregelten, in regelmässigen Abständen sich gegen mich ein – dachte ich eine Zeit lang. Die Sache mit der Klavierlehrerin (wir konnten sie uns sowieso nicht leisten). Der Ausschluss aus dem Sportverein. Ich betrachte das nun im Nachhinein als Wohltat.

Ich habe Buch geführt, habe in einem Heft zwei Spalten angelegt, die eine dann gefüllt mit Dingen, die vollständig und intakt waren, die wie selbstverständlich einen Ort hatten, über der anderen stand ICH, ein paar Dinge darunter, halbe Sätze, Wörter, die falsch geschrieben waren, auch an diese kann ich mich nicht erinnern. Das, hatte man mir geraten, sollte ich einmal in einer ruhigen Minute tun.

Der Vater dann arbeitslos, die Schulden, die betrunkene Mutter weg mit einem Brauereibesitzer, der konnte ihr wenigstens täglich fünf Biere auf den Tisch stellen.

Ein Frage der Zeit also, bis ich zu ersten Mal raus musste, aus dem Reihenendhaus mit kleinem Garten. Hinein in das besetzte Haus. Lustige Leute. Viele Partys. Die Drogen hatten mir nicht so bekommen. Das übliche, was sollte man erzählen? Auch das eine Regelmässigkeit. Das Krankenhaus. Der Entzug. Der übliche, der so als üblicher Weg gedachte Prozess – hundert Mal beschrieben. Hundert Mal scharf beobachtet und ausgeleuchtet und als symptomatisch diagnostiziert. Die Resozialisierung (heute lache ich darüber, weil sie ja eine Sozialisierung voraussetzte) – wieder bei Vater, in dieser kleinen Stadt gab es keine Möglichkeit einer alternativen Unterbringung, sollte man meinen. Wir beide sollten resozialisiert werden, gemeinsam, darum kam auch täglich Unterstützung vom Jugendamt, die uns erzählte, was nun wirklich und real, und vor allem, was als intakt zu bezeichnen sei.

Ein Ausbildungsplatz. Endlich! Alle atmeten auf. Ich würde Geld nach Hause bringen und nicht auf dumme Gedanken kommen. Ich hielt drei Jahre die Luft an. Ich war nicht der einzige. Dennoch hatte ich damals das Gefühl, eine ganze Generation hielt die Luft an, zu dieser Zeit. Auch heute der Eindruck: Eine bestimmte Generation hat drei Jahre die Luft anzuhalten. Eine Form der Normalität, die mir nicht behagte, aber, immerhin, ich biss die Zähne zusammen und zeigte, dass ich die Luft anhalten konnte, solange bis alle aufstanden und klatschten. Dafür, dass ich so lange wie vorgesehen, wie von ihnen vorgesehen und wie es einem bestimmten Bild entsprach, die Luft anhalten konnte, wurde ich belohnt.

Nachdem ich also kurz vor einer Bewusstlosigkeit und mit hochrotem Kopf wieder ein- und ausatmen durfte, und in meiner Hand ein Zeugnis zitterte, die Einsicht, dass der damalige Ort nicht mein Ort war, dass es vielleicht gar keine Orte gab. Nein, so weit war ich damals mit dreiundzwanzig wohl noch nicht, aber immerhin einsichtig genug, das Städtchen mit seinem Marktplatz, seinen Häuschen, Klassenkameraden, Eltern, wohlgesonnenen Erziehern und Psychologen und anderen Intaktheiten zu verlassen. Bei Nacht und Nebel in einem August. So hatte ich das schon mehrmals zusammengefasst. Danach musste ich immer zu lachen anfangen, und, was soll ich sagen, ich lachte aus vollem Ernst.

Ich steige aus der Tram und biege in meine Strasse ein. Adrett, die Häuschen im Schönsteinweg. Ich habe gegenüber Roman zu diesem Detail geschwiegen. Ich habe nichts verschwiegen, denn es ist nur zur Hälfte wahr. Ich stehe vor meiner Haustüre und frage mich, ob ich wieder am Anfang gelandet bin. Die Halbwahrheiten in den Wahrheiten, die alles verderben, und nichts mehr bleibt.