(Koffer)
In meinem Hörbuchkoffer wird es eng. Dort verdichten sich Anderswelten, an Wochenenden, wenn ich alleine bin. Ich kopiere Lesungen von Büchern und sammle diese manchmal höre ich sie mir auch an. Ich kopiere gerade und kann deshalb nicht hören. Seit Stunden, achtzehn CDs von Swanns Welt und frage mich, wann ich Zeit finden soll, diese zu hören, wenn noch nicht einmal Zeit da ist, zu lesen. Das eine als Ersatz des Anderen. Als Variante der Aufnahme. Als Dieb. Das Pendeln zwischen Computer und Küchentisch, auf dem leere Blätter liegen, und noch nicht einmal klar, deren Befüllung.
Ich habe fast vergessen, warum ich alle Heizungen hochgedreht habe. Nur das Raureif des Rasens im Garten vor dem Fenster erinnert mich ein wenig. Die Klimata: Aussen Nordpol innen Brasilien. Welten da und dort. Die Fragen des Daseins und Dortseins bei Dranmor sind offensichtlich. Der Apodemialgiker, hätte man früher vielleicht gesagt, der um sein / Leben wandert / schon nicht / mehr gerne da / ist / nur noch vor Ort //.
Dagegen spricht, dass er es lange in Rio ausgehalten hat, in Paris, aber nicht in Basel oder irgendwo in Österreich. Die Reise wurde sein Ort, schätze ich. Die Reise und das Grab ein schönes Thema und das Grab als Reise zum Grab, ein anderes. Grabreiseleben. Das nur, weil er so gerne Schöngeist gewesen wäre? Weil er gegen seinen Willen zum Geschäftsmann gemacht wurde? Ich verstehe, dass nur die Flucht ins Ausland blieb. Ich verstehe das zu gut, auch wenn der Vater schon lange tot war; das Gesetz des Vaters wirkte weiter. Ich lege eine neue CD ein und starte die Brennroutine.
So entstehen Koffer. So werden Koffer gesucht und besorgt und das Leben zur Reise. Irgendwo, am Ende deiner Zeit, vielleicht ein Gral. Oder eine goldene Medaille. Aber bald die Einsicht: Die Welten sind nicht hier, sondern immer woanders. Ich stelle mir einen grossen Überseekoffer vor, vielleicht auch zwei oder drei, er stammte immerhin aus einer wohlhabenden Familie. Ich stelle mir vor, dass er nur wenige Kleidungsstücke hineinlegte. Ein paar Paradehosen vielleicht. Ein paar Hemden und eine Jacke mit obskuren Orden. Aber sonst: viel Briefpapier, wahrscheinlich. Schreibzeug. Ein Koffer, mindestens, bis zum Rand gefüllt mit seinen geliebten Klassikern und Romantikern. Mehr Romantiker. Das Kreuzundquer, darin, und die Hoffnung, sich selbst einmal dort hineinzulegen. Das war sein eigentliches Ziel.
An Samstagmorgenden beobachte ich das langsame Schmelzen des Raureifs an grünen Halmen. Noch langsamer, als die allmähliche Auflösung des Eiswürfels in meinem Glas. Zu früh, zu schnell, zu dünn wandelt sich dann das sirupartige Getränk. Andere Dinge lösen sich auf darin. Ich höre genau hin, wenn ich die gebrannten CDs noch einmal überprüfe. Ihre Qualität ist mir wichtig. Wenn das nachgeworfene Eis plötzlich springt, sich mit einem leisen Knacken halbiert, entgeht mir auch das nicht. Ich höre solange genau, bis sich das Hören mit Watte befedert. Dann ist wieder Zeit für einen kleinen Schlaf. Ich achte auch auf die Qualität des Schlafes.
Ich kann nicht mehr Autofahren. Die Strasse verschwimmt an den Rändern und ich halte an. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Flasche Wasser. Wer hat sie da hingelegt? Ich trinke hastig, zittere, schalte den Motor ab. Leichtes Nachzittern, dann verstummen. Weil ich nicht soviel trinken kann, wie ich schwitze, habe ich Angst, ich trockne aus. Warum stehe ich auf einer Strasse, an einem Strassenrand? Ohne Führerschein, ja, ohne Auto? Wo liegt dort der Sinn? Der Sinn liegt immer auf der Rückseite der Dinge, also steige ich aus und bewege mich über gefrorenes Gras. Ich habe das Warnblinklicht nicht angestellt, aber es ist hell genug, das Schlüsselloch zu finden. Ich öffne den Kofferraum. Gottseidank, es ist noch alles da. Alles, überdeckt mit einer dünnen Sporenschicht. Alles ist an seinem Ort.