(Pilzgeschichten)
Ein Blättchen. Ein Album. Zeitungspapier. Ein Blick auf einen Veilchenmeister im Feuilleton. Das Retabel des Heiligen Antonius Abbas – das Mittelbild. Aura um den Heiligen. Das doppelgestrebte Kreuz und ein Buch auf dem Schoss. Allegorie für Gedächtnis und Glaube. Eine Magazingabe eines Archivs, das noch vor Schrift strotzte, auch wenn es gemalt, mit Farbe gezeugt wurde. Kräftige Farbe: Ein Schwein zur Fusslinken des Heiligen, in Bewegung, eine Glocke am Ohr, mit einer Knoblauchzehe spielend. Knollenwesen. Ich stelle mir ein Läuten als Grundierung vor. Im Hintergrund in der Ferne: Festungen, Ortschaften, romantische Natur. Ein kleiner, lockiger, kniender Knirps zu seiner Rechten. Seine Feuerhand will das Buch entzünden, vielleicht. Oder gar den ganzen Heiligen. Könnte ich es doch beschreiben. Es will nicht. Aber ich. Ein feuerrot knorpeliger Kerl, daneben, mit Hörnern an Kopf und After. Schlangen aus Ohren und After – blickt nach vorne und nach hinten und hat, obwohl er lächelt, nichts Gutes im Sinn.
Die Schlangenzunge als Darmfortsatz scheint einen unbescholtenen Fischer in der Ferne zu lecken. Glocken. Symbole und Allegorien überall.
Ich versuche es zu beschreiben, mir eine Beschreibung auszumalen. Sehe aber Glocken, wo Pflanzen sind, sehe gaffende Beobachter in Baumreihen, sehe einen Vorhang, wo ein langer, grauer Bart ist, vermute einen Narren, wo der Teufel sitzt. Ein Veilchen unter einem anderen Schwein ist kein Veilchen, nicht einmal eine Blume, sondern ein Pilz.
Seit langem das Gefühl, die Wahrnehmung der Dinge stimme nicht. Das Aufnehmen als Mykoseprozess. Das Erinnern wird zum Pilzverfahren. Lieblose Legendenbildung aus entschraubten, zerfledderten Realien einer verlassenen Natur. Gottverlassen.
Blumengeranke um das Bild. Ein weiteres Objekt einer Zurschaustellung darunter. Rapunzel aus dem Kiefernwald. Stahl. Gips mit blonden Haaren und einer Strickleiter. Die Leiter führt direkt in ein imaginiertes Himmelsareal, so der Begleittext. Ich kann keine Leiter erkennen – die Unschärfe und Körnung der Abbildung lässt es nicht zu – kein langes, blondes Haar über ein Brautkleid geworfen. Ich glaube einen geölten Trichter im Kopfstand zu erkennen, eine Wohnzimmerlampe, ein Megaphon, das auf Schreie wartet – im Hintergrund, eine Zäsur, Kante, Farbkontrast – nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Ist es eigene Schuld, wenn zu Dranmor nichts einfällt? Dann wiederum ist es eigene Schuld, wenn nicht das an- und aufgenommen wird, was ich sehe und es so festhalte, wie ich es sagen würde, wie ich es nehme: als Pilzfigur. Etwas Kaffee schwappt über den Faszikel, Buchstaben zerfliessen, Unlesbarkeit kurze Zeit dann nachdrückliches Wiedererscheinen. Im Bund, in seinem Falz wird er abgeleitet, abgeführt, aufgesogen. War das Waldleben? Geheimes Leben der Pflanzen, Tannhäuser, Frauen der Antike, Erinyen, tausend blühende Blumen weinen braune Tränen. Berenice. Alles Pilze. Verwandelte Formen des Einen. Ein Schlagwort.
Ich nähere mich vorsichtig meinem Regal, hätte es umrundet, stünde es im Zentrum des Raumes. Ein Ordner ist etwas, das Ordnung garantieren sollte, dabei ist es nur Gehäuse, Haut weiterer Unordnung. Und so weiter. In diesem Ordner vielleicht.
Die alte Magazingeschichte ist eine Pilzgeschichte. Ob ich sie noch finde? Vielleicht liesse sie sich umschreiben. Nicht paraphrasieren. Beispielsweise einen Namen austauschen. Ein verstellter Satz ergibt oft einen ganz anderen Roman – wie die Negierung einer Aussage ein Leben auslöschen kann oder ein verstelltes Buch in einem Magazin die Geschichte neu schreiben will. Ein altes Verfahren, noch älter als das Magazin. Wirkungsvoll wie der Kaffee auf einer Zeitung, der Buchstaben verblassen lässt, dann neu befüllt.
Ich erhebe mich, meine Knie knacksen dabei geräuschvoll, und ziehe meine Hose aus, werfe sie durch die halbgeöffnete Badezimmertür – warum brennt da noch Licht? – suche nach einer anderen. Es ist keine zu finden, also gehe ich halbnackt zurück in das Zimmer mit dem Sofa und blättere in dem Hefter mit der Aufschrift: Albumblätter, Miszellen IV.