I mihi ipso scribo

Was treibt Dich dazu, im Zeitalter schwindender Handschriftlichkeit den Fokus auf eine aussterbende Kulturtechnik zu richten? Welche Erkenntnisse erhoffst Du Dir? Oder glaubst Du nicht an eine Erkenntnis, sondern nur an den Reiz des Archivierens? (sru)

„Verzeih mir meine unausstehliche Schrift und meinen Mißmuth darüber. Du weißt, wie sehr ich mich darüber ärgere, und wie meine Gedanken dabei aufhören“. Und: „Ja, die Barbarei meiner Handschrift, die niemand mehr lesen kann, ich auch nicht! (Weshalb lasse ich meine Gedanken drucken? Damit die für mich lesbar werden. Verzeihung, auch dafür!)“. Und: „Das Ms erweist sich seltsamer Weise als ‚unedierbar‘. Das kommt von dem Princip des ‚mihi ipso scribo‘.“ heisst es in Briefen Friedrich Nietzsches an Carl von Gersdorff, Franz Overbeck und Paul Rée. (1)

Entschuldigend, aber auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein erläuternd, bemerkt Nietzsche also die Unlesbarkeit seiner Handschrift, gesteht ihr aber auch ein Mass an Exklusivität zu, die wohl einem Typoskript, einer edierten Gedrucktheit, einem lesbaren Text abhanden käme.

„Ich schreibe mir selbst“ enthält in gewissem Sinne eine zweifache 1. Person Singular. Eine Doppelung und Singularität, so kann man sich vorstellen, die auf die eine oder andere Weise in bestimmten Textprozessen verloren geht, bestimmte Sichtweisen oder Lektüren eines Textes, vielleicht nicht zwangsläufig entstellen, aber doch homogenisieren, um nicht zu sagen: Aspekte ausblenden, um einer rascheren Verarbeitbarkeit willen.

Während das 18. und 19. Jahrhundert aber durchaus und durchaus noch als Brief- und damit Handschriftenkultur bezeichnet werden kann, so treten etwas später, bedingt durch technische Neuerungen und resultierende Mentalitätswechsel und Zäsuren (2) Verschiebungen ein, die generell das Schreiben veränderten, handschriftliches Schreiben mehr und mehr privatisierten, sodass heute vielleicht bemerkt werden kann, dass diese Kulturtechnik schon im Aussterben begriffen ist, eine bestimmte mediale Zwischenstufe eines Erkenntnisvorgangs beim Verfassen von Texten also systematisch und breitenwirksam übersprungen wird.

„Am Nullpunkt des Texts“, so der Titel dieses kleinen Versuchs, mag vielleicht ein wenig an einen Text von Roland Barthes erinnern (3). Auch das kommt nicht von ungefähr, beschäftigte dieser sich doch auch prominenterweise mit dem Schreiben und machte in den 60ern mit anderen Theoretikern einen Begriff der Schreibweise (‚écriture‘) stark, der zu folgenschweren Unterscheidungen und Analysen anstiften sollte. Dort spricht Barthes allerdings von nur 3 Dimensionen des Schreibens deren 3., die ‚écriture‘ und deren Geschichte noch zu entwerfen und beschreiben war. Etwa 50 Jahre nach erstmaliger Publikation des Textes kann man und mit diesem Abstand und der Perspektive auf erst jüngst stattgefundene Ereignisse, vielleicht noch eine 4. Dimension charakterisieren (‚scripturire‘ (4)), die im Akt des Schreibens, Teil des Schreibens ist, und gemeinhin immer mitgenannt wurde, nun aber, durch ihre fortschreitende Abwesenheit mehr und mehr ‚etwas‘ aus diesem komplexen Vorgang herausbrechen lässt.

Der Autor dieser Schrift gibt selbst zu, dass ihm das handschriftliche Verfassen eines Textes, die Produktion einer Vorstufe, eines präliterarischen Gebildes also, selbst immer mehr abhanden kommt und dieses von anderen Verfahren abgelöst wird. Darum dieser Versuch, eine Studie oder Selbststudie mit dem Ziel, die Bedeutung eigener Handschriftlichkeit für den Text zu entdecken und diese mit diversen Theorien abzugleichen.

Dem Handschriftenversuch ‚Die Ichschrift‘ geht also hiermit ein Essay (als Interview, oder vice versa) voraus, das allerdings erst im Nachhinein, gewissermassen nach Herstellung der Materialbasis konzipiert wurde. Allfällige Antworten und allmählich auftauchende Fragestellungen, so hoffe ich, ergeben sich im Laufe dieses kleinen Diskurses, der übrigens auch zuerst in Handschrift entstand. Doch zu den Rahmenbedingungen …

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(1) vgl. das Ichschriftelement „Der Nullpunkt von Text“

(2) vgl. auch Kittler, Aufschreibesysteme

(3) Roland Barthes, „Am Nullpunkt der Literatur“. Erschien auf frz. 1959. Hier, auf dt. Frankfurt 1982

(4) Diese Unterscheidung in Roland Barthes, Vorbereitung des Romans, Frankfurt 2005