Dranmor IX,1a

(Für den Junimond)

Es muss ein Nachtschwärmer sein, einer von vielen, der nicht auffällt, steigt er hinten in den Wagen ein. Dem Fahrer ist es egal, ob hier jemand einen Fahrschein hat oder nicht, wenn ihm der Samstagmorgen graut und er sich in ein vorgewärmtes Bett legen will, wenn er denn jemanden hätte, der diese Arbeit erledigte.

Die ausgelaufenen Bierdosen, eine rollt in der Mitte des Gangs, die Fussräume hinauf und wieder hinunter, bis ein genervter Fahrgast die Dose tritt und verbiegt und wieder Ruhe einkehrt. Gesenktes Licht. Der junge Tag schiebt sich über ferne Berge. Einer muss niesen. Einer nickt weg und erwacht wieder am Eigerplatz. An der nächsten Station muss er hinaus.

Der Beaumontweg ohne Anzeichen eines inzwischen gewachsenen Berges oder Hügels, aber sanfte Matten entstehen in den gepflegten Vorgärten der Strasse. Alles grünt und blüht und macht sich zurecht für den Junimond, als gäbe es keine anderen Farben. Nur nicht das unangenehme Haus an ihrem Ende: der Patient, der Aussätzige, das Sorgenkind der Siedlung, gestützt, aufgehängt an stählernen Gerüsten, mit hölzernen Latten verstrebt. Hat er sich erkältet? Eine Allergie, etwa? Oder weiter, unter seiner blätternden Haut ebenso marode Substanz? Will man sanieren?

Die Haustüre ist nur angelehnt und lässt sich mit einem sanften Stoss öffnen. Nichts versperrt den Weg. Kein Glasbruch, kein Flaschenmeer, das am Eintreten hindert. Lediglich die Kellertüre ist verschlossen – ein weissrotes Absperrband möchte mich vor weiterem warnen.

Das gehe jetzt aber nicht, dass ich hier eindringe und störe. Dass ich doch wohl sehen könne, dass man sich nur mit äusserster Vorsicht hier im Haus bewegen könne. Und: wer ich denn überhaupt sei und was ich hier wolle. Und: dass es hier Vorschriften gäbe. Auch, wenn ich hier tatsächlich gelebt haben sollte. Bei dem Wort gelebt drücken sich ein paar Untertöne durch.

Eimerweise dunkler, feuchter Bruch steht herum und gibt kaum hörbare Töne von sich. Steinfragmente, mit milchigen Schichten überzogen. Ein Staubnebel steht auf der Höhe der Waden und zieht unschlüssig durch den Gang. Der Handwerker lässt geräuschvoll eine Kelle oder Stange fallen. Es täte ihm ja leid, das müsse hier aber alles entkernt werden. Fast von Grund auf. Die Verwaltung sei davon ausgegangen, dass dieses Haus leerstehe, seit ein paar Monaten. Dass alle Mieter in Ersatzräumlichkeiten umgesiedelt seien, für das nächste halbe Jahr. Man müsse das jetzt machen, jetzt, wo der Sommer beginnt. Aber, soweit man abschätzen könne: bis zum Winter sei es wieder bezugsfertig, das Haus. Und im besonderen: diese Wohnung. Was denn hier passiert sei? Und er weisst auf die Badezimmerdecke und ihre Löcher und den fehlenden Putz.

Man musste doch etwas tun. Man musste doch handeln. Und niemand wusste, wo ich war. Ich sei ja nicht zu erreichen gewesen, soviel er wisse. Aber die Situation unter dem Dach wurde akut. Und natürlich auch in dieser Wohnung. Alles verschlammt und verschleimt, das ganze drohte einzustürzen, also habe man begonnen.

Und also seien sämtliche Sachen dieser Wohnung in den Keller geräumt worden. Ja, auch die dunkelbraune kleine Kiste. Sicher, kein schöner Ort, dort, das wisse man. Aber was hätte man denn tun sollen, man habe doch niemanden fragen können. Und, dort unten sei es, bei aller Dürftigkeit, doch noch ein bisschen besser für den ganzen Schrott.

Er sagte Schrott, den man in Säcke und Kisten geworfen hätte. Man dachte wirklich, hier habe sich einer verabschiedet. Hier sei einer auf Nimmerwiedersehen gegangen.

Eine reine Sicherheitsmassnahme. Die Post. Der Briefkasten wäre ja wohl auch seit Monaten nicht mehr geöffnet worden, sagte man. Und dass sie nicht hier wäre. Und: Das müsse man mit der Hausverwaltung abklären, da könne er gar nichts dazu sagen, aber, ich müsse schon entschuldigen, er müsse weiterarbeiten. Und ob ich nicht die Türe hinter mir schliessen könne.

Im Garten steht eine kleine Mulde und sieht sich schon zur Hälfte gefüllt. Ein aufrichtiger Durst treibt mich an und die Strasse entlang, der Haltestelle entgegen zu meinem kleinen Kiosk. Keine Eisfahne flattert im Wind, und die Kisten mit den alten Schallplatten: nicht vor dem Ladenfenster. An ihrer Stelle Geranien. Kein Licht zeichnet beim Eintritt die Umrisse der Theke, stattdessen schweigende Glocken und unscharfes Grau. Aus dem hinteren Teil: Wir haben noch geschlossen, eine Frauenstimme. Wir öffnen erst um acht. Aber: was ich denn wolle. Wenn es schnell gehe.

Ich wundere mich, wo denn der Blinde sei und der Taubstumme. Ach, das sei eine ganz traurige Geschichte. Schon vor ein paar Wochen sei sie passiert. Der Taube sei plötzlich erblindet. Und dem Blinden habe es daraufhin die Sprache verschlagen. Ein ganz aussergewöhnliches Ereignis. Sie lebten jetzt beide im gleichen Heim. Aber nach dem, was sie gehört hatte, ginge es den beiden den Umständen entsprechend gut. Aber nein, sie sei nicht verwandt mit ihnen, sie führe den Kiosk nur interimistisch für ihre Freundin, bis ein neuer Pächter gefunden sei. Ich bestelle mehrere Appenzeller und verabschiede mich.

Der Tag vergeht auf einen angeketteten Gartenbank auf einem feinen Bürgersteig in der Nähe. Die Nachbarschaft weiss sich zu wandeln, beobachte ich, die Anwohner, Schulkinder, Rentner, Mütter, die erst dann einen Blick riskieren, wenn sie mich schlafend wähnen, um mich bei geschlossenen Augen zu richten. Aussenräume verändern sich, kommt der Mond am späten Mittag ins Spiel. Schrumpfen Paläste zu kleinen Buden, und in der Ferne mein verpilztes Heim zur Fischerhütte am Strand eines kargen Meeres. Nun wird wohl die Arbeit ruhen und der Handwerker es zu Hause seiner Frau besorgen, und ich schleiche zurück, weil ich mich besuchen möchte, oder das, was von mir übriggeblieben ist. Am Gartentor entwickelt sich ein kleines Stück Papier: Ich grüße dich, verlass´nes Fischerhaus / Wie oft von deiner meerbespülten Schwelle / Blickt ich verlangend in die Nacht hinaus / Die tropenwarme, sternenhelle /. Ich befülle es mit Tabak und das Produkt geht in Rauch auf mit dem letzten Wort.

Da ist noch dieses Fenster auf der Rückseite des Hauses. Man konnte sich von dort aus mit etwas Geschick in einen Kellerraum hinunterlassen. Das Gitter davor ist noch immer lose und schiebt sich fast einhändig beiseite.