(An der Zytglogge)
Der Himmel hängt tief und der bis in die Unterstadt drückende Nebel verdichtet sich, geht erst in einen dünnfadigen, dann dauerhaften Regen über. Die wenigen Erledigungen sind gemacht, konnten alle in der neu eröffneten Filiale des hiesigen Kaufhauskonzerns getätigt werden. Das Bier, Averna, eine Pizza, ein Fertigmenue für die Pfanne, Nasi Goreng in drei Minuten. Druckerpapier, einen Beutel Tabak, Blättchen, Drehfilter und etwas Joghurt. Mehr gab der Geldbeutel nicht her.
Ich kann die Strasse überqueren ohne nass zu werden, ohne den Schirm aufspannen zu müssen erreiche ich die engen Arkaden der gegenüberliegenden Seite, mit den kleinen Läden. Der Uhrmacher. Die Floristin, die bei jedem Wetter vor ihrem Laden steht, um dort über den Strassenverkauf ihren Umsatz etwas anzukurbeln.
Wie zu jeder frühen Mittagszeit wird es schwierig sein, einen Platz in einem Café zu bekommen.
Die Drei Eidgenossen, zu weit entfernt, das Lorenzini, von mir wegen seiner guten und günstigen Schale geschätzt, scheint noch nicht geöffnet, seine sonst illustren Gäste auf andere Gastronomien verteilt. Unsicher überquere ich noch einmal die Strasse, um einen Blick ins Adrianos zu werfen, ohne sonderliche Erwartung, ist es doch sonst regelmässig überfüllt und von einer Klientel besucht, die jemand mal als aufgeplusterte Lackaffen bezeichnet hatte.
Ich kann von aussen einen freien Fensterplatz ausmachen, zögere nicht lange und betrete die Bar, lasse mich dort nieder.
Ich richte mich ein, nehme mir eine Tageszeitung von einem Stapel Illustrierter, ein belegtes Brötchen aus einem Körbchen vom Tresen, setze mich wieder ans Fenster und warte.
Trotz des ungünstigen Wetters steht eine Reisegruppe hinter dem Turm der Zytglogge, soviel ist durch den breiten Torbogen zu erkennen. Unter den Schirmen sind die Kameras gezückt, einsatzbereit und die Köpfe nach oben gerichtet. Ich verstehe die Attraktivität dieser Attraktion nicht. Ein sich stündlich wiederholendes Spiel. Figuren, die aus einem Häusschen im Kern des grossen Ziffernblatts mechanisch getrieben werden, Tänze vollführen, für wenige Minuten, wenn es nicht Sekunden sind. Ein kleines Spiel. Spontan fallen mir drei grössere Uhrentürme, mit um ein vielfaches gigantischeren Spielen ein. Vielleicht täusche ich mich auch. Ich kann diesen sich dort manifestierenden Manierismus, ästhetische Pingeligkeit ohnehin nicht leiden, aber wenn dieses in meinen Augen unterdimensionierte Ereignis beinahe als Weltwunder gepriesen wurde, verliere ich meine Gleichgültigkeit. Ich bin einmal inmitten einer Reisegruppe gestanden, bin darin untergetaucht, habe gelauscht, um Reaktionen mitzubekommen. Eine allgemeine Enttäuschung machte sich nach der kurzen Veranstaltung breit. Zu klein, zu unbedeutend, um darüber zu grosses Aufhebens zu machen. Aber wahrscheinlich sind es die Reiseführer und der Mangel an anderen Sehenswürdigkeiten, ausser dem generellen UNESCO-Welterbegütesiegel für das Viertel, das seinen Ruf einer Sehenswürdigkeit hartnäckig verteidigte.
Endlich, ich werde wahrgenommen. Eine hübsche, junge Bedienung, BWL-Studentin vielleicht, kommt an meinen Tisch und nimmt die Bestellung auf. Einen Latte Macchiato und ein Glas Wasser.
Die Zytglogge ist ein beliebter Treffpunkt. Spezifisch, übersichtlich, nachhaltig. Im Falle eines Nicht- oder Verspäteteintreffens der Verabredung könnte man sich in eines der Cafés drumherum einquartieren oder sich an dem kleinen Kiosk gleich daneben aufhalten, ohne aber den Platz davor aus den Augen zu verlieren.
Da kauft einer ein Eis. Auf hundert Metern Entfernung schaut er aus wie Roman. Ich beobachte ihn. Die braune Lederjacke, die schwarze Umhängetasche – auch Roman hat solche Dinge. Die Art, wie er sich zum Zahlen vorbeugt und in seinem Geldbeutel kramt. Es ist Roman. Ich überlege, ob ich nicht hinausgehen und ihn an meinen Tisch laden sollte. Noch im Aufstehen denke ich, dass es vielleicht zunächst interessanter wäre, ihn noch eine Weile zu beobachten. Er würde ohnehin an mir vorbeilaufen, wollte er einen Bus oder die Tram nehmen. Es ist seltsam einen Bekannten, einen Freund zu beobachten, wenn dieser sich unbeobachtet wähnt. Er wirkt viel unbeholfener, viel zufälliger, unberechenbarer, als ich es sonst von ihm kenne. Er knüllt das Eispapier zusammen und will es in einen Mülleimer werfen. Der Versuch scheitert und das Papier bleibt daneben liegen. Er schaut sich um, ob jemand den misslungenen Wurf gesehen hatte, zögert, bückt sich und nimmt das Papier wieder auf, um es nun eine weiteres Mal gezielt zu entsorgen. Er blickt umher, während er an seinem Eis lutscht. Sein Gesicht scheint sich aufzuhellen, er hat jemand Bekanntes gesehen. Es ist noch nicht klar, auf wen sich seine Aufmerksamkeit zieht, ein Bus war angekommen und eine Menschentraube erst im Begriff sich aufzulösen. Es geht jemand auf ihn zu. Eine Frau in schlichtschicker Aufmachung – gepflegtes, strohblondes Haar, Pagenschnitt. Entschlossene Blicke. Sie scheinen sich gut zu kennen, geben sich nicht wie üblich zwei oder drei Begrüssungsküsse auf die Wangen, sondern küssen sich intensiv auf die Lippen. Roman umarmt sie fast etwas kräftig, legt einen Arm um ihre Schulter und will sie von hier fortführen. Einen kurzen Moment sind sie mir zugewandt.
Ich erkenne dieses Lächeln, die Grübchen, die ich einmal faszinierend fand. Sie schiebt sich die Sonnenbrille auf die Stirn und ich weiss: es ist sie – ich hatte sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Mein Kaffee wird aufgetischt. Ich versuche freundlich zu bleiben und zahle sofort. Ich blicke wieder aus dem Fenster und die beiden sind nicht mehr zu sehen. Das Brötchen ist trocken und der Schinken geschmacklos. Ich stürze den Kaffee hinunter, lasse das Brötchen und Wasser zurück und trete auf die Strasse.