Dranmor IV,1a

(Reisebildstudie)

Der Tag vor acht Tagen. Vier Fenster in Folge, nebeneinander, wie ein Ausschnitt eines Filmstreifens, ein Fetzen Zelluloid. Kino. Aber nicht die Bilder laufen. Es läuft, fährt hinter den Bildern, hinterher, in grosser Schnelligkeit, hinter jedem Bild derselbe Film. Eine Baumkette wird Strich, Bergkette Linie, ein See unruhige Fläche. Ich musste mich an den Rahmen halten und ein Bild fixieren. Buntes Strahlenbild – gegen Abend graue, dynamische Struktur. Eine Strassenlampe bei den Gleisen: Komma der Erzählung, Riss in der Landschaft flüchtender Geraden. Ein krummes Anliegen. Wieviel langsamer, wieviel kantiger die Wahrnehmungen in Postkutschen, auf Schiffen, die aus den Häfen ausliefen, oder zu Fuss die Wahrnehmungen waren? Die Bezeichneten: es war Natur – was sonst?; mussten ein anderes Geständnis, Zwangsprodukt, Gedicht, wenn es denn gemacht werden musste, ergeben. Ich kann einer anderen Zeit nicht ihre eigene Geschwindigkeit vorwerfen!

Dranmor musste, wenn er musste, über Bäume, Tiere, Schiffe, Gott schreiben, wie er es tat. Und über deren Anschauung auf Reisen. Auch in der Bahn. Hier. Und wenn es über die granitnen Brücken / Und durch die Tunnels donnert, und der Boden / Ringsum erzittert, sich in den Pagoden / Die Götzenbilder bis zur Erde bücken. Seine Zivilisationskritik. Auch eine Geschwindigkeitskritik. Das Reisen war ein langsameres Reisen und doch viel schneller, als jemals gereist wurde. Das Wissen um die Langsamkeit der Reise in der Gegenwart, seiner Gegenwart, trajektiv. Dass es schneller werden würde, war gewusst, auch das Wissen um ihre eigene Beschleunigung. Doch wer an einen Gott glaubte, wie er, sich in einer pantheistischen Diesseitsreligion aufhielt, wie es sein Biograph Otto von Greyerz bezeichnete, sucht Gott als unendliche Linie zu begreifen, als Vektor. Der Blick darauf konnte entschleunigt werden, gedrosselt und ein Baum wurde wieder scharf, erkennbar, der See, ein Gebirge. Das Gott-in-Allem – war die Verlangsamung nur gross genug, bis zum Stillstand: Ist alles Gott.

Zu viel Wasser. Zwischen Zürich und Schaffhausen hatte ich schon einen ganzen Liter getrunken. Ein Grenzübertritt. Ich beobachtete schon seit längerem eine Veränderung meines Harnstoffwechsels. Schnellere Umwandlung. Wässriger. Grösserer Anteil an Spurenelementen hatte man mir angekündigt, das sei in diesem Zustand nicht ungewöhnlich. Überhaupt: rapiderer Stoffwechsel. Die Blase immer zum Bersten voll, wie bei einer Hochschwangeren. Die Druckverlagerung – dort aber mechanisch erklärbar. Bei Horb musste ich plötzlich aufstehen, sprungartig den Platz verlassen. Das fast leere Abteil zu dieser Zeit. Mein Wanken, der unsichere Gang durch den Wagen, bis zur Toilette zwischen den Waggons. Scharnierstelle.

Rudernde Arme und dann Gestank in der Toilette. Ich schloss ab. In der Toilettenschüssel selbst: Kotstreifen und an der Oberfläche schwimmendes Papier. Ich musste die Luft anhalten und im Stehen pinkeln. Das Fenster im Innern viel kleiner als die des Passagierraums. Kein Durchblick möglich, getrübtes, undurchsichtiges Glas. Eine späte Fliege krabbelte eine Diagonale, setzte ab und starb im Flug. Ich war von ihr gebannt und habe die Schüssel nicht getroffen. Musste die Schuhe mit rauen Papiertüchern säubern. Kein Wasservorrat mehr und keine Spülung, kein Händewaschen, also. Niedergang der Bahn, der regionalen Verbindungen. Bevor ich das Klo verrichteter Dinge verliess, kontrollierte ich den Ausgang, den Durchgang, ob mich auch niemand sehen konnte. Setzte mich unbeteiligt wieder an meinen Platz.

Bin ich also selbst das Opfer der Wahrnehmung? Ein Opfer der Abbildung? Des von Anderen Abgebildeten, Nachgebildeten? Bin ich Teil einer Opfertheorie: Das Vorbeigleitende hinter den Fenstern – ein flüchtiger Akt. Fast Akte der Auflösung. In mir. Eine Loslösung vom Augenblick. Festhalten!

Welcher Geist wachte über dieses flüchtige Archiv der Wahrnehmung? Geist des Staubes? Der feinen Körnung. Es gab nie ein Bilderverbot, denn alles war Bild – sonst wäre nichts. Das Wahrnehmungsbild, das Fenster, eine überholte Abbildung eines Bilds, Rest eines Schnappschusses. Geist. Spreche ich darüber, ist es schon Ausbeutung dieses Archivs, ist es gleichzeitige Sendung. Transmission der Spuren.

Mit ihm wollte ich darüber sprechen, schlechte Idee. Auf seine Frage, was ich denn machte, am Tag der Geburt seines Herrn, seines wiederholten Gedenkens, Gedankentag, Wunder des Gedankenjahrs, wer ich denn überhaupt sei, nach zwei Flaschen schweren Weins, mein Versuch eines Verweises darauf; er hatte es nicht verstanden, nicht nachvollziehen können. Väter können nicht verstehen. In ihren Weihnachtsfeierspeichern herrscht Ordnung – ich wüsste es selbst nicht, beantwortete ich mich, er solle doch gelegentlich bei mir vorbeischauen, nein, nicht zuhause, dort, wo ich nun lebte, wo ich gerade herkäme, sondern dorthin, wo ich mich oft aufhielt. Und das war überall. Ich schrieb ihm die Internetadresse meiner Homepage auf einen Zettel, er faltete ihn, es interessierte ihn nicht besonders. Exhibitionismus nannte er es. Sein Verweis auf einen Artikel einer, wie er dachte, schlauen Zeitung. Echtzeitmagazinierung falsch verstandener Subjektivität, wiederholte er eine seiner Meinung nach besonders gelungene Analyse – er konnte diese Wörter kaum mehr aussprechen, also wechselte ich das Thema, vielleicht hatte er ja doch einmal Zeit. Das Wetter.

Das Ende des Jahres. Jahreswechsel als Wortwechsel. Update. Verhinderung eines Bedeutungsaustausches. Was hatte er erzählt? Es konnte nicht gemerkt werden. Nichts. Der Stand des Immergleichen. Er bei mir, wie ich bei ihm. Es ginge ihm zur Zeit nicht so gut. Entschuldigung? Das Herz. Die Beine. Mental aber topfit, wie er es nannte. Das sei schlimm. Ich hatte ihm eine Passage aus Dranmors Reisestudie vorgelesen, und etwas, das ich dazu notiert hatte. Kein Interesse. Auch, dass ich jemanden wiedergetroffen hatte, ob er sich an Roman erinnern konnte, er wäre einmal dabei gewesen. Kein Interesse. Dass ich sonst eigentlich niemanden kannte, dass ich arbeiten würde und ansonsten mir die Zeit frei hielt. Sie aushielt. Das Wetter. Das Herz. Die Beine. Das Ich.

Der unweigerliche, der fast schon rituelle Streit am zweiten Feiertag. Nach einer unendlich lang scheinenden Zurückhaltung. Alles ganz einfach. Die üblichen Vorhaltungen. Grob, überspitzt, undifferenziert. Von meiner Seite, von seiner Seite. Die ganz alten Geschichten, die schon keine Ereignisse mehr waren, die Bilder waren. Von Bildern. Aufblitzende Archetypen. Erinnerungsfetzen. Lose Fäden, die nicht mehr verknüpft werden konnten. Die Unmengen Rotwein, die es brauchte soweit zu kommen, am Ende der Schnaps. Kurz bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, reiste ich vorzeitig ab.

Schlechte Bedingungen – hier wie dort. Letzte Tage des Jahres die Zeit aushaltend. Kein Mensch in Bern. Kein Sylvester – nur dessen Bild im Fernsehen. Raketen, Kracher noch heute morgen, das sonst stille Neue Jahr.