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Thomas von Steinaecker: Die Verteidigung der Sprache

Im vergangenen Jahr standen gleich zwei dystopische Romane – Heinz Helles »Eigentlich müssten wir tanzen« und Valerie Fritschs Meisterwerk »Winters Garten« – auf der Longlist zum deutschen Buchpreis. Der Trend zur Dystopie in der deutschsprachigen Literatur bestätigt sich in diesem Jahr mit Thomas von Steinaeckers neuem Roman »Die Verteidigung des Paradieses«. Wie auch bei Helle und bei Fritsch ist bei von Steinaecker nicht so sehr von Bedeutung, was zum Untergang der Zivilisation geführt hat oder führen wird, sondern wie die Zivilisation mit ihrem Ende umgeht.

Steinaecker_DieVerteidigungdesParadiesesZu seinem fünfzehnten Geburtstag erhält der Ich-Erzähler Heinz vier leere Schreibhefte und einen Faber-Castell-Bleistift. Er fühlt sich zu Großem berufen: Das schwarze Heft, mit dem »Die Verteidigung des Paradieses« beginnt, dokumentiert sein Leben auf der Alm in den bayrischen Alpen, auf der er zusammen mit sechs anderen Überlebenden der »mitteleuropäischen Katastrophe« lebt, die zwölf Jahre zuvor die gesamte Zivilisation in Deutschland und den anliegenden Ländern ausgelöscht zu haben scheint. An seine ersten Jahre vor der Katastrophe erinnert er sich dunkel, zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder lebte er in der Elite-Siedlung Waldweben IV mit jedem erdenklichen Luxus, den das Leben um das Jahr 2045 bereit hielt: mit Robotern für alle erdenklichen Tätigkeiten, ein vollautomatisiertes Leben in vermeintlicher Sorglosigkeit. Übrig ist davon nichts mehr. Die Gemeinschaft führt ein archaisches Leben mit Kühen, Schweinen und Hühnern auf dem Almbauernhof unter einem der letzten funktionierenden Shields, das die – vermutlich wegen des Ozonlochs – tödliche Sonneneinstrahlung abhält und aufgrund seiner Programmierung einen ewig anhaltenden Frühling fernab der »großen Ebene«, auf der vor der Katastrophe Solarfelder standen, gewährt.

Zusammen mit der bereits dementen Anne, einer ehemaligen Krankenschwester, dem ehemaligen CEO und Regierungsmitglied Constantin, dem Ehepaar Özlem und Chang, sie Moderatorin, er Information Architect, und Jorden, einem ehemaligen Soldaten und dem späteren Ressort-Ranger wächst Heinz als »das vielleicht einzige und letzte Kind auf Erden« auf dem Rosenhof auf, das vormals Teil eines rekonstruierten Urlaubsressorts für die Elite war. Sie alle nehmen ihn, den Honk, wie sie ihn liebevoll nennen, nicht ernst – kein Wunder, verbringt er doch jede Minute mit seinem Roboter-Wüstenfuchs, der ihm Märchen erzählt –, bis er eines Tages beginnt, die ersten Sätze der großen, vermeintlich untergegangenen Weltliteratur zu zitieren. Denn noch etwas unterscheidet ihn von den anderen: in seiner rechten Achsel hat Heinz ein kleines, rechteckiges Tattoo, von dem keiner weiß, was es bedeutet, außer dass Heinz es spürt, wenn ihm die Sätze von Shakespeare, Goethe oder aus Mozart-Arien einfallen.

»Aber klar, was sollen die anderen auch mit ‚Parkett’, was mit ‚Erbstück’ oder ‚artgerecht’ anfangen, wenn das, was wirklich zählt, Vorräte, Erne und Fleisch heißt?«

Sprache und Literatur nehmen im Leben der Alm-Gemeinschaft und im Roman selbst eine zentrale Rolle ein. So wiederholen die Bewohner rituell immer wieder »Alt-Wörter«, an die sie sich aus der Voruntergangszeit erinnern, die aber in ihrer Gegenwart keinerlei Bedeutung mehr in sich tragen. Sie sind Relikt einer Kultur, die Heinz und die anderen verloren glauben. Dem fünfzehnjährigen Heinz gegenüber haben jedoch alle anderen Überlebenden der Katastrophe einen Vorteil, sie können sich bewusst erinnern:
»Ich war wirklich kurz davor zu heulen, weil mir bewusst wurde, wie viel Glück die anderen haben, die alle wissen, wer sie sind und woher sie kommen, anders als dieser Junge, als ich.« Den tagebuchartigen Kapitel des Romans dokumentiert das Ich nicht nur die Ereignisse, sondern thematisiert immer wieder die Suche nach seiner eigenen Identität. Wie könnte das auch anders ein, möchte man sagen, wenn hier ein Ich erzählt, das sich im Alter von fünfzehn Jahren auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet? Heinz ist jedoch, das wird schnell klar, kein typischer Fünfzehnjähriger. Sexuelle Gedanken liegen ihm fern, er wirkt schon früh nicht ganz menschlich. Bestärkt wird dieser sehr subtile Eindruck von Kommentaren anderer Figuren wie »Zieht mal jemand den Stecker?«

Als das vermeintliche Paradies der Alpen-Alm zu kollabieren droht, da das schützende Shield wegen ausbleibender Wartung immer wieder ausfällt, beschließen die mittlerweile acht Almbewohner – Özlem und Chang haben derweil eine Tochter namens Xiwang (dt. »Hoffnung«) bekommen – die Alpen zu verlassen, denn schon lange gibt es ein Gerücht, das von einem »großen Lager« jenseits des Rheins, der aufgrund der Polschmelze zu einem großen See angewachsen ist, in dem sich Überlebende versammeln.
Das blaue und grüne Heft, die den Mittelteil von »Die Verteidigung des Paradieses« ausmachen, erzählen von der Reise durch das zerstörte Süddeutschland in Richtung Westen.

In diesem Teil des Romans gleicht »Die Verteidigung des Paradieses« am ehesten konventionellen Science-Fiction- und Dystopie-Szenarien, wie sie einem im Hollywoodkino begegnen. Die Reise durch die menschenleere, verlassene Infrastruktur, auf der die Gruppe höchstens auf wahnsinnig gewordenen, kannibalistischen Mutanten trifft, erinnert an Zombie-Filme wie »28 Days Later« oder »World War Z«. Den Eindruck, den man durch die protokollartigen Aufzeichnungen des Ich-Erzählers von der Voruntergangswelt durch am Wegesrand herumliegende Überbleibsel erhält, erinnern zum Teil an die neue HBO-Serie »Westworld«, in der künstliche Lebenswelten und Roboter, die so menschlich gestaltet sind, dass sie nicht gleich als solche zu erkennen sind, omnipräsent sind.

Nicht alle überleben die Reise, und bevor am Ende das rettende französische Ufer erreicht wird, hält der Roman einige Twists und Wendungen für die Reisegesellschaft bereit, die in ihrer Ereignisfolge ebenfalls aus dem Popcornkino stammen könnten. Schlecht erzählt ist diese Odyssee dabei keinesfalls; »Die Verteidigung des Paradieses«
ist kurzweilig und hält den Spannungsbogen bis zu den letzten Seiten, auf denen Heinz’ Rolle aus der Retrospektive mithilfe des Gedächtnissystems ARCHIVA aufgelöst wird und (fast) keine Fragen offen bleiben.

»Solange ich schreibe, überleben wir.«

»Die Verteidigung des Paradieses« ist, so verkündet Klappentext des Verlags, ein Roman darüber, was es heißt, Mensch zu sein – von Steinaeckers Ansatz ist ein literarischer, denn was die Gemeinschaft vom Wahnsinn abhält, ist die Vergegenwärtigung der Sprache. Das Wiederholen von vergangenen Alltagswörtern und den ersten Sätzen der Weltliteratur, das Aufzeichnen und das Geschichten erzählen ist zentral in diesem dystopischen Roman. Gleichzeitig funktioniert diese Selbstversicherung über das Sprechen nur in der Gemeinschaft; als Heinz während der Reise kurzzeitig in Einzelhaft sitzt, verwehren die sonst so rettenden Worte dem Ich-Erzähler den rettenden Sinn, sie verschwimmen: »Zusammengerollt hängen die Fingernägel wie die Ringe von einem Baum, dessen Name mir nicht einfällt. Birke? Barke? Berke? Fahrnis? Fuhrnuß? Fährnuß? Härte? Hürte? Hörte?«
Sprachlich ist »Die Verteidigung des Paradieses« nicht unbedingt poetisch – vor allem die vielen Anglizismen des jugendlichen Ichs verhindern dies –, aber ausgesprochen intelligent, vielseitig und spannend. Auch wenn es für die Shortlist zum Deutschen Buchpreis nicht gereicht hat – zu den wichtigsten deutschsprachigen Dystopien des Jahres gehört »Die Verteidigung des Paradieses« in jedem Fall.

Besprechung von: Tabitha van Hauten, Mitbetreiberin des Blogs Zeilensprünge


Thomas von Steinaecker: Die Verteidigung des Paradieses. Roman, S. Fischer Verlag 2016, 416 Seiten, 24,99€.

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Philipp Winkler im Gesepräch: über eine Geschlechterquote und den fehlenden Plan B

Mit Philipp Winkler steht ein Debütant auf der Shortlist des diesjährigen Buchpreis, der mit „Hool“ einen ungewöhnlichen Roman über die Hooligan-Szene vorgelegt hat. Gerrit ter Horst hat den Roman für den Buchpreisblog besprochen und wir freuen uns, dass der Autor uns außerdem ein paar Fragen beantwortet hat.

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Copyright: Kat Kaufman

Erst einmal Glückwunsch dazu, dass du mit deinem Roman „Hool“ für den Deutschen Buchpreis nominiert bist – wie hast du von der Nominierung erfahren?

Danke schön, Mara. Ganz unaufgeregt eigentlich. Gunnar Cynybulk, Verlagsleiter bei Aufbau, hatte mir kurze Zeit vor der öffentlichen Bekanntgabe aus seinem USA-Urlaub eine Nachricht über Facebook geschrieben.

Die Freude über die Nominierung war dann wahrscheinlich groß, oder?

Schon auch, klar. Trotzdem hab ich erstmal ne Zeit gebraucht, das zu realisieren.

Der Buchpreis ist jedes Jahr wieder von vielen Diskussionen geprägt: zu wenig Frauen, zu viel alte Autoren – verfolgst du diese Diskussionen? Und wie gehst du damit um?

Nicht wirklich. Man kriegt das schon mit, aber verfolgen, tu ich es nicht. Als weißer CIS-Mann („jüngeren“ Alters) muss man ja eh fast nie mit irgendwas so wirklich umgehen. Ich finds generell schwierig. Allein schon der Anspruch Kunst (in diesem Fall eben Literatur) in Kategorien wie „beste“ zu bewerten… heikel; da es eben zu so einem großen Teil schlicht und einfach subjektive Meinung ist. Aber an sich – da kommt wahrscheinlich auch der Sportfan raus – ist das ja schon spannend und interessant: (mehr oder minder) vergleichbare Dinge in „Konkurrenz“ zu setzen und irgendwie kompetitiv gegeneinander antreten zu lassen. Man sollte dem Ganzen vielleicht nicht so eine krasse Wichtigkeit beimessen und halb ausrasten, wenn mal nicht der eigene Favorit auf der Liste steht. Über eine festgelegte Geschlechterbalance könnte man – ohne, dass ich das jetzt super lange durchdacht habe – aber vielleicht wirklich mal nachdenken. Das wäre zumindest mal einen Versuch wert, denke ich. 10 zu 10 auf der Longlist zum Beispiel. Dass persönliche Lieblingsbücher oder -autor/innen es nicht drauf schaffen, damit muss man ja eh leben, aber dann gäbe es zumindest geschlechtermäßig eine Ausgeglichenheit. Aber wie gesagt: das war jetzt ganz spontan aus der Hüfte geschossen. Man müsste ja noch viel mehr bedenken wie Proportionalitäten, Vorwürfe etwaiger Alibi-Nominierungen etc. pp.

Was bedeuten dir Preise und Auszeichnungen überhaupt beim Schreiben?

Beim Schreiben bedeuten die mir nichts. Würde ich für Preise und Auszeichnungen schreiben, hätte ich wohl vor einigen Jahren schon mit dem Schreiben aufgehört. Trotzdem freuen mich Sachen wie die Nominierung auf die Longlist riesig und es ist ja immer schön Bestätigung und Lob zu erfahren, da braucht man sich gar nichts vormachen.

„Hool“ ist dein Debütroman – wann wusstest du, dass der Text, an dem du arbeitest, das Potential hat, veröffentlicht zu werden? Und wie hast du dich dann auf die Veröffentlichung vorbereitet? Hattest du Angst, den Text aus den Händen zu geben?

Weiß ich gar nicht, ob es so einen Zeitpunkt gab; vielleicht erst als das Interesse von Agenturen kam. Auf die Veröffentlichung vorbereitet? Eigentlich gar nicht wirklich. Wüsste ich jetzt auch nicht wie speziell. Ich versuch nur trotz allem, was jetzt so passiert und auf mich zukommt – worüber und worauf ich mich sehr freue – weiterhin zum Schreiben am nächsten Roman zu kommen. Angst hatte ich überhaupt nicht. Im Gegenteil habe ich mich
drauf gefreut mal wieder mit anderen menschlichen Lebewesen drüber reden und auch zusammenarbeiten zu können.

Eine Frage, die ich mir bei deinem Buch sofort gestellt habe, war die Frage danach, wie viel dieser Geschichte autobiographisch ist und wie viel du dafür recherchiert hast? Kannst du davon ein wenig erzählen?

Autobiographisch ist schon einiges. Angefangen und am präsentesten vielleicht beim Setting. Ich bin in der Gegend Wunstorf-Hannover selbst aufgewachsen. Ansonsten habe ich aber auch damals – bevor ich überhaupt
ein Wort geschrieben habe – erstmal ein halbes Jahr nur recherchiert, auch wenn ich, für jemanden außerhalb der Hooligan-Szene, eh schon relativ viel über das Thema wusste.

Du hast in Hildesheim Literarisches Schreiben studiert, inwieweit hat dich das, was du dort gelernt hast, beim Schreiben beeinflusst?

Ich glaube ganz genau könnte ich das erst reflektieren, wenn noch ein paar Jahre ins Land gegangen sind. Ich habe ja erst 2015 meinen Master gemacht, ist also noch nicht so lang her. Was ich mit großer Sicherheit sagen kann, ist, dass ich mich (bzw. mein Schreiben) ohne das Studium in Hildesheim nicht annähernd so schnell entwickelt hätte… vielleicht würde ich heute sogar was ganz anderes machen und gar nicht schreiben, wer weiß.

Wie fühlst du dich überhaupt als junger Autor im Literaturbetrieb? Ist Schreiben das, was du für immer machen möchtest? Ist Autor dein Wunschberuf? Oder gibt es auch einen Plan B?

Noch sehe ich mich gar nicht so richtig im Betrieb. Weiß deshalb auch nicht wie ich mich da fühlen soll. Vielleicht ändert sich das nach der Veröffentlichung von „Hools“, vielleicht auch nicht. Ich denke schon, dass es das ist. Jedenfalls seh ich noch lange kein Ende in Sicht. Wobei ich mich aber auch nicht ausschließlich auf Romane beschränken will (die jedoch schon so als Primärrichtung einschätzen würde). Kommt eh immer eher auf den Stoff an, den man behandelt und mit dem man sich beschäftigt. Der sollte sich im Idealfall selbst seine Form suchen. Ich denke, Autor ist mein Wunschberuf, ja. Einen Plan B gibts schon länger nicht mehr. Vielleicht sollte ich darüber mal wieder nachdenken… ehh, mach ich morgen oder so.


Philipp Winkler: Hool. Aufbau Verlag, 2016. 310 Seiten, 19,95€.

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Der Weg der Wünsche – Akos Doma

Akos Doma, der 1963 in Budapest geboren wurde, legt mit Der Weg der Wünsche einen hochaktuellen Roman vor: es geht um Flucht und darum, was es bedeutet, alles, was mal das eigene Leben gewesen ist, hinter sich zu lassen. Trotz des spannenden Themas konnte der Roman mich leider nicht wirklich packen.

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In Der Weg der Wünsche wird die Geschichte der Familie Kallay erzählt: Teréz und ihr Mann Károly leben gemeinsam mit ihren Kindern Misi und Bori in einer kleinen Einzimmerwohnung in Ungarn. Wir befinden uns in den siebziger Jahren: die Familie hat keine Chance auf ein größeres Zuhause, da sie nicht im Sinne der Partei lebt. Während der Vater die Chance erhält ein Jahr lang in einem Institut in Deutschland zu arbeiten, wird Teréz entlassen und zur Strafe in ein kleines ungarisches Dorf versetzt. Nach der Rückkehr des Vaters wird der Zustand in dem Land, das ihr Leben lang ihr Heimatland gewesen ist, wird immer unerträglicher – besonders für Teréz. Und so reift bei Károly und Teréz der Entschluss zur Flucht, über Jugoslawien und Italien versuchen sie, nach Deutschland einzureisen.

Diese Flucht ist das Zentrum des Romans: unaufgeregt und nüchtern beschreibt Akos Doma die Auswirkungen der Flucht auf die Familie Kallay. Die Angst davor, an der Grenze entdeckt und zurückgeschickt zu werden. Die Angst vor dem, was dann geschehen könnte. Teréz und Károly erzählen ihren Kindern, dass sie Urlaub am Plattensee machen wollen – doch Misi und Bori durchschauen diese Lüge schnell. Trotzdem versuchen ihre Eltern so unbeschwert wie möglich zu sein – das Auto wird bepackt, als würde es in den Urlaub gehen. Ich kann mir solche Momente nur schwer vorstellen: wie muss es sich anfühlen, die Entscheidung darüber treffen zu müssen, was vom eigenen Leben eingepackt wird und was zurückgelassen werden muss?

Wer verlässt schon gern seine Heimat? Wir gingen, weil uns nichts anderes übrigblieb, nicht einfach so, aus Abenteuerlust oder um die große, weite Welt zu sehen, verstehen Sie, wir sind keine Glücksritter. Wir wollten nie weggehen, man liebt doch seine Heimat, man hat nur die eine.

Akos Doma, der selbst über Budapest, Italien und die Schweiz nach Deutschland geflüchtet ist, erzählt in Der Weg der Wünsche auch vom schrecklichen Stillstand, der die Flucht begleitet: im Auffanglager in Italien lebt die Familie unter schwierigen Bedingungen. Beide Eltern waren früher berufstätig, doch plötzlich haben sie keine Funktion mehr im Leben: die Tage vergehen zäh und langsam, die Weiterreise wird nicht genehmigt und das Warten ist unerträglich.

Ein kleines Büchlein, aber es wiegt hundert vermeintlich große auf. Manchmal, sehr selten, gelingt einem Künstler so etwas und auch dann meist nur ein Mal.

Als die Longlist bekannt gegeben wurde, gehörte Der Weg der Wünsche zu den Büchern, die ich sofort lesen wollte. Es war mir zuvor noch nie begegnet, hat mich aber gleich neugierig gemacht. Doch nach der Lektüre lässt es mich ein wenig ratlos zurück. Akos Doma erzählt eine Fluchtgeschichte, die heutzutage kaum aktueller und wichtiger sein könnte, als jemals zuvor, doch ein gutes Thema reicht nicht aus, um daraus gleichzeitig ein gutes Buch zu machen. Es gab nur wenige Stellen, an denen mich die Erzählung wirklich packen konnte: größtenteils war es mir zu zäh, zu nüchtern, zu steril. Genauso nüchtern habe ich auch die Sprache empfunden: was macht man mit einem Buch, das man zwar ganz gerne gelesen hat, in dem man aber kaum einen einzigen Satz markiert hat, der sich sprachlich abgehoben und eingebrannt hat? Das führt mich wieder zu der Frage, die ich mir in meinem Leserleben schon häufiger gestellt habe: was ist wichtiger, damit ein Roman für mich funktionieren kann – die Sprache oder der Inhalt? In Der Weg der Wünsche vermag der Inhalt mich zwar zu interessieren, doch darüber hinaus springt dieser viel beschworene Funke leider nicht über.

Es ist ein wenig schade! Dennoch wünsche ich diesem Roman möglichst viele Leser, schon alleine aus dem Grund, dass ich dann die Chance erhalte, über meine Schwierigkeiten und mein Unbehagen ins Gespräch zu kommen!

Besprechung von: Mara Giese, Betreiberin von Buzzaldrins Bücher

Akos Doma: Der Weg der Wünsche. Rowohlt, August 2016. 336 Seiten,  €19,95. Weitere Besprechungen auf: Literatur leuchtet und Masuko


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Hans Platzgumer: Am Rand

Gerold Ebner ist früh am Morgen aufgestanden, hat die Wohnung aufgeräumt, sich bereit gemacht für den Aufstieg auf den Berg. Dort sitzt er nun in der beginnenden Morgendämmerung, dick bekleidet, denn es ist Oktober, und beschreibt die 100 Blätter, die er mitgebracht hat, mit seiner Lebensgeschichte. Er sitzt am Rand des Gipfels und blickt – auch aus der Distanz, die sich durch den Blick von oben ergibt – auf sein Leben. Er will aufschreiben, wie es gekommen ist, dass er nun hier oben sitzt. Am Abend, wenn er die 100 Blätter mit seiner Lebensgeschichte (seiner Lebensbeichte?) gefüllt hat, will er den einen Schritt tun vom Rand in den Abgrund.

PlatzgumerGerold Ebner steht aber nicht erst heute am Rand, er steht schon seit seiner Geburt am Rand. Seine Mutter ist eine Prostituierte, die weggelaufen ist aus dem sehr patriarchal geführten elterlichen Haus, sexuelle Ausbeutung hat dort wahrscheinlich auch stattgefunden, in Glurns (Südtirol). Sie ist nach Bludenz (Vorarlberg) gelangt, arbeitet seit Gerolds Geburt im Kloster als Altenpflegerin, hat eine Wohnung in der Südtirolersiedlung bezogen. So wie ihr Land schwankend war in seiner Zugehörigkeit, mal österreich-ungarisch, im nächsten Moment italienisch, aber mit einer großen Sehnsucht, dass Hitler sie „Heim ins Reich“ hole, so unterstellte man auch den Südtirolerinnen Wankelmut: „Mal zu den Faschisten, mal zu den Nazis, mal zu den Widerstandskämpfern. Nicht deutsch und nicht nichtdeutsch, waren sie, mal hier, mal da.“ Und so wird Gerold gleich zweifach ausgegrenzt aus der Gemeinschaft in der Schule: als Sohn einer Prostituierten – dass die nun bei den Nonnen arbeitete, zählt nicht –  und als Südtiroler Junge, erkennbar an der Adresse und am Dialekt: „Überall wurde Ortsfremden zu verstehen gegeben, dass sie anders waren.“

Gerold findet zwei Freunde in der Siedlung, Guido und Peter, sie behaupten sich gegen die rivalisierenden anderen Jungengruppen, die Kinder der ausgewanderten Jugoslawen, die auch in der Südtirolersiedlung wohnen. Die drei gehen zum Karate-Unterricht, um sich nicht mehr verprügeln lassen zu müssen, sie lernen den Kampfschrei „Kiai“, die strengen Regeln und werden immer wieder an ihre „individuelle Nichtigkeit“ erinnert. Nachts klettern sie auf den abgesperrten Baustellen herum, suchen den besonderen Kick – oder die Grenzerfahrung – bei halsbrecherischen Kletterübungen auf Gerüsten und Kranen. Alle drei werden später, nach der Schule, selbst Bauarbeiter, Guido und Peter sterben durch Unfälle auf ihren Baustellen.

Der Tod ist überhaupt ein mächtiges Motiv in Gerolds Bericht. Schon früh lernt er ihn kennen und findet ihn faszinierend. Der ältere, alleinlebende Nachbar, Herr Gufler, wird nach einem Jahr tot in seiner Wohnung gefunden, mumifiziert fast, der Fernseher läuft noch immer. Gerold, kaum sieben Jahre alt, gelangt hinter seiner Mutter in die Wohnung und betrachtet den Toten genau. Die Mutter muss ihn „mit Gewalt aus der Guflergruft hinausschieben.“

Und dann taucht der Großvater wieder auf, besucht die Tochter, als ob nichts gewesen wäre und fordert den Respekt für sich, den er für angemessen hält, er, den die Kollegen im Bergbau „Monarch“ genannt haben.  Er arbeitet als Mineur im Berg- und Tunnelbau, kommt zunächst auch nur zu Besuch, aber als er wegen der Staublunge nicht mehr arbeiten kann, als er pflegbedürftig wird, da zieht er wie selbstverständlich zu seiner Tochter und in Gerolds Zimmer. So krank er auch ist, seine Tochter kann er immer noch gut herumkommandieren und sie setzt dem nichts entgegen.

Als Gerold einmal seine Mutter besuchen will, aber nur den Großvater antrifft, der schlafend und röchelnd in seinem Bett liegt, weiß Gerold genau, was zu tun ist: „Ich fühlte, wie dieser Moment mir ganz alleine gehörte. Der Alte war mir völlig ausgeliefert.“ Er drückt dem Großvater ein Handtuch auf das Gesicht, und drückt auch weiter zu, als der Großvater erwacht und sich zu wehren beginnt. Mit Genugtuung beobachtet er den Todeskampf des Großvaters: „Der Alte würde keine Chance haben, sich mir zu entreißen. Ich sah, wie die Todesangst seinen Körper durchraste, und spürte meine Kontrolle über ihn, meine Dominanz.“ Nach dem Tod räumt er auf, vernichtet alle Spuren, die darauf hinweisen könnten, dass der Großvater nicht eines natürlichen Todes gestorben sei. Der Mutter, die nie eingestehen würde, wie sehr sie erleichtert ist vom Tod des Vaters, fühlt Gerold sich eng verbunden durch das stille und stumme Einverständnis, das er aus ihrem Verhalten meint ablesen zu können. Und er meint, dass seine Schuld ihr gegenüber nun abgetragen sei.

Gerold wird noch einmal töten, wird eine Art Sterbehilfe ausführen für seinen Freund Guido, der nach einem grässlichen Unfall mit Säure auf der Baustelle nicht mehr leben möchte. Beide Taten nehmen wir ihm zunächst ab, verurteilen ihn nicht, verdammen ihn nicht. Denn wir haben ihn kennengelernt als durchaus empathischen, freundlichen und nachdenklichen Menschen. Und trotzdem bleibt zu fragen, ob Gerold seine Umgebung immer richtig zu deuten weiß. Gerade beim Tod des Großvaters bleiben die Motive – und auch die vermeintlich erkennbare spätere Erleichterung der Mutter – doch recht undeutlich, weil Gerold nie erzählt, wie der Großvater seiner Mutter nun zusetzt. Gerold scheint sich als Retter seiner Mutter aufgerufen zu fühlen, ob es diesen Wunsch der Mutter überhaupt gibt, ob dies nicht eine Fehlinterpretation ist, bleibt offen. Und auch die Tötung des Freundes, auch hier findet kaum eine Kommunikation statt, denn die Säure hat Guido ja den Rachen verätzt, bleibt vage, wird ganz aus Gerolds Sicht erzählt, der offensichtlich die Zeichen deutet, sie den Lesern aber nicht nahebringt.

So steht der Leser mit dem moralischen Dilemma alleine, denn er findet diesen zweifachen Mörder doch auch sympathisch, respektiert, auch wegen seiner schwierigen Biografie. Erklärungen gibt es selten. Das macht – zum einen – durchaus den Reiz der Geschichte aus, der Leser ist gefordert, muss selbst Fragen stellen, Argumente abwägen. Und in dieser Art ist Gerolds Beichte insgesamt angelegt: er erzählt, er reflektiert auch, aber er erklärt sich nicht, verteidigt sich nicht.

Und dann gibt es noch den Elena-Part der Geschichte. Gerold verliebt sich in Elena, die auch eine Einzelgängerin ist. Er meint, er habe sie genau im richtigen Moment kennengelernt, als sie sich für eine kurze Zeit der Welt geöffnet habe und ihn an sich herangelassen habe. Elena studiert und übersetzt dann von zu Hause. Die beiden scheinen sich fern zu halten von zu vielen Menschen, scheinen wenig soziale Kontakte zu pflegen, scheinen ganz zufrieden in ihren recht alltäglichen Leben zu sein. Zwar beschreibt Gerold Elena als einen Menschen, dem die Gewöhnung zuwider ist – ein Grund, warum sie nicht heiraten -, viele ungewöhnliche Ereignisse aus ihrem Leben berichtet er nicht. Trotzdem scheint Elena die treibende Kraft in der Beziehung zu sein. Denn als sie sich ein Kind wünscht, da akzeptiert Gerold den Wunsch. Und hofft nur heimlich, dass Elena möglichst nicht so schnell schwanger werde, damit er noch lange Zeit alleine mit ihr sein kann. Tatsächlich klappt es nicht mit einer Schwangerschaft, und als dann in einem Motel in Frankreich nachts ein kleines Mädchen weinend auf der Treppe sitzt, da ist Elenas Plan schnell gefasst.

Und so ist – zum anderen – die Erzählkonstruktion insgesamt nicht überzeugend. Zu viele Aspekte aus Gerolds Leben bleiben im Dunkeln: Wie es zu der Entscheidung kam, Bauarbeiter zu werden, beispielsweise, warum er nicht andere Wege eingeschlagen hat. Ob ihm andere Wege durch gesellschaftliche Ausgrenzung versagt blieben oder ob er es selbst gewesen ist, der so entscheiden hat?  Es ist schon befremdlich, Gerolds Lebensgeschichte zu lesen, seiner Geschichte mit den – durchaus kunstvollen – Vor- und Rückblenden zu folgen, immer wieder zur Rahmenerzählung auf dem Berg zurückzukommen, einer Geschichte also, die durchaus ihren dramaturgischen Reiz hat, und dabei einen Bauarbeiter vor Augen zu haben, der bisher noch gar nichts zu Ende geschrieben hat, nicht eine kürzere Erzählung.

Und wenn schon nicht die zwei Tötungen befremdlich sind, dann doch die Geschichte um das gefundene Kind, das Gerold und Elena kurzerhand entführen und als eigenes annehmen. Kann wirklich eine problematische Kindheit erklären, dass da einer immer wieder selbst Dinge entscheidet, die nach den Konventionen unserer Gesellschaft aus gutem Grund an anderer Stelle entscheiden werden sollten? Kann es wirklich sein, dass nie andere Lösungsverfahren gesucht werden, als die, die Gerold anwendet oder zu denen er sich überreden lässt? Kann jemand so naiv sein, zu meinen, mit dem Findelkind nun unbeschwert Familie spielen zu können? Kann das alles als Folge der gesellschaftlichen Ausgrenzung oder der Karate-Doktrin von der „individuellen Nichtigkeit“ erklärbar gemacht werden?

Auch wenn die Themen des Romans, nämlich Liebe, Freundschaft und Tod, aus verschiedenen Perspektiven umkreist werden, so ist Gerolds Geschichte insgesamt doch zu deutlich konstruiert, als dass der Leser sich in sein Leben einfinden und einfühlen kann. So ist es schon eine Überraschung, diesen Titel auf der Longlist zu finden und es ist nachvollziehbar, dass er nicht auch für die Shortlist nominiert wurde.

Hans Platzgumer (2016): Am Rand, Wien, Paul Zsolnay Verlag

Besprechung von: Claudia Pütz, Betreiberin von Das graue Sofa

 

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André Kubiczek „Skizze eines Sommers“

1985 ging ich in die dritte Klasse und trug das blaue Halstuch als Zeichen der Jungpioniere. Ich las schon damals für mein Leben gern, meist Tiergeschichten, und auch an die Hefte mit den Geschichten von Lolek und Bolek, zwei polnischen Trickfilmfiguren, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Um an besondere Bücher zu kommen, benötigte man in der DDR gute Beziehungen oder reichlich Kohle zum richtigen Zeitpunkt. René, Held des Romans „Skizze eines Sommers“ von André Kubiczek, legt schon einmal stramme 60 Mark für eine Baudelaire-Ausgabe aus dem westlichen Hanser-Verlag hin, die es dank der Leipziger Buchmesse in den Buchhandel geschafft hat und im Geschäft wie ein kostbarer Schatz präsentiert wird – was er für seinen künftigen Besitzer ja auch ist. Jene heiteren, aber auch die Verhältnisse in der DDR widerspiegelnden Episoden lassen sicherlich bei dem einen oder anderen Leser persönliche Erinnerungen entstehen, aber „Skizze eines Sommers“ ist vor allem ein Buch über einen Jugendlichen, der sich findet.

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Denn René, der sich meist in schwarze Klamotten hüllt und die in der DDR verpönte dekadente und nihilistische Literatur, meist französische Klassiker, förmlich verschlingt, ist nicht unbedingt ein „normaler“ Junge.  Der 16-Jährige hat als Kind seine Mutter an den Krebs verloren, sein Vater, der in die Schweiz zu einer Friedenskonferenz gerufen wird, lässt seinen Sohn gleich einmal mehrere Wochen allein in der gemeinsamen Wohnung in Potsdam zurück, allerdings mit einer nicht unerheblichen „Ferienkasse“ in Form mehrerer Scheine. Langeweile kommt nicht auf: René weiß mit Dirk, Mario und Michael einige Kumpels um sich, mit denen er sich die Zeit vertreibt, herumhängt, in die Disco geht. Und da sind ja auch noch Mädchen, die die Jungs umschwirren. René pendelt hin und her, ist von der düsteren Rebecca, der lebensfrohen Bianca und der Seelenverwandten Victoria gleichermaßen fasziniert. Bis er das richtige Mädchen an seiner Seite weiß, vergehen einige Wochen, wird er von Ratschlägen seiner Freunde förmlich überschüttet, verlassen einige der Angebeteten die Stadt in Richtung Urlaub. René bleibt hingegen zurück, bis er mit Mario  zu einer kleinen Tour nach Thüringen aufbricht, um dessen Freundin Connie zu überraschen.

Die besonderen Ereignisse sind im Roman recht überschaubar, an einer Stelle betont René, zugleich Ich-Erzähler, dass der Sommer zwar monoton, aber doch recht „schön“ sei. Er ist allein, von vertrauten Dingen umgeben und hat damit auch die Möglichkeit, sich auszutesten – in Sachen Freundschaft und Liebe, in Sachen Alkohol und Zigaretten, so wie man sich eben das Jugendlichsein vorstellt. Die Zeit der Handlung, das Jahr 1985, wird in einigen Anmerkungen mit Verweis auf geschichtliche Ereignisse sichtbar: der Bergarbeiter-Streik in England, der Contra-Krieg in Nicaragua, die Wahl Michael Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion. Mit Verweisen auf die Bedingungen und den Alltag in der DDR hält sich Kubiczek maßvoll zurück, was sympathisch erscheint. Plattenbauten und Konsum, Mangelwirtschaft und Subbotnik sowie die Kluft zwischen Proletariat und Intelligenz lassen Ort und Zeit erkennen. Er scheint das Siegel „Roman über die DDR“ nicht zu benötigen.  Weil auch die persönliche Geschichte der Jugendlichen viel interessanter erscheint und in den Vordergrund rückt. Renés Bericht begeistert dabei dank seines wunderbar frechen Charmes, der zwischen Lebensfreude und Melancholie hin und her pendelt, mal einen ganz feinen Humor, mal eine gewisse Nachdenklichkeit offenbart. Er lässt seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf, ist noch immer vom Tod der Mutter gezeichnet, wird später von einer herben Liebeserfahrung schockiert sein.  Die neuen, aber eigentlich schon früher empfundenen „Schmetterlinge im Bauch“ für Victoria werden ihn verändern. Seine Grundehrlichkeit in Richtung Leser und die Einblicke in sein Seelenleben, auch in der Gefahr hin sich zu blamieren, imponieren ungemein.

„Und ich dachte, ja, sie hatten total recht, die Triffids, wenn man nicht selber eingehen wollte vor lauter Kummer und Elend im Herzen, dann musste man eben das töten, was man nicht bekam. Man musste es aus seiner Erinnerung reißen und nicht erst warten, bis es nach Jahren von selbst verblasst war. Man musste das mit Gewalt tun und so schnell, wie man ein Pflaster abriss von einer verkrusteten Wunde. Zack.“

Begleitet wird der Roman von seinem eigenen Soundtrack, in jedem Teil des Buches und auch innerhalb der Handlung finden sich Zitate aus Songs dieser Zeit, den Lieblingstiteln Renés – von den Simple Minds bis hin zu The Smiths. Auch Bibliophile werden auf ihre Kosten kommen, spielt doch die Hingabe zur Literatur in einigen Szenen eine ganz wesentliche Rolle. Mit dem Ende der Ferien und dem Abschluss des Romans – für René brechen andere Zeiten an – entsteht beim Leser ein gewisses melancholisches Gefühl, denn Held und Ich-Erzähler, auch seine gewisse Plapper-Laune, hat man lieb gewonnen. Eine Fortsetzung sollte deshalb unbedingt her.

Der Buchpreisblog verlost ein Exemplar von „Skizze eines Sommers“. Wer dieses gewinnen möchte, hinterlässt bis zum Freitag, 28. Oktober, einen Kommentar, vielleicht mit einigen Erinnerungen an den Sommer 1985.

Besprechung von: Constanze Matthes, Betreiberin des Blogs „Zeichen & Zeiten“


André Kubiczek: „Skizze eines Sommers“ erschien im Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 19,95 Euro

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Die Welt im Rücken – Thomas Melle

Schreiben über das, worüber man eigentlich nicht sprechen kann. Genau das tut Thomas Melle in seinem vielbeachteten Buch Die Welt im Rücken. Er findet glasklare Worte für seine Erkrankung, beschönigt nichts – es klingt wie ein Klischee, doch ich habe dieses Buch atemlos und mit großer Beklemmung verschlungen.

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„Ich“ zu sagen, ist unter den gegeben Umständen gar nicht einfach, umso entschiedener tue ich es. Wenn ich nicht wirklich versuche, meine Geschichten einzusammeln, sie zurückzuholen, die Stimme in eigener Sache unverstellt zu erheben, bleibe ich, auch und gerade im Leben, ein Zombie, ein Wiedergänger meiner selbst, genau wie meine Figuren.

Thomas Melle hat mit Die Welt im Rücken keinen Roman vorgelegt, sondern eine Autobiographie. Es ist die Autobiographie einer Erkrankung: Thomas Melle ist bipolar. So lautet zumindest die neumodische Krankheitsbezeichnung. Man könnte stattdessen auch sagen, dass er an einer manisch-depressiven Erkrankung leidet. Den euphorischen Höhenflügen folgen in erschreckender Regelmäßigkeit die brutalen Bruchladungen in der Depression. Eine Besonderheit der Erkrankung von Thomas Melle ist es, dass die Phasen von Manie und Depression besonders lange dauern. Was bei einigen Erkrankten im Wechsel von wenigen Tagen geschieht, dauert bei ihm manchmal ein ganzes Jahr.

Wir redeten noch weiter über diese Zustände, diese massiven Hoch- und Tiefdruckgebiete der Psyche, ohne dass ich beschreiben wollte oder konnte, was meine Krankheit für mein Leben bedeutete.

Das langsame Hineinrutschen in eine psychische Erkrankung wird von Thomas Melle genauso eindrücklich beschrieben, wie die Hoch- und Tiefdruckgebiete der Manie und Depression. Aufgeteilt ist das Buch in die drei schweren Krankheitsschübe, die Thomas Melle bisher erleben musste: in den Jahren 1999, 2006 und 2010 war das Leben des Autors fest in den Händen einer fürchterlichen und erschütternden Krankheit. In den Phasen der Manie tut Melle Dinge – sehr eindrücklich beschreibt er zum Beispiel zu Beginn, wie er in einer manischen Phase fast seine gesamte Bibliothek weggibt – für die er sich in den depressiven Phasen zutiefst schämt. Da hat ein Mensch gehandelt, der nicht er gewesen ist. Die Folge sind mehrere Suizidversuche in Phasen tiefster Verzweiflung.

Erst bin ich manisch, dann depressiv: ganz einfach. Erst kommt der manische Schub, der bei den meisten ein paar Tage bis Wochen, bei wenigen bis zu einem Jahr dauert; dann folgt die Minussymptomatik, die Depression, die völlige Verzweiflung, solange sie nicht von fühlloser Leere aufgelöst und ins dumpfe Amorphe verformt wird.

Thomas Melle erzählt von den euphorisierenden Momenten, von den Wahnvorstellungen, den dunklen Stunden – ohne etwas zu beschönigen. Er erzählt von seinen Klinikaufenthalten, dem Moment, in dem er seine Wohnung verliert, dem Moment, in dem ihm eine Betreuung zur Seite gestellt werden muss, weil er keine Entscheidungen mehr für sich selbst treffen kann. All das wird in einer glasklaren und – auch wenn dies dem Inhalt sicherlich nicht angemessen ist – wunderschönen Sprache erzählt.

Es gelingt dem Autor, eine kaum greifbare Erkrankung fassbarer zu machen – nicht nur das Erleben des direkt Betroffenen, sondern auch das, was die nahen Angehörigen aushalten müssen. Thomas Melle hat das Glück, ein dichtes Netz an Freundschaften zu haben, doch eine manisch-depressive Erkrankung strapaziert auch die engsten Freundschaften. Immer wieder bricht er Versprechen, verlässt Kliniken und enttäuscht die Hoffnungen der Freude.

Die ganze Welt habe ich im Rücken, die ganze Geschichte. Es gibt keine Schuldigen, nur die Schuld, die als Abstraktum über mir schwebt, eine Art emergenter Entität, die nicht auf einzelne Menschen zurückführbar ist.

Warum dieses Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreis steht, ist mir nicht klar, denn für mich ist Die Welt im Rücken eine Autobiographie, kein Roman. Doch gleichzeitig finde ich es schön, dass Genregrenzen aufgelöst werden – denn was immer dieses Buch auch ist, es ist und bleibt ein beeindruckendes Stück Literatur und das bewegende Zeugnis einer psychischen Erkrankung. Zu so viel Selbstentblößung – eine Selbstentblößung, die nichts mehr lässt, die den Autor nackt und angreifbar macht – gehört unfassbar viel Mut und ich kann dem Autor nur dafür danken, dass er diesen Mut gefunden hat.

Die Welt im Rücken ist ein beeindruckendes Buch, das sich einem Thema annimmt, über das häufig gerne geschwiegen wird. Ich wünsche dem Text viele Leser und hoffe, dass er dem einen oder anderen Erkrankten und Angehörigen ein wenig helfen kann.

Besprechung von: Mara Giese, Betreiberin von Buzzaldrins Bücher


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Bodo Kirchhoff. Widerfahrnis

Widerfahrnis – das ist das, was jemand erfährt oder erlebt, das, was jemandem zustößt, was ihm begegnet, was über ihn hereinbricht. Julius Reither stößt so einiges zu in diesen paar Tagen im April und er lässt auch zu, was ihm widerfährt, lässt sich mitreißen und erlebt Dinge, mit denen er eigentlich schon abgeschlossen hatte. Ganz spontan und ohne großen Plan reist er in den Süden, reist vom späten Winter in Bayern mit Schnee und Eis in den frühen Sommer Italiens, mit Sonne und Wärme, dem besonderen Licht des Südens und den Blick auf das Meer. Je mehr dabei die Sonne scheint und er die Wärme und das Licht genießt, umso mehr scheinen auch seine eingefrorenen Gefühle aufzutauen. Und neben dem Gefühlsabenteuer gibt es auch noch das ein oder andere Abenteuer zu bestehen bei diesem Road-Trip, denn immerhin geht die Reise ja genau dorthin, wo die Flüchtlinge landen, die aus Afrika über das Mittelmeer kommen.

KirchhoffFast könnte man tatsächlich meinen, dass Reither so ziemlich mit allem in seinem Leben abgeschlossen hat: seinen Kleinstverlag samt Miniaturbuchhandlung hat er liquidiert, hat sich aus Frankfurt zurückgezogen in ein kleines Appartement im Weissachtal, ganz im Süden Bayerns, kurz vor der Grenze zu Österreich. Hat im letzten Jahr zum letzten Mal eine Reise nach Italien unternommen und nun sein Auto verkauft, nicht, weil es ihm nicht mehr gefallen hätte dort, vielmehr, weil „ja alles Schöne irgendwann zum letzten Mal (geschieht) (…) Und besser, man bestimmt diesen Zeitpunkt selbst.“ An diesem Abend, als ihm das erste unerwartete Ereignis zustößt, öffnet er die letzte Flasche des Weines, den er im letzten Jahr gekauft hat in Apulien.

Und genau an diesem Abend klopft, nach langem Überlegen, Leonie Palm an seine Apartmenttür. Er ist ein bisschen knurrig, will sie loswerden, doch Leonie lässt sich so schnell nicht beirren. Bald rauchen sie zusammen eine Zigarette, bald trinken sie ein Glas Wein aus der letzten Flasche des Vorrates, bald dreht sich das Gespräch um weit persönlichere Themen als den Lesezirkel, zu dem Leonie ihn doch einladen wollte.

Sie reden über ein Buch nämlich, dass Reither am Nachmittag aus der Hausbibliothek mitgenommen hat, ein Buch, das zwar einen Autorinnennamen trägt, aber keinen Titel und das, das sieht Reither sofort, im Selbstverlag erschienen ist. Leonie Palm sieht es auf dem Tisch liegen, hat schon gesehen, dass er es nachmittags mitgenommen hat, und beginnt nun draus vorzulesen. Sie liest von einer jungen Frau, die sich eines Abends, aus Liebeskummer wohl und stark alkoholisiert, an einen Waldsee legt – und erfriert. Und sie liest von der Mutter, die am Tag nach der Beerdigung sich an dieselbe Stelle des Sees legt, um nachzuempfinden, was die letzten Eindrücke der Tochter gewesen sind.

Und über Reither sprechen sie, über seine verflossene Liebe Christine, die ihn verlassen hat vor vielen Jahren, ausgerechnet bei einem Italienurlaub. Reither erzählt auch unumwunden den Grund des Sitzenlassens. Christine nämlich war schwanger und beide waren sich sicher, dass Kind nicht bekommen zu wollen, sie entschieden sich „mit zwei zu null Stimmen, das Kind konnte ja nicht mitentscheiden.“ Aber Christine ging, „Hals über Kopf“, erzählt Reither. „Sie fand es ungeheuerlich, dass wir beide das werdende Leben in ihrem Bauch einfach überstimmt haben.“

Zwei über 60-Jährige treffen sich hier also, mit der einen und anderen Schramme auf der Seele. Leonie Palm ist die aktivere, sie schlägt im Laufe des Abends vor, doch eine Spritztour zu unternehmen und den Sonnenaufgang am Achensee zu betrachten. Und boxt ihn dabei, mit der Faust auf die Brust. Am Achensee sind sie mitten in der Nacht, für den Sonnenaufgang, müssten sie viel zu lang im Auto sitzen und warten, bei Schnee und Eis draußen, und so ergibt es sich, ganz natürlich quasi, dass sie weiterfahren, über den Brenner nach Verona und dann immer weiter in den Süden nach Sizilien. Das Licht wird heller, die Temperatur steigt, die Gespräche umkreisen die Erlebnisse des Lebens, die Gedanken und Reflektionen Reithers in den Zeiten des schweigenden Fahrens kreisen auch darum.

Und diese Reflektionen verraten Reithers Lebensthema. Er ist Lektor, streicht – auch heute noch – jedes Wort aus seinen Gedanken, Überlegungen, Sprechakten, das nur im Entferntesten etwas zu tun haben könnte mit Gefühlen. Leonie Palms Buch so erklärt er, hätte er ihr sofort zurückgeschickt, einen freundlichen Dreizeiler dazu geschrieben, erklärt, das Thema passe nicht ins Programm des Verlags. Das Lieben selbst hat er sich versagt, hat die Liebe höchstens in der Literatur zugelassen, hat aber alle Wörter aus den Texten eliminiert, die „weich“, „faulig“, und „süß“ waren, bis nur noch Sätze übrigwaren „wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches.“

Wer so durchs Leben geht, wer schon die – eigene – Sprache lektoriert und korrigiert, wer das Leben und das Lieben so kontrolliert, wer sich selbst ständig beobachtet, seine Erlebnisse nur wahrnimmt, als seien sie aus zweiter Hand – hier erinnert Reither als Frischs Walter Faber, der sich das Leben mit der Kamera vom Leib hält -, der wird auch das kleine Glück, dass ihm auf einmal auf Sizilien wiederfährt, nicht lange erhalten können – und vielleicht liegt es auch gar nicht nur an ihm selbst, dass das so ist, denn Leonie Palms Schrammen und Verletzungen befeuern die Paar-Dynamik auch noch.

So wird sein Road-Trip nach Sizilien zu einer Geschichte, und das erzählt schon der erste Satz der Novelle, die ihm „noch immer das Herz zerreißt“. Hier deutet sich, ganz am Anfang schon und leicht zu überlesen, eine Veränderung an, eine Entwicklung. Die mag mit dem Trip nach Sizilien zu tun haben, mit dem Licht und der Wärme, beides ja geeignet, die inneren Vereisungen zu überwinden. Sie mag zu tun haben mit den Gesprächen mit Leonie, mit seinen Lebensbetrachtungen, mit dem Erlebnis des Lebens als Familie, das widerfährt ihnen nämlich, zumindest für einen Tag. Sie mag aber auch damit zu tun haben, dass er, als er Leonie verliert, Flüchtlinge trifft aus Afrika, die den beschwerlichen und gefährlichen Weg über das Mittelmeer geschafft haben und ihm nun helfen, ohne Fragen zu stellen, einfach, weil er Hilfe braucht. In dieser Familie, Vater, Mutter und ein Säugling, eine heilige Familie fasst, sieht er, wie es auch sein kann, wenn Menschen sich auf einander verlassen und vertrauen und sich gemeinsam auf solch einen Weg machen, der auch mit dem Tod enden kann. Wieder ein Widerfahrnis.

Bodo Kirchhoff hat eine ganz überzeugende Novelle geschrieben, einen Text, der völlig zu Recht auf der Shortlist zum Buchpreis steht und dem durchaus noch mehr zuzutrauen ist. Diese Novelle ist eine der Bücher in dieser insgesamt schwachen Longlist, die heraussticht durch eine unaufgeregte Geschichte, einer Handlung, die nicht konstruiert erscheint, mit einer Sprache, die genau zu dem Protagonisten Reither, dem Lektor, passt, und einer Reihe von Motiven, die immer wieder aufgegriffen werden, die wie rote Fäden die Sizilien-Reise begleiten. Und auch der Blick auf die aktuelle Situation, auf die Flüchtlinge, die sich den beiden Reisenden entgegen nach Norden bewegen, ist kein bisschen aufgesetzt, sondern zeigt das, was Italienreisende all überall an den Autobahnen und Bahnhöfen beobachten können.

Kirchoffs Novelle ist, und ich habe große Kritik an den vielen Titeln auf der Longlist geübt, die sich damit beschäftigten, auch eine Sinnsuche. Noch dazu der Sinnsuche zweier älterer Menschen, die noch einmal schauen, ob sie nicht doch möglich sind, das Glück und die Liebe. Das empfinden Leser manchmal ja durchaus als Zumutung. Diese Sinnsuche aber ist literarisch überzeugend erzählt, es ist eine Suche, die zeitlos ist, es ist eine Geschichte, die wohl auch noch in zehn Jahren aktuell und zeitgemäß ist, wenn man „Widerfahrnis“ wieder zur Hand nimmt und Leonie Palm Julius Reither die Faust auf die Brust drückt.

Reither fragt auch, welchen Titel sie sich für ihr – namenloses – Buch vorstellen könnte. Leonie Palm überlegt, dann aber ist klar: „Widerfahrnis“ würde sie es nun nennen.

Bodo Kirchhoff (2016). Widerfahrnis, Frankfurt am Main, Frankfurter Verlagsgesellschaft

Besprechung von: Claudia Pütz, Betreiberin von Das graue Sofa

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Ein langes Jahr von Eva Schmidt

In diesem Roman begegnen wir den unterschiedlichsten Menschen. Wir werden mit Situationen konfrontiert, um auf der nächsten Seite direkt wieder einen Szenenwechsel zu erleben. Mit feinem Gespür sehen wir den Menschen dabei zu, wie und wo sie gerade in ihrem Leben stehen. Alle verbunden durch diese Stadt, die mal so weit und mal so klein erscheint und doch sind am Ende alle auf die ein oder andere Art und Weise alleine. Beobachtend, Abwartend. Die Faszination ist groß, so dass diese Schlaglichter einen richtiggehenden Sog entwickeln.

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Kleine, fein gesetzte Akzente, vermitteln dem/der Leser*in schnell ein Gefühl der Person. Hier wird in kunstvollen Strichen erzählt, gerade soviel, dass man einen Blick, eine Ahnung für die einzelnen Schicksale bekommt, gleichzeitig aber doch ein wenig im Ungewissen bleibt, sich seine eigene Version, seinen eigenen Reim auf die Geschehnisse machen kann. Das Personal dieses Romans schwirrt einem noch eine Weile im Kopf herum, es hat sich unauffällig im Verlaufe des Romanes in meine Gedanken eingeschlichen und will nicht mehr hinaus.

Eva Schmidt blättert in einem Katalog des Lebens, fächert ihn mit all seinen Facetten vor uns auf. Mit der Tragik, unfreiwilligen Komik, mit Freude und schwarzen Schattenseiten, die doch untrennbar zu den Höhen dazugehören. Ein kluges, unaufgeregtes Buch und innerhalb der Shortlist eine meiner liebsten Entdeckungen!

Besprechung von: Sarah Reul, Betreiberin des Blogs pinkfisch.net


Eva Schmidt: Ein langes Jahr. Jung & Jung Verlag, März 2016. 208 Seiten, 20,00€.

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Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke – Joachim Meyerhoff

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke ist der letzte Teil einer Trilogie, doch man muss sich nicht sorgen: das Buch lässt sich auch für sich alleine stehend wunderbar lesen und verstehen. Für mich ist das Buch die große Überraschung dieser doch etwas sperrigen Longlist und mein kleiner persönlicher Gewinner.

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Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten nicht unterschiedlicher sein können. Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: „Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln.

Joachim Meyerhoff – der nicht nur Bücher schreibt, sondern auch als Schauspieler und Regisseur arbeitet – hat mit Alle Toten fliegen hoch einen mehrere Jahre umfassenden und stark autobiographischen Romanzyklus vorgelegt. In Amerika erzählt von seinem Auslandsjahr in den USA und den Unfalltod seines Bruders, in Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war schreibt er über den Tod seines Vaters und seine Kindheit, die er auf dem Gelände der Schleswiger Psychiatrie verbracht hat. In Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke – dem Abschlussband des Zyklus – wendet sich Meyerhoff nun seiner Zeit auf der Schauspielschule sowie dem Tod seiner Großeltern zu. Diese Großeltern sind übrigens nicht ganz unbekannt: Inge Birkmann hat selbst als Schauspielerin gearbeitet, ihr Mann Hermann Krings war als Philosophieprofessor tätig.

Als Joachim Meyerhoff mit zwanzig Jahren eigentlich ins Schwesternwohnheim ziehen möchte, um dort seinen Zivildienst abzuleisten, erhält er überraschend eine Einladung zur Schauspielschule in München. Da er auf die Schnelle keine Bleibe findet, ist er dazu gezwungen, bei seinen Großeltern einzuziehen, die gut betucht in einer Münchner Villengegend leben. Die herrlich charmanten und teils verrückten Abläufe im Hause seiner Großeltern beschreibt Meyerhoff mit einer wunderbaren Beobachtungsgabe. Angefangen vom Tagesablauf, der in Getränke unterteilt ist, die im Laufe des Tages zu sich genommen werden – vom morgendlichen Champagner, über den mittäglichen Weißwein bis hin zum abendlichen Whiskey – bis hin zu einschläfernden Diaabenden und der Gymnastiksimulation seines Großvaters.

Meine Großmutter war Schauspielerin, hatte aber das Theaterspielen schon Mitte der Sechzigerjahre aufgegeben. Zu abgeschmackt sei alles geworden. Dieses Wort benutzte sie gerne, wenn sie über das heutige Theater sprach: abgeschmackt. Dabei hatte sie sich seit Jahren schon nichts mehr angesehen.

Ebenso amüsant schreibt Joachim Meyerhoff über seine Ausbildung an der Schauspielschule, in der er eine harte Schule durchläuft: ob in der Sprecherziehung, im Gesangsunterricht oder mit einem Gummipenis auf der Bühne, Joachim Meyerhoff stößt immer wieder brutal und schmerzhaft an seine eigenen Grenzen. Im Nachhinein ist es manchmal fast erstaunlich, dass aus ihm tatsächlich ein erfolgreicher Burgschauspieler geworden ist – so sehr hat er in seinem Ausbildungsjahrgang zu kämpfen, mit sich selbst und seinen Lehrern.

Doch neben der Komik, die die Situationen im Hause der Großeltern und auf der Theaterbühne prägt, gibt es auch viele Stellen, an denen Ernst und Traurigkeit vorherrschen. Joachim Meyerhoff fühlt sich vom Tod umstellt: dieser hat ihm nicht nur den mittleren Bruder genommen, sondern auch den Vater, seine beiden Großeltern und den geliebten Hund.

Der Unfalltod meines Bruders hatte mich während eines einjährigen USA-Aufenthalts ereilt. Wie eine Guillotine war er in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und das Danach in zwei Teile zerhackt, zwei Teile, die nicht mehr im Entferntesten zusammenpassen wollten. 

Über den Tod der Großeltern schreibt er mit großer Warmherzigkeit und viel Humor. Der Großvater, der sein Leben lang die Tage durchgetaktet hatte und sich keinen Müßiggang erlaubte, nimmt sich auf den letzten Metern plötzlich besonders viel Zeit. Kurz nach seinem Tod baut auch die Großmutter immer schneller ab, bis auch sie gestorben ist. Diesem Tod, der so traurig und beängstigend sein kann, nähert sich Joachim Meyerhoff mit viel Humor und Komik. Eine irgendwie heilsame Perspektive, aus der ich für mich viel mitgenommen habe.

Am Anfang meiner Besprechung hatte ich von einem autobiographischen Romanzyklus geschrieben: der Tendenz, die eigene Autobiographie zu fiktionalisieren, begegnete man zuletzt immer häufiger in der Literatur. Im Falle von Joachim Meyerhoff ist sicherlich eine gehörige Portion der eigenen Biographie in dieses Buch eingeflossen, doch gleichzeitig nimmt er sich das Recht heraus, daran Änderungen und kleine Abweichungen vorzunehmen. Es ist wichtig, sich zwischendurch immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass man hier einen Roman in den Händen hält und keine Autobiographie.

Vielleicht ist ja das ganze Leben so, dachte ich: Man hinterlässt eine Spur. Dann überholt einen die eigene Spur. Und von da an verfolgt man sich selbst, versucht immer genau in dieser Spur zu bleiben, weil man sicher ist, das sei für einen der richtige, der einzig sichere Weg.

Bevor ich zum Fazit meiner Besprechung komme noch ein kleiner Hinweis am Rande: der Titel des Romans – den ich als sehr passend empfinde – entstammt einem Goethezitat und heißt in voller Länge: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle.“ 

Doch wie hat mir der Abschluss dieses Romanzyklus denn nun eigentlich gefallen? Für mich ist Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke großes Literaturkino: voller Komik, wunderbarer Unterhaltung und stillen Momenten, die dazu einladen, über das eigene Leben und die unvermeidbare Vergänglichkeit nachzudenken. Hin und wieder habe ich Rezensionen gelesen, die dieses Buch als seichte oder auch leichte Lektüre einstufen – das sehe ich anders! Hier findet sich das pralle Leben zwischen zwei Buchdeckeln. Ganz groß und großartig zu lesen. Auch wenn es dieser Roman nicht auf die Shortlist geschafft hat und somit kein Buchpreisträger mehr werden kann, wünsche ich ihm doch so viele Leser wie nur möglich. Ich werde nun auf jeden Fall die ersten beiden Bände auch noch lesen und freue mich schon jetzt auf beste literarische Unterhaltung.

Besprechung von: Mara Giese, Betreiberin von Buzzaldrins Bücher


Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, November 2015. 352 Seiten, 21,99€.

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Weshalb die Herren Seesterne tragen von Anna Weidenholzer

Der Roman lässt mich mit vielen Fragen zurück, ironischerweise, denn darum dreht es sich ja die ganze Zeit. Genauer gesagt um den Fragebogen zur Ermittlung des Bruttonationalglücks in Bhutan, den Karl Hellmann als Grundgerüst für sein Unterfangen auswählt. Aber genauso, wie Karl seinen Antworten in dem zufällig ausgewählten Dorf hinterherjagt, bleibt der Roman dem Leser Antworten schuldig. Vielleicht auch nicht, eventuell verstecken diese sich zwischen den Zeilen, stecken im Gebaren der Wirtin, die ihren plötzlich auftauchenden und seltsam anmutenden Gast nach anfänglicher Skepsis zu schätzen lernt. Stecken in den vielen Selbstgesprächen, die Karl in seinem Kopf mit seiner Frau Margit und sich selbst führt, oder auch im Dorf mit seinen, dem Unterfangen Hellmanns argwöhnisch gegenüberstehenden Bewohnern.

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Und Karl selbst muss sich soviel mehr Fragen stellen, als er es vorab geahnt hätte. Denn wenn einer auszieht, die anderen zu erforschen, muss er mitunter damit rechnen, dass diese den Spieß herumdrehen. Es ist ein sehr eigener Stil und auch die Grundidee des Textes sprach mich sofort an. Und doch ist die Idee dann für mich zuwenig gewesen, um es bis zum Ende durchzutragen. Zu verwunschen und paradoxerweise zu verkopft empfinde ich es beim Lesen.

Findet Karl Hellmann am Ende, was er gesucht hat? Ich vermag es nicht zu beurteilen.

Besprechung von: Sarah Reul, Betreiberin des Blogs pinkfisch


Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen. Matthes & Seitz, 2016. 190 Seiten, 20,00 €.

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