Aufwachsen und Kindsein in Innsbruck

„Ich bin ein Kind, holt mich hier raus“!

Kindsein und Aufwachsen in Innsbruck: Das ist ein Leben mit grantigen und pöbelnden Pensionisten, Hundescheiße und Leistungsdruck in der Schule. Lässt sich eine solche Kindheit unbeschadet überstehen?

Erwachsen sein ist nicht schwer. Erwachsen werden dagegen sehr. Oder so ähnlich. Als Kind in Innsbruck hat man es jedenfalls nicht leicht. Ganz und gar nicht. Genau genommen ist es die Hölle. Man hat sich mit fotografierenden Japanerinnen, pöbelnden Pensionisten und jeder Menge Hundescheiße herumzuschlagen. Später in der Volksschule heißt es dann bereits alles hervorragende Noten zu haben, ansonsten ist es später mit dem Traum vom Philosophie-Studium und dem großen Geldverdienen endgültig vorbei. Seid ihr bereit für einen Blick in die Abgründe des Kindseins in Innsbruck?

Es wäre natürlich anmaßend von mir über das Kindsein an sich zu sprechen. Vielmehr handelt es sich dabei um empirische Untersuchungen, die ich mit Hilfe meiner zwei Töchter durchgeführt habe. In akribischer, nächtlicher Arbeit habe ich meine eigenen Beobachtungen ausgearbeitet. Natürlich nicht, ohne vorher zahllose Interviews mit den beiden geführt zu haben. Diese sind natürlich ebenfalls hier mit eingeflossen.

Nun sind wir hier aber, zum Glück, nicht in einem Soziologie-Seminar. Deshalb erlaube ich mir auch meine eigene Rolle und meinen ganz eigenen Blick in den Text einzuschreiben.

Von oben schön und harmlos. Unten die Hölle. Vor allem für Kinder (Bild: Svicková)

Von oben schön und harmlos. Unten die Hölle. Vor allem für Kinder (Bild: Svicková)

Der Blick ist der Blick eines alternden, überaus erfolgreichen Geisteswissenschaftlers, der immer mal wieder, Roland Barthes lesend, auf der einen oder anderen Bank eines Kinderspielplatzes landet. Ein wenig nostalgisch ist diese Person natürlich auch veranlagt. Früher hieß es Party, saufen und ein bisschen studieren. Heute heißt es arbeiten, Kinder betreuen und hin und wieder ein Bier zu viel trinken.

Was aber macht Innsbruck jetzt tatsächlich zur “Hölle” für Kinder und Heranwachsende? Ich gebe euch hier ein paar kleine Einblicke in meine umfassenden Forschungen, die ich hier selbstverständlich für die Lesbarkeit von all den soziologischen und kulturwissenschaftlichen Termini bereinigt habe. Diese Beschreibungen sind sozusagen die Essenz meiner Feldforschungen und meiner qualitativen Interviews, aufbereitet für die breite Masse, die sich darin möglicherweise wiederfindet.

Es sind 4 kurze Erzählungen und Eindrücke, die euch die Problematik des Kindseins und Heranwachsens in Innsbruck näher bringen sollen. Zur Erleichterung der Identifikation sind diese in der Ich-Form gehalten. Das „Ich“ ist in diesem Fall in etwa Mitte 30, hat zwei Töchter, einen Studienabschluss und ist freier Autor, Werbetexter und was weiß ich noch alles. Damit die Texte plastischer und direkter werden, wurde die Erzählzeit des Präsens bevorzugt.

Erzählung 1: Ich sitze auf dem Spielplatz und versuche zum wiederholten Male die „Grammatologie“ von Derrida zu verstehen. Es gelingt mir nicht. Oder nur sehr unzureichend. Warum man mir an der Uni einen Doktortitel verliehen hat wird mir immer schleierhafter. Meine beiden Töchter scheinen sich beim Spielen zu amüsieren. Ich lege das Buch zur Seite und widme mich meinem MP3-Player. Sehr geil, das aktuelle Album von Joanna Newsom. Das muss schon gesagt und am besten wieder mal demnächst geschrieben werden. Ein bisschen verkatert von gestern bin ich auch noch. Ich dämmere leicht weg.

Im Halbschlaf sehe ich, wie sich mehr und mehr Japanerinnen und Japener (oder sind es Chinesen, ich weiß es nicht) um meine Jüngste scharen. Sie posieren mit ihr, machen Fotos mit ihr, scheinen einen regelrechten Narren an ihr gefressen zu haben. Das passiert uns nicht zum ersten Mal. In der Altstadt ist sie ein beliebtes Fotomotiv. Oftmals versuche ich sie ganz schnell durch die Altstadt zu schleifen, in der Hoffnung, dass möglichst wenig Bilder von ihr in den „Fernen Osten“ gelangen.

Eine verdammt geile Rutsche. Aber  Vorsicht: Im Herbst ist hier mit erhöhtem Hundescheiße-Aufkommen zu rechnen!

Eine verdammt geile Rutsche. Aber Vorsicht: Im Herbst ist hier mit erhöhtem Hundescheiße-Aufkommen zu rechnen!

Mittlerweile habe ich die Hoffnung aber aufgegeben, dass sie in Japan noch keine eigene Zeichentrick-Serie hat und zahlreiche Urlaubs-Fotoalben ziert. Nach solchen Tagen fragt sie mich immer wieder, warum sie die netten Touristen fotografiert haben. Ich kann ihr keine konkrete Antwort geben. Ich weiß nur, dass sie sich wundert. Dann seufzt sie und weiß, dass das halt so ist, wenn man als Kind in Innsbruck aufwächst. Sie weißt, dass sie es am besten bald akzeptiert und nicht erst in ein paar Monaten. Sie resigniert. Wie es Kinder in Innsbruck in dieser Hinsicht eben einfach tun müssen.

Erzählung 2: Wir fahren mit dem Bus. Weil wir schlicht und einfach zum zu Fuß gehen zu faul sind. Klingt gemütlich, ist es aber nicht. Ein Streit über den richtigen Sitzplatz bricht bei ihnen aus und gerät schnell aus dem Ruder. In diesem Moment merken sie, dass Innsbruck nicht nur eine Studentenstadt, sondern auch und vor allem eine Pensionisten-Stadt ist. Schnell werden sie ermahnt. Vor allem die Kleine, die sich gar nicht mehr beruhigen möchte, wird gefragt ob sie eigentlich eine „Bease“, also eine „Böse“ sei.

Sie schaute verwirrt, ich peinlich berührt. Darf man Pensionisten eigentlich zurechtweisen – oder muss man Respekt vor der vorangegangenen Generation? Vermutlich Zweiteres. Ich schweige. Zumindest war diese Zurechtweisung weniger schlimm als einmal in einem Geschäft, als die Große damit beschimpft wurde, der „Teufel“ zu sein. Merke als Kind in Innsbruck: Pensionisten haben es immer eilig und möchte zugleich ihre Ruhe haben. Kinder stören da eher nur.

Busfahren in Innsbruck. Eh gemütlich. Wenn da nur nicht die Pensionisten wären! (Bild: www.bus-bild.de)

Busfahren in Innsbruck. Eh gemütlich. Wenn da nur nicht die Pensionisten wären! (Bild: www.bus-bild.de)

Erzählung 3: Spielen auf Spielplätzen kann Spaß machen. Wenn da nur nicht die Konflikte von Hunde- und Kinderbesitzern wären. Ich stehe auf der Seite der „Kinderbesitzer“ und kann nur aus dieser Sicht berichten. Mir fällt aber auf, dass Kinder, vor allem im Herbst, wo sich die Hundescheiße gepflegt unter den Blättern verstecken lässt, vermehrt mit übel riechenden Schuhen nach Hause kommen. Sehr fein, wieder mal in die Hundescheiße gestiegen. Danke liebe Hundebesitzerinnen und -besitzer, die ihr schlichtweg zu faul seid um die Scheiße eurer blöden Köter aufzuheben!

Zuhause kommt es dann aber, paradoxerweise, zu regelrechten Eltern-Kind-Konflikten. Vorwürfe von den Eltern: Warum hast du nicht aufgepasst? Kind: Habe ich ja, aber die blöden Hunde! Die Laune der Eltern verschlechtert sich aber zunehmend, als nach 10 Minuten Schuhe-Putzen mit der Zahnbürste immer noch keine vorzeigbaren Ergebnisse da sind. Kinder in Innsbruck wissen: Hundescheiße ist nicht nur Hundescheiße. Hundescheiße in den Schuhen hat weitreichende Konsequenzen und reicht vom öffentlichen Raum weit hinein ins Private.

Würden diese Tore für unsere Töchter geschlossen bleiben? (Bild: www.agi.tsn.at)

Würden diese Tore für unsere Töchter geschlossen bleiben? (Bild: www.agi.tsn.at)

Erzählung 4: Die Schulwahl in Innsbruck ist, gelinde gesagt, problematisch. Diese Erzählung ist (noch) Fiktion. Aber ich stelle es mir schon ganz deutlich vor: Die Große hat in der vierten Klasse nicht alles Einsen. Ein Zweier hat sich in ihr Zeugnis eingeschlichen. Vermutlich in Mathematik. Ihre erfolgreiche Schullaufbahn ist damit eigentlich schon vorbei. Eigentlich hatten wir ja schon früher versagt, weil wir sie nicht in einen Waldorf-Kindergarten gesteckt haben.

Jetzt aber hatten wir endgültig als Eltern versagt. Erst gestern hatte sie uns gesagt, dass sie Germanistik und Philosophie studieren wollte. Wir hatten schon ihre glorreiche Zukunft vor uns gesehen. Jetzt zogen Bilder an uns vorbei, die sie bei einem Supermarkt an der Kasse sitzen sahen.

Nichts gegen Supermärkte und nichts gegen diese bewundernswert Geduld erfordernde und wichtige Arbeit. Aber irgendwie hatten wir uns ihre Zukunft doch anders vorgestellt. Mit dem Gymnasium in Innsbruck war es jedenfalls vorbei. Das lernen Kinder in Innsbruck schon sehr früh: Sehr gute Noten sind der Schlüssel zum Erfolg in dieser gnadenlosen Stadt, in der nur die Leistung zählt.

Natürlich gäbe es noch viele Erzählungen. Diese vier können aber exemplarisch für den Spießroutenlauf stehen, den Kinder in Innsbruck zu bewältigen haben. Es mag nicht die Hölle sein. Aber es ist verdammt schwer ein Kind in Innsbruck zu sein.

Zum Glück blieb mir das erspart und ich bin wohlbehütet in einer Kleinstadt aufgewachsen. Ich habe keine Neurosen. Trinke keinen Alkohol. Traure niemals der guten alten Zeit nach. Ich bin erfolgreich, selbstbewusst und weiß ganz genau was ich will. Ob es meinen Kindern in Zukunft ähnlich gehen würde? Oder würden sie zu zynischen, Alkohol trinkenden Party-Girls werden, denen nur das Äußere wichtig ist und die sich mit ihrem zynischem Leistungsdenken für ihre Mitmenschen erst gar nicht wirklich interessieren?

Diese Haltung von ihnen würde aber dann nur Kompensation dafür sein, dass sie eigentlich glauben, „Böse“, oder gar „der Teufel“ zu sein, wie es ihnen von unseren lieben, älteren Mitbürgern in ihrer Kindheit eingeredet wurde.

Einfach gesagt: Ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Aber ich werde alles tun, damit sie diese schwere Kindheit in Innsbruck so gut wie möglich überstehen.

Titelbild: Robin Holler