Fiebertext

(E12b)

Was aber waren diese Zeilen im Privaten? Was für eine Bedeutung wiesen sie sich selbst zu und darüber hinaus, wenn sie nicht aus ihrem ewiggleichen, traumfreien Schlaf geholt wurden – nach Jahren des Vergessenseins? Welchen Sinn verbargen sie und sprachen diesem doch heimlich zu, während sie stumm standen und ihre Zeit absassen, während sie nicht auf ein erstes oder neues Mal enteignet wurden von einer fremden Hand, von schamlosen Augen, Netzhäuten, Speichern, die ihr Innerstes ans Licht einer ungeraden Öffentlichkeit zerren wollten, noch im Bademantel vielleicht, nackt oder bei unsittlichen Beschäftigungen?

Vor, während oder nach der Genesung, die diese – noch im Schweiss auf kalter Stirn verhafteten – entstellt und noch nicht ganz auf der Höhe eigener Eigentlichkeit überraschten. Hatten die besagten Zeichen, Ketten, die oft genug nur als Verstümmeltes, Teil eines Torsos einer Idee, die lediglich auf ein Verdecktes oder Verschüttetes zeigen wollten und wieder und wieder zurechtgestaltet und einem unbegreiflichen Publikum vorgesetzt wurden, nicht ein Anrecht auf Vollständigkeit, Wärme und etwas garantierte Ruhe, wenigstens für eine absehbare und – wohlgemerkt – dezidierte Saison? Warum sich diese Fragen gerade jetzt seiner bemächtigten, konnte Benedikt nur vermuten, als er sich im Strom der Pendler den Hirschengraben hinauf treiben liess. Dieser spontane Zugriff des, ein anderes Wort war ihm gerade nicht zugegen, Unbewussten auf seine doch immer noch kontrollierten Schweifzügen, stellte er – konnte er nur in den Zusammenhang eines noch nicht verarbeiteten Fieberbildes stellen, das ihn zwar schon seit geraumer Zeit auch in nüchternen Nächten heimsuchte, aber sogar ebendort und in den darauffolgenden Halbschlafphasen, in denen er es mittlerweile schaffte, winzige Selbstdokumentationen anzufertigen, war ihm Erschienenes zu unscharf, als dass er es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Lexikon einzufangen in der Lage war. Immerhin: die Wahrscheinlichkeit, dass seine febrilen Lektüren genau auf das Jenseits raumoffener und verstellter Körperlichkeit der – ja, so musste man wohl von ihnen sprechen – Opfer doch einen kleinen Funken nicht Wahr-, nein, Wirklichkeit besassen, waren ihnen, theoretisch zumindest, nicht nehmbar, und dieser Umstand, ein weiteres Mal klar verdeutlicht, verhalf ihm zu neuer Energie.

Baustelle. Entschleunigte Pendler, die ihre Anschlüsse zu verpassen befürchteten. Verpasstheiten unter hohem Druck an einem Nadelöhr von Übergang: ein Rohrkanal, der frisch verarztet wurde. Narben. Der ganze Bahnhofsvorplatz war grossräumig abgesperrt. Nur dünnste Adern wurden dem Pflichtverkehr zugestanden, die Stadt mit Menschen und Nährstoffen zu versorgen, die Ausscheidungen mehr oder weniger diskret zu entsorgen.

Benedikt bog schnell in eine Seitengasse ein, um dem Sog dieser Pumpe zu entrinnen. Da nahm er gerne einen kleinen Umweg in Kauf, auch wenn er diesen synästhetischen Klops zu gerne schluckte. Dieser Ort: er musste sich einmal näher mit ihm beschäftigen, nahm er sich vor, schien ihm in all seinem Getöse, Staub und Nebel, maschineller und leiblicher Durchdringung eine perfekte Metapher für … ja, für was eigentlich?

Wollte er sich mit dieser Verfassung abfinden? Zumindest meldeten sich leise Skrupel und Benedikt beschloss sein geladenes Mütchen etwas abzukühlen und nicht gleich sein ursprünglich avisiertes Ziel zu stürmen. Er bestellte sich eine Affenbrause in dem kleinen Café unter der Laube gegenüber, nahm an der Fensterfront Platz und stocherte weiter in seinem Sack traubengleicher Metaphern, die aber alle nicht dem Saft und Geschmack des von ihm gesuchten Allerweltsbildes entsprachen.

Viertel vor Zehn. Schichtwechsel der Auskunft. Teestubenzeit. Das schloss Benedikt aus dem Kommenundgehen ihm bereits bekannter Bibliothekarsgesichter. Die benachbarte Bäckerei war wohl Monopolistin in diesem Quartier und stattete sie alle mit Croissants, belegten Brötchen oder Studentenschnitten aus. Ein Kommen ohne Tütchen. Ein Gehen mit Tütchen. Unterschiedlichste Prallheiten. Ein Knistern und Knittern schon auf dem Weg zurück in die Aufenthaltsräume, hastige Köpfungen von Buttergipfeln, entkrampfte Mundwinkel – daran Blätterteigreste, bei manchen.

Als sich auch noch unerwarteterweise Anna durch die massive Holztüre schob, schnellte Benedikt empor. Was für eine günstige Gelegenheit! Er warf ein paar Münzen in die Schale mit dem Bon, eilte hinaus und konnte Anna abfangen, als diese gerade wieder die Bäckerei verliess. Ein Glöckchen klingelte.

Die Einladung ins Café wurde von Anna ausgeschlagen. Warum? Dort? Vermintes Gelände! Alles voller Wanzen! Grosser Lauschangriff – musste er wissen. Wir gehen besser an einen abhörsicheren Ort, schlug sie vor. Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her, bis sie an einem kleinen Park angelangten, nicht weit von ihrem Arbeitsplatz, eher: eine heruntergekommene Strauchpassage mit zersplitterten Bänken, darauf Hündeler, Punks und dösende Penner, aber mit einem Fleckchen für die beiden auf einer Tischtennisplatte im Schatten eines Ahornbaums.

Benedikt sprudelte los, als sie beide das geteilte Zopfbrötchen zerkaut und geschluckt hatten. Der Aufsatz … Die Sendung aus der Vergangenheit … Past perfect … Überhaupt: Baustellen … elektronische Antwortsysteme … Dabei zeigte er immer wieder auf die Dokumente, die er glücklicherweise mit sich genommen hatte.

Anna schien heute weitaus ausgeglichener, schien – es war Benedikt nicht entgangen – fast wie von einem Nimbus umglänzt, an dem er sich nicht satt sehen konnte, der all seine Sprachpotenz zum erschlaffen brachte. Eins nach dem anderen, beschwichtigte sie ihn und legte dabei eine Hand auf sein Knie. Du hast das schon richtig verstanden. Ich habe einmal an so einem Text gearbeitet und das ist Jahre her. Aber das war bestimmt nicht vor so langer Zeit, oder sehe ich aus wie ein altes Weib?, lachte sie. Die Arbeit ist auch in einer Anthologie erschienen mit einem ganz ähnlichen Titel. Ich bin mir da aber nicht mehr sicher.

Nicht mehr sicher? Benedikt runzelte die Stirn. Wie konnte man so etwas vergessen. Es waren nur ein paar Seiten zur Idee einer Art Luftbibliothek nach Charles Babagge. Hast du davon schon gehört? Benedikt musste verneinen, machte sich aber fortlaufend Notizen, denn Anna, oder war es das, was sie da sagte, vermochte ihn mehr und mehr zu faszinieren. Ein geradezu esoterischer Ansatz, aber nicht von der Hand zu weisen, fuhr Anna fort. Leider war ihr der Text abhanden gekommen, war mit ihrem letzten Computer untergegangen und auch in dieser Bibliothek war er nicht mehr aufzutreiben. Wohl ein Job für die Fernleihe? – Benedikt wollte mit der Kenntnis dieses Services etwas bei ihr punkten, fügte hinzu, er sei sehr interessiert und werde gleich nach ihrer Pause diesen Auftrag erteilen. Anna seufzte. Sie hatte vor ein paar Jahren schon versucht, über diesen Weg an ihren eigenen Text zu gelangen, aber vergebens. Freilich, mit den heutigen Möglichkeiten … Man müsste es wohl einfach wieder einmal probieren. Oder … Oder was?, fragte Benedikt.

Nun, der von ihr dort durchgespielte, abstrakte Ansatz, der aber genau jener Babagge`schen Theorie entsprach und sie lange Zeit beschäftigte, müsste … dann winkte Anna ab. Alles nur Spielerei. Benedikt liess nicht locker. Müsste was?

Müsste auf sich selbst angewendet werden. Nach dieser Theorie wäre der Text auf jeden Fall erhalten und einfach – unzerstörbar. Er befand sich, Anna zeigte nun auf eine unbestimmte Stelle in Richtung Himmel, irgendwo da oder dort und man bräuchte also nur noch den geeigneten Filter, oder sagen wir: ein Medium, um diesen wieder lesbar zu machen. Benedikt schüttelte den Kopf. Vielleicht probieren wir es doch erst einmal mit der Fernleihe.

Wie du meinst, erwiderte Anna. Ich will dir aber nicht allzu grosse Hoffnungen machen. Und was den Zugriff auf diese, Anna räusperte sich, Luftbibliothek angeht … auch wenn du mich vielleicht für verrückt hältst: ich versuche mich immer noch daran, um ehrlich zu sein. Benedikt war nach einem Scherz. Das ist ja spannend! Kann ich dir dabei behilflich sein? Anna reagierte trocken. Du hilfst mir doch schon seit langem. Aber zu deiner anderen und vielleicht viel wichtigeren Frage: Nein, diesen Brief – dann zeigte sie auf den Umschlag, den er immer noch fest umklammert hielt – diesen Brief habe ich dir nicht geschickt.