Dranmor II,1e

(Spuren)

2 / Wir trafen uns nun öfter. Es zeichnete sich schnell ab, dass wir immer noch sehr kompatibel waren, ähnliche Dinge lasen, einen ähnlichen Humor pflegten. Wir tranken gerne. Ich habe aber immer mehr vertragen als er – wenn bei einem unserer Ausgänge sein Zustand kritisch wurde, fing er an, Wasser zu trinken. Wir lasen Lyrik, von dieser Sorte gab es nicht mehr allzuviele Leute, liessen uns sogar über Newsletterdienste mit neuen Informationen über die unübersichtliche Szene versorgen. Wir schrieben beide lyrische Fragmente und kümmerten uns schon lange nicht mehr, um Veröffentlichungsmöglichkeiten.

Er hatte mir geschrieben, er habe eine Lyrikmail bekommen mit einem Gedicht eines gewissen Dranmor, ob ich sie auch gelesen hätte, ob ich schon mal etwas von ihm gehört hätte. Er selber habe etwas recherchiert und so gut wie keine Informationen bekommen. Eine ganz heisse Spur, wie er sagte, ein aufregender Lebenslauf, er würde sich ein bisschen um ihn kümmern, und, wer weiss, vielleicht etwas über ihn schreiben. Wie verhalte ich mich dazu? Ich kann nun nicht den Ahnungslosen mimen, muss ich ihm mitteilen, dass ich mich nun auch an die Fersen Fernandos geheftet habe. Ich finde seine Gedichte eigentlich langweilig, nichtssagend, formal und inhaltlich unoriginell, aber Vetter, Roman kennt bestimmt noch nicht den Vettertext, den ich durch einen Verweis in einem abseitigen Zettelkasten gefunden habe, der hymnische Chronist würde mir schon einen gewissen Vorsprung geben. Und dann die mehr als mysteriösen Andeutungen zu Dranmors Ende … Eine spannende Figur, aus ihr liesse sich etwas spinnen, eine Kriminalerzählung vielleicht, oder eine tödlich-traurige Liebesgeschichte, eine Erzählung eines allmählich werdenden Wahnsinns. So etwas in diese Richtung vielleicht. Roman wird sich auf seine Liebesgedichte stürzen – er war schon immer der emotionalere von uns beiden. Oder war das eine Masche? Mit seiner weichen Art, seiner modernen Minnerhetorik war er aber ganz sicher erfolgreicher bei Frauen als ich. Das hatte ihr Beispiel gezeigt. Möglicherweise hatte ich die Sache mit ihr und mir, und ihr, die dann zu ihm ging doch noch nicht vergessen. Es war Schnee von gestern und es ging damals am Ende gar nicht mehr um sie. Es ging um die Bedingungen der Möglichkeiten des Anstands, wie ich dachte – ich war der grössere Idealist, und schlecht im verzeihen. Schnee von gestern, zehn Jahre alter Schnee. Schmutzig, unsichtbar, unterirdisch, subkutan.

Ich weiss nicht viel von Dranmor, aber ich werde ihn mir aneignen. Werde ihn zu meiner Figur machen. Er wird leben und schlimme Liebeserfahrungen machen. Er wird ins Ausland gehen und dort unglücklich sein, zu saufen anfangen, sich mit Frauen herumtreiben, sich beinahe umbringen. Solche Dinge. Die wenigen biographischen Texte, die ich habe, müssen konsequent gefälscht werden. Er wird zurechtgebogen und zurechtgelogen werden und nichts wird auf diese Person hinweisen, mit der Roman meint sich zu beschäftigen. Dranmor, Roman, Random. Rand, Mord, Darm. Da ist Spiel. Da ist Variation. Da ist Fläche.

Ich sitze am Schreibtisch, der Bildschirm flackert und es ist noch keine Zeile geschrieben. Keine Zeile von mir, ein paar von ihm. Schlimme Liebesgedichte, kreuzreimig, paarreimig. Er ist nicht auszuhalten. Ich werde ihn für mich umschreiben müssen, damit ich ihn lesen kann. Damit ich ihn einigermassen verstehen kann. Hätte ich nur Rilke ausgegraben. Vielleicht ging es ja nur um das ausgraben. Erster zu sein, etwas zu sehen. Etwas zuerst sehen. Das war hier nun völlig ausgeschlossen. Tausende hatten jene Mail bekommen und sie zur Kenntnis genommen. Geöffnet, überflogen, gelöscht, oder in einen Ordner verschoben. Dranmors Versen wurde ein kurzes digitales Aufblitzen gewährt, ein paar hatten sich vielleicht Gedanken gemacht, über seinen Namen, seine seltsame Vita. Das wars. Nein, Roman hatte schon recht. Das war ein Stoff. Wenn es kein Stoff war, was war es dann?