(Raus da! oder In Frieden II)
Arbeit am Stein. Es ist nur der Versuch darunterliegende, zugrundeliegende Schichten freizulegen. Mit einer Hand. Mit Zeigefinger und Daumen etwas abzulösen und zu reinigen, Einprägungen freizusetzen und sie erkennbar zu machen. Sie zu lesen.
Der dünne Raum zwischen Häuten und Nägeln, nur ein Blatt Papier passe dazwischen, sagt man, dehnt sich aus, wölbt sich unter dem Druck der Sandsteinsplitter und des trockenen Mooses. Und die Behutsamkeit: Die Gefährlichkeit dieser Operation, eigene, ungewollte Spuren zu hinterlassen und das Ursprüngliche zu kreuzen und zu verfälschen. Etwas zu entstellen und ganz anderes zutage zu fördern. Dass diese Arbeit nicht zum eigenen Schreiben würde.
Die Knie sind schon lange feucht; das Klamme fand direkten Zugang zu den nun marmornen Schenkeln. Und der Hosenstoff teilt sich, in Fetzen. Der Rücken schmerzt auch ein wenig. Augen suchen sich ihren Weg durch die einbrechende Nacht auf den Stein. Eher das Fühlen. Eher ein Tasten und Zupfen. Die Gasvorräte erschöpfen sich, aber verschiedene Zeichen sind schon zu ahnen.
Der verhornte Daumen der linken Hand nimmt kaum noch die heissen, glühenden Stellen des Feuerzeugs wahr, das nun langsam versucht einem Schriftzug nachzufahren. O – T – T – O. Nicht etwa Ferdinand, Dranmor, Schmid oder Fernando sind nach dieser Folge möglich. Vielleicht ein Motto? Ein Epitaph? Oder ein anderer Geselle, der hier mit ihm ruhte? Ein weiteres Flechtenstück löst sich ab. V – O – N. Doch ein Zitat? Ein Motto Tennysons oder Dranmors vielleicht, das hier ein Ruhen titelte? G – R – E (oder A, das ist schwer zu entscheiden, der Daumen an der sengenden Flamme, weiss) – Y.
Natürlich! Es muss ein Auszug aus Edward Gray sein! Nichts Passenderes könnte hier stehen. Eine kleine Selbstreferenz oder Referenz der letzten Gefährten. Ich sammle die Zeilen und überlege, auch Dranmor hätte diese Stelle zitiert. Ich stocke und muss die Arbeit unterbrechen. Krame die Dichtungen hervor und suche nicht lange, denn ein Buchzeichen teilt noch die prominente Stelle. Dort barg ich mein Antlitz im feuchten Gras und Da schrieb ich auf den bemoosten Stein flackern die Zeilen im Schein der leuchtenden Hand. Die Hand eine Fackel aus Fleisch und sie glüht und ein Funke sucht Nahrung auf einem Ärmel. Verhungert dort.
Die letzte Strophe murmele ich lauter: Bitterlich weinte ich über dem Stein / Bitterlich weinend geh ich fort: Ein letzter Teil der Moosflechte löst sich und gibt den Rest dieser Inschriftzeile frei. E – R – Z.
Erstarren. Ich summiere. Ich reihe von links nach rechts aneinander und lösche die Spatien: Otto von Greyerz. Mit Schaudern. Ich habe den Biographen Dranmors, nein, nicht ausgegraben, identifiziert. Den kritischen Teilhaber seines Lebens. Das bedeutete: ich suche am falschen Ort. Wie charakterisierte er ihn gleich? Die Aufzeichnungen dazu, die Exzerpte finden sich eingebettet im hinteren Teil des Bandes. Rascheln. Nach Jahrgängen die Kritik. So in den Zwanzigern vielleicht. Hier, ich überfliege:
einsamer Schwärmer … träumerisches Wesen … schwermütige Anwandlungen … reifte eine monotone, fragmentarische Lyrik mit unverkennbaren Spuren der Erschöpfung … bis zu seinem Tode am Mark seines Lebens zehrende verschuldete er selber durch die in leidenschaftlicher Verblendung geschlossene Ehe … achtundzwanzig gedankenschwere Ergüsse … pantheistische Diesseitsreligion … Doppelnatur Dranmors: die Dichtergabe und der Geschäfts- und Gründungsgeist … Sein Ehrgeiz war das Weltbürgertum … Byron, Platen, Waiblinger … Die Krankheit des Jahrhunderts … die Aufrichtigkeit, der hohe Ernst seines Leidens und Ringens … Allein seine Gestaltkraft war der hohen Aufgabe nicht gewachsen … Seine Stoffwelt ist beschränkt … für welche nicht der Inhalt, das Motiv, sondern die Form, der schöne Vers die Hauptsache sei …
Ein Verächter! Ein Wichtigtuer! Wie konnte er solche Dinge schreiben, er, der noch nie über die Ränder seines Grabes getreten war? Weltbürger? Ich lache leise. Die Hand legt eine Jahreszahl unter dem Greyerzschen Namen frei. 1863-1940. Eine ganz andere Generation. Eine spätere Schicht. Eine Welt darüber und sicher nicht die Welt Dranmors, die hier war und dort war, aber immer an ein Stück Erde genagelt wurde. So ist sie nicht von dieser Welt!
Der Greyerzsche Zugang macht mich rasend. Zitternd. Hier liegt einer und gehört nicht dahin! Hier werden künstlerisch bedeutungsvolle Grabmäler aus den Friedhöfen der Stadt ausgestellt. Sie sollen als Dokumente ihrer Zeit der Nachwelt erhalten bleiben, höhnt es weiter auf einem Schild. Was für ein Witz. Und Ferdinand Schmid liegt wahrscheinlich auf einem Acker vor einer verfallenen Kapelle. Greyerz muss da raus!
Es ist dunkel. Frisch ertastete Zeichen verschwimmen und lenken den Fokus zur Seite. Unter einem kleinen Hag die Silhouette eines Gerätehäuschens. Greyerz muss da raus. Das meinen auch die Appenzeller, einstimmig, bieten ihre Hilfe an. Ich öffne ein Fläschchen und nicke.
Das unverschlossene Gerätehaus. Eine Schaufel. Ein halber Mond. Ich lege ein Taschentuch um die linke Hand. Keine Menschenseele.
Die Erde ist leicht und luftig, und die sie spaltenden Schnitte klar und bestimmt. Ich keuche ein wenig. Und die Mulde und das Ausgehobene, diese Asymmetrie am Rand der Stelle. Und alle rufen und feuern an: Greyerz muss raus! Greyerz muss da raus! Vielleicht finden sich hier auch Ellen Adairs Gebeine. Und das Keuchen. Und der Schweiss. Doch auch Edwards Herz liegt dort, so die Schaufel. Und das Atmen. Auch die anderen Stimmen: Raus! Raus! Raus da! Raus!
Und ein kleines, blaues, blinkendes Licht. Und Raus! Raus da! Und ich soll die Schaufel fallen lassen. Und heraussteigen. Und ich werde unsanft gepackt. Und man bindet meine Hände auf dem Rücken zusammen.