Hasen-, vormals Giftgasinsel

Die Palmen haben ihre Köpfe wirklich an der Himmelsdecke und zeigen mit den zahllosen starren Fingern ihrer vielen Hände nach unten, wo sich zwischen Erdlöchern Hasen und Menschen tummeln. Die Hochleitungsstrommasten auf Anhöhen und Gipfeln machen Männchen, während sie einander an Seilen, die vom Schwimmbecken aus betrachtet wie Spinnfäden aussehen, über die Inseln der Meeresbucht leiten. Die Häuser, die sich einst in die Vegetation fügten oder ihr trotzten, sind verschwunden, Opfer der Kriegsfabriken und Aussichtstürme, der Lagerplätze und Rampen und Bunker, die ihrerseits verschwunden sind, nicht ganz zwar, die Reste Ruinen Fundamente sind von Schlingpflanzen Büschen Spinnweben umhüllt, von Hasen bewohnt wie auch der Shinto-Schrein, der mit Beginn der Kriegsproduktion hierherkam, weil das zusammengehören mußte: Tenno, Shinto und Krieg.

Giftgasfabrik © Leopold Federmair

Giftgasfabrik


Die Hasen machen Männchen, Sommer- und Winterfrischler füttern sie, der neue Bunker ist ein Erholungshotel und die Zikaden schweigen, außer einer, die auf ihrer metallischen Flöte unermüdlich eine seltsame Tonleiter erklimmt. Nachts wirbeln Glühwürmchen Lichtwolken im Meer auf, denen die mit der Brise befreundeten Palmblätter rascheln. Diese erhabenen Bäume sind fruchtlos, sie verweisen hin und her, auf die Gegenüberinsel etwa, wo sich Terrassen und grüne Karomuster die Hänge hinaufziehen, darin kultivierte, gehaltvolle Bäume, Orangen oder Zitronen, vielleicht auch Pfirsiche, man kann es von hier nicht ausmachen, könnte auch im Winter nicht, wenn sie Zitrusfrüchte tragen, kann im Sommer nicht, wenn die Pfirsiche reifen. Bevor die Kriegsproduzenten des Tenno kamen, Soldaten und fleißige Arbeiter, die später mit kaputten Lungen und zerätzter Haut ent­sorgt wurden, muß es hier, auf Okunoshima, so ähnlich ausgesehen haben, denn die Insel wurde wie die meisten anderen von Bauern und Fischern bewohnt, ich hab’s gesehen auf Fotos, die im 19. Jahrhundert entstanden und das 20. überlebt haben. Es wurde ja viel zerstört, auch Spuren wurden zerstört. Wo die kaiserliche Armee die Produkte, die sie hier tonnenweise herstellen und verschiffen ließ, dann verwendete, weiß man angeblich bis heute nicht so genau. Was ist mit dem ganzen Gift passiert, wer hat es abgekriegt? Wer wurde verbrannt verätzt erstickt ausgelöscht? Die Produktionsanlagen haben 1945 die amerikanischen Sieger zerstört, die Insel ist heute entgiftet. Präfektur Hiroshima, keine 100 Kilometer von dem Ort entfernt, wo die Atombombe explodierte.

Wollten die Giftgasarbeiter Krieg? Wer will schon Krieg. Trotzdem, das Volk war militarisiert, das hat es mit sich machen lassen. Gerechte Strafe? Ein Volk auslöschen?

1945 © Leopold Federmair

1945

Die Insel war klein, ist klein, oval, bewaldet, unverdächtig, abgelegen, nicht zu abgelegen, schließlich gibt es hunderte solcher Inseln zwischen den paar größeren. Warum also gerade hier? Eben deshalb! Versteckt und offen zutage. Wie der scharlachrote Brief Edgar Allen Poes. Geeignet auch für Tourismus. Eben deshalb. Zahlt sich nicht aus, hierher eine Brücke zu legen. Längst sind alle Inseln miteinander verbunden, zusammengestählt und -asphaltiert, Hand in Hand wie die Starkstrommasten in höheren Zonen. Ein paar kleine, unwichtige Inseln sind abseits geblieben, werden immer abseits bleiben: unverbunden. Es gibt welche, auf denen steht nicht einmal ein Strommännchen. Die allerkleinste, vor meinem Fenster, verschwindet bei Flut bis zum Scheitel, bei Ebbe zeigt sie sich wieder. Auch wenn niemand mehr eine Schiffsreise macht, ich werde welche machen, von Zeit zu Zeit. Von Insel zu Insel. Meine Tochter wird sich auf den Sitz neben den Kapitän zwängen, einen alten, lächelnden, bartstoppeligen Mann im Blaumann, während sein Kompagnon, derselbe wie vor fünfzig Jahren – »Ach, der Krieg war längst vorbei!« –, vom Pier an Deck springt, die Schleife des Taus schmaläugig nach dem Knauf hinter der Reling werfend.

»Wie beim wanage», sagt meine Tochter. Jetzt hat sie das Steuer in der Hand.

Ruhende Hasen © Leopold Federmair

Ruhende Hasen

Eines Tages, lange nach Kriegsende, kam jemand auf die Idee, die Natur Natur sein zu lassen, die vorfindlichen Hasen leben zu lassen und Menschen, die sich von der inzwischen schon wieder ziemlich dichten Zivilisation erholen mußten, hierher zu verfrachten und sie den Hasen vorzustellen, die sie füttern sollten: mit Maßen, damit sich die reproduktionsfreudige Natur nicht zu sehr reproduzierte und am Ende mit mensch­licher Hilfe selbst zerstörte. Die Hasen leben heute auf vertrautem Fuß, auch den Shinto-Schrein haben sie in Beschlag genommen, die Giftgasfabriksruine, den Leuchtturmgarten. Sie haben nichts zu fürchten, nicht einmal den blauen Bus, der im Schrittempo zwischen der Schiffsanlagestelle und dem Hotel verkehrt. Sie weichen nicht aus. Kommen nicht her, weichen nicht aus, sind einfach da. Menschen, nehmt euch ein Vorbild: sagen die Menschen, ihnen ist das egal. Vorsätze werden vergessen, sobald eingeschifft.

Erholung © Leopold Federmair

Erholung

Zwischendurch, während ich lese und schreibe, den Kopf über der See in den Wolken, die heuer so zahlreich hängen, bin ich ein wenig herumgegangen, an Hasen vorbei, für die ich nichts übrig habe, Fahrradfahrer und vermeintliche Sportler gegen den Uhrzeigersinn liegen lassend. Tennisplätze hinter dem Erholungsbauwerk, am Meeresufer aufgereiht, aufgelassen, verfaulte Netze, umgestürzte Hochstühle, verblaßte Bodenmarkierungen. Risse im Belag, durch welche die Erde schaut mit ihren Blumen und Gräsern und Pilzen, den Augen der Erde. Überflüssige Steine von einem unsichtbaren Steinbruch. Plastik aus Korea, übers Meer geschwemmt, hin und her und wieder hin, wie es die Strömung wünscht. Abgefallenes, abgehauenes Totholz von Palmen, aufbewahrt zu Füßen von Laubbäumen, die nichts damit anzufangen wissen: ich bin ihnen vertrauter. Tief ein­geschnittene Rinnen im porösen Stein, oder ist es Sand, in dem hellen Streifen zwischen Bäumchen, die ich als Kind »Latschen« nannte (viel Regen heuer).

Rost am Meer © Leopold Federmair

Rost am Meer

Auch ins Onsen, was wäre ein Urlaub ohne Onsen, und wo gäbe es das nicht, an welchem Erholungsort, überall auf der Insel, auf allen Inseln, strömt doch heißes Wasser aus der Erde, wenn man tief genug gräbt. In den achtziger, neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, lange, lange nach Kriegsende, hat man so viele Erholungseinrichtungen errichtet, mit Erdwasser zum Eintauchen und gediegenem, auf hübsche Schälchen verteiltem Essen, wie es jeder Ort auf seine Weise zu bieten hat, Sommer- und Winter­erholung, denn die Zivilisation war inzwischen erschreckend dicht und man mußte zweimal zwei oder drei Tage im Jahr davon Abstand nehmen, aber inzwischen schreiben wir das nächste Jahrhundert und die Gestänge sind rostig geworden, die Wände feucht, die Farben verwaschen, die Menschen weniger, weniger bedürftig, weniger viel. Vieles wird in Stand gehalten, nicht alles, manches versinkt. Die Rückentwicklung geht ungeheuer langsam vor sich, wie früher einmal der Fortschritt schnell. Aber man sieht ihre Spuren. Wie sympathisch das alles ist! Manchmal entkräftet mich diese Sympathie, als hätte ich Fieber.

Fenster zur Wildnis © Leopold Federmair

Fenster zur Wildnis

Am letzten Tag habe ich frühmorgens einen Spaziergang mit den Hasenfreunden gemacht – ich meine die zwei Menschenkinder – hier ist doch das Wort am Platz? –, die aus Berufung oder beruflicher Pflicht den langohrigen, hoppelnden, hakenschlagenden Tieren, die meine Tochter und ich neuerdings »Meister Löffel« nennen, besonders nahe sein dürften. Ein Teil dieser Population ist faul, liegt vor dem Hoteleingang, fett oder nicht, schwammige Karotten verschmähend. Ein anderer Teil bewegt sich lieber im Dickicht der Wälder, schießt pfeilschnell hervor, balgt sich mit Artgenossen. Einer der Trägen hat an der Stelle, wo einmal sein linkes Auge war, einen kleinen roten Fleck. Wird denn hier gekämpft? Oder war er gar zu träge? Ein Veteran aus dem Krieg in den Wäldern, von dem wir Erholungssucher gar keine Ahnung haben? Ein einziger, der sich nicht zuordnen läßt, sitzt nachts an der Küste, auf der obersten Stufe der Betontreppe, die ins Meer führt, hört dem ewigen Rauschen zu, dem Rauschen der Ewigkeit (auf die Idee ist er im Lauf der Zeit gekommen), und wartet auf das Leuchten der Glühwürmchen, die hell explodierenden Pilzköpfe im dunkel wogenden Meer.

»Woher kommen eigentlich die Hasen?« habe ich den Anführer der Spaziergängertruppe gefragt.

Verständnisloser Blick.

»Ich meine, die Soldaten werden doch keine Hasen gezüchtet haben, und nach dem Krieg war hier alles kaputt, verbrannt und vergiftet. Also woher kommen die Hasen?«

Verschwindende Insel © Leopold Federmair

Verschwindende Insel

Ach so. Die ersten Hasen setzte ein friedlicher Volksschullehrer aus, weil die Kinder sie nicht mehr brauchen konnten, als der Krieg in ferner Vergangenheit lag. Auf der Gift­gasinsel, dem Ort, der alle Gesichter verloren hatte. Nichtsahnend, daß sie wieder­kehren würden, bleiben und wiederkehren, hundertfach vermehrt. Jetzt sind es tausend, zweitausend, wer weiß das schon so genau. Es mangelt an natürlichen Feinden: die paar Schlangen, kühn gewordene Mäuse… Der Freunde zuviel, außer im kurzen Winter, da springen sie den Fütterern an die Schulter.

Und die Zukunft, die Reproduktion? Der Anführer zögert mit der Prognose.

Nachsatz (hoppelnd): Ein kurzer Abschnitt der Straße zwischen Schiffsanlegestelle und Hotel ist zweigeteilt, hier Fahrzeuge (besonders Fahrräder), dort Fußgeher. Ich ging, wie andere Hasen auch, auf der falschen Seite, als just ein Fahrzeug daherkam im Schrittempo, ein Instandhaltungspaar auf den Sitzen, das anhielt, zurückschob (anderthalb Meter), mich zur richtigen Seite aufforderte.

»Was ist falsch?« tat ich unschuldig.

Mir wurde die Regel erklärt. Da ich nicht so gut schweigen kann, widersprach ich, es bestünde doch keine Gefahr, weder für Hasen noch für mich selbst. Jetzt aber, im Nachsatz, denke ich: Habe ich mich getäuscht? Wozu Regeln, wenn kein Krieg ist?

Giftgasfabrik © Leopold Federmair

Giftgasfabrik

© Text und Bilder: Leopold Federmair

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