Topische Utopien

(M26)

Schliesslich wäre als eine der wichtigsten Formen einer utopischen Bibliothek noch die „ortlose“ virtuelle Bibliothek zu nennen, eine Art Universalbibliothek unter neuen medialen Bedingungen, deren Realisierbarkeitsgrad bereits relativ hoch anzusetzen ist: „Würde man die gesamte schriftliche Überlieferung in Datenfiles überführen, gäbe es keine Schranken mehr für das Wissen: es stünde in toto in den Datennetzen auf Abruf bereit“ (…). Dies aber würde die Schrift von ihrem materiellen Charakter ablösen und die räumlich geordnete Bibliothek ersetzen durch eine im eigentlichen Wortsinn utopische, d.h. letzten Endes „ortlose“ Bibliothek: „In virtuellen Bibliotheken löst sich der statische, auf Speichern und Bereitstellen angelegte traditionelle Bibliotheksbegriff auf“. Die bisher ungelösten Probleme der Retrievaltechnik, welche die fehlenden Kataloge und deren Ordnungssysteme zu ersetzen hätte, und die Schwierigkeit der Vernetzung der – ganz der postbabelischen Zeit gemäss – vielen verschiedenen, bereits in Gang befindlichen Digitalisierungsprojekte verstärken darüber hinaus den – auch im etymologischen Sinn – utopischen Charakter der virtuellen Bibliothek, die kein Zentrum mehr aufweisen kann.

Rieger, Dietmar. – Imaginäre Bibliotheken : Bücherwelten in der Literatur / Dietmar Rieger. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2002, S.104