Dranmor III,1b

(Atomium)

Er habe nicht viel Zeit, habe noch eine Verabredung, über die er aber nichts genaueres sagen wolle. Aber schön, dass ich vorbeigekommen sei. Damit habe er nun wirklich nicht gerechnet. „Gläschen Sekt?“, fragt er mich, nachdem ich meine Jacke an einen scheusslichen Kleiderständer gehängt habe – eine altgetrimmte Stahlinstallation, harte Knicke, an anderen Stellen wieder weich gebogen. Schweissnähte. Am Ende verschiedener Stangen: Eisenkugeln. Atommodell?. Ich zucke mit den Schultern. Das Modell heisse Atomium III. Ein Objekt aus einer Serie eines befreundeter Schrottkünstler, erklärt er ungefragt. Ein Geschenk. Nein, ich finde es weder nett noch hübsch, auf die Frage „Nett, nicht?“ – versuche aber eine freundliche Geste in mein Gesicht zu zwingen. Versuche anerkennend zu wirken. Das Gläschen Sekt nehme ich gerne, nach den angebotenen Zigaretten, Mary Longs, greife ich ohne zu zögern. Habe ich Maria zum Abschied gegossen? In ihrer hydrokulturellen Umgebung dürfte sie es wohl drei, vier Tage ohne mich aushalten. Ob sie gemerkt hatte, dass ich plante, blau zu machen? Auch Wilhelm August sah mich etwas skeptisch beim Verlassen des Raums an. Wir stossen an. Auf. Auf … Auf uns, schliesst Roman den Satz. Er habe sich gut eingelebt. Er sagt: Etabliert. Nach so kurzer Zeit, nach so wenigen Wochen schon. Die Leute seien sehr freundlich, er werde oft eingeladen, bekomme auch Besuch. Darum hätte er heute nicht viel Zeit. Sei auf dem Sprung, um ehrlich zu sein. Aber wir würden uns ja schreiben; das müsse man unbedingt beibehalten. Wie es mir ginge? Ich erzähle ihm von Maria, Wilhelm August und einen Pilz, den ich für den Verlust meiner kleinen Hausmeisterstelle verantwortlich machte. Versuche ironisch zu klingen. Er rollt mit den Augen; denke ich eine Sekunde lang eine Grimasse zu sehen. Er unterbricht mich. Ich langweile ihn wahrscheinlich. Seine Unkonzentriertheit sorgt für Unruhe bei mir. Eines seiner Augen flattert. Er blinzelt auch. Mein Blinzeln, die Unruhe meiner linken Gesichtshälfte haben sich aber verflüchtigt. Die Bildschirmschoner an den Arbeitsplätzen zeigen einen Lauftext. Zeitlich versetzt die Botschaften an den Informationstheken entlang der Wände. Ich kann sie aus der Distanz nicht entziffern, die Buchstaben und Nummern, wende mich Roman ab und ihnen zu. Phrasales Neusprech, soviel ich erkennen kann. Terminologie, die viele Buchstaben verbraucht, aber nichts bezeichnete.

Roman hat sich angeschlichen und steht wieder neben mir, die Flasche zum Nachschenken angewinkelt. Erst ziehe ich meinen Arm zurück, gebe aber dann seinem Insistieren nach. Er stellt die Flasche auf ein grosses Registraturmöbel ab, öffnet eine Schublade, kramt darin und holte ein Buch hervor.

„Hier, für dich. Für deine Sammlung. Du hast doch noch mit Büchern zu tun?“ Eine Anthologie. Ein Text von ihm wurde darin publiziert. Er habe einige Freiexemplare erhalten und verteile sie nun an Freunde und Bekannte. Das Lächeln an seinem haarigen Mund. Er plustert sich ein wenig, nimmt einen grossen Schluck aus dem Glas, leert es, schaut auffällig unauffällig zu meiner Jacke am Atomium III. Ich verstehe, er muss. Er müsse nun und ich nicke wieder, stelle das Glas ab und gebe die Dekodierung des Bildschirmschoners auf. Ein Ionengriff. Wie freundlich, er will mir in die Jacke helfen. Ob ich ein Taschentuch bräuchte. Er versprach sich, wollte Handtuch sagen. Nein, es gehe schon. Das Buch, ja das Buch. Ich müsse versprechen, es zu lesen, zumindest seinen Beitrag, er würde mich das nächste mal darüber abprüfen. Beim Lachen sehe ich seine gelblichen Zähne. Einem Schneidezahn ist eine kleine Ecke abgebrochen. Dass ich auch schreibe, bislang erfolglos, will ich ihm noch sagen. Dass ich gerade an Etwas schreibe, versuche ich es erneut. Das glaube er gerne, seine Antwort. Das passe zu mir. Das nächste Mal, dann. Wir hörten voneinander. Als ich wieder in der kleinen Altstadtgasse stehe, drückt das seltsame Gefühl eines Ausbleibens. Auf der ganzen Fahrt nach Hause kann ich das krampfhafte Erinnern, ob die Eingangstüre eine Glocke hatte, nicht ausschalten.