LITERATUR UND TOD
d literatur, des wisz jo
ist a gaunz a diaffs grob
wo kaana drin waas
ob a jemoes a r aufaschdehung hod
Ernst Jandl
Sonntagnachmittag, 3. April 2005. Übermütiger Sonnenschein schon den ganzen Tag. Ich bin erschöpft von einem Spaziergang von Steinfeld nach Urft hinunter und zurück den Berg nach Steinfeld hinauf. Dröhnende Motorräder – blühende Osterglocken. Nach einer exorbitanten Tasse Darjeeling sitze ich in meinem Lieblingssessel und lese in Dieter Fortes Das Haus auf meinen Schultern, der Romantrilogie, die den 2. Weltkrieg und vor allen Dingen den Luftkrieg aus Sicht der Bevölkerung schildert. Ein Buch, von dem W.G. Sebald annahm, es existiere gar nicht. Während ich die Wörter aufnehme, blicke ich bisweilen hoch und betrachte die Blumen – Osterglocken und Primeln −, die im Garten blühen. Ich beobachte das Spiel der Schatten mit den Ästen der Bäume. Das Bild des am Vorabend verstorbenen Papstes erscheint vor meinem geistigen Auge. Ich warte auf das Schlußresultat der Begegnung zwischen den Münchner Löwen und den Kölner Geißböcken hier geht es am 27. Spieltag um den Aufstieg in die Bundesliga. Ich lese: „Am anderen Morgen, als alle den Raum verließen, lag er immer noch da und bewegte sich nicht und starrte in den Himmel und war tot. Der Junge sah noch lange diesen dunklen, bewegungslosen Klumpen, für den sich keiner interessiert hatte, das Lied und den schreienden Gesang vergaß er nie mehr.“ Einige Seiten zuvor wurde Louis Armstrong erwähnt (die Amerikaner sind in das Städtchen einmarschiert), und ich suchte die entsprechende CD heraus, um „C’est si bon“ zu hören. Wenige Sekunden später – gegen halb fünf – klingelt das Telefon. Das ist selten geworden an einem Sonntagnachmittag. Ich unterbreche die Musik. Das Display auf dem Hörer verrät, nichts außer: Unbekannt! Es ist Axel Kutsch.
EIN ÜBERAUS SCHÖNES UND BLAUES MANÖVER /
LILIEN AUF DIE BRUST GEMALT /
FÜR THOMAS KLING
in den Haaren die Lindenbaumfächer
nordafrikanischer Knötchenfrucht
springen im funkelnden Wind nämlich
zu Boden geschüttelt vom zaubrischen
Schopf oder Duft oder Hölderlins Jugendlocke
oder es steigt ein Hündchen schwammig
ins herbeigerufene Taxi
oder es stehen weisze Tennisschuhe zum Trocknen
in der Sonne am offenen Fenster
oder man liegt ausgestreckt mit wächsernen
Ohren auf einer Bank im Halbschatten des Baumes
welcher die Herzschläge zählt
/ einer heiligen Caterina von Siena
mit dem Lilienstab vor den weiszen, vor den
halbgeöffneten Augen
Friederike Mayröcker
Ich wundre mich, denn wir haben doch alles Notwendige in mehreren Mails während der letzten Tage besprochen. Es ist klar, daß er anruft, um etwas Außerordentliches mitzuteilen. Ich rechne mit einer guten Botschaft. Doch er sagt nach einer kurzen Begrüßung: „Thomas Kling ist tot.“ Er hatte es soeben von Markus Peters erfahren. Da wir Karfreitag, also vor einer guten Woche erst, so lange beisammen gesessen und u.a. über Thomas Kling und dessen neues Buch Die Auswertung der Flugdaten gesprochen hatten, war es nur konsequent, daß er mich gleich informieren wollte. Ein so intensives, ja, rauschhaftes Gespräch über ein Buch, das sich im ersten Kapitel radikal mit dem Tod auseinandersetzt – und jetzt diese Mitteilung. Ein Schlag. Wir reden vier Minuten lang über Thomas Kling, den wir zu den drei wesentlichen Vorreitern der Lyrik der letzten 20 Jahre zählen. Ein herber Verlust. (Ich weiß, Herr Wittgenstein, die Wörter versagen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“) Ich bin Thomas Kling, der stets betonte: „Gedichte sind immer vom Rhythmus geprägt, sonst sind es keine Gedichte“, nie persönlich begegnet, wir haben nicht einmal telefoniert oder auch nur einen Brief gewechselt. Aber seit knapp 10 Jahren befasse ich mich intensiver mit seinem Werk als mit dem der meisten Autoren, von denen ich Gedichte gelesen habe. Nach Rolf Dieter Brinkmann besetzt er einen der nächsten Plätze. Meine Rezeption Thomas Klings gleicht einem Kämpfen und Ringen, Kling ist ein Dichter der „eckn kantn“ und „anmut und rohheit in stückn“. Wenn ich seine Gedichte lese, bin ich notwendigerweise totalissi me konzentriert, aber gleichzeitig distanziert, abgekühlt [Hier geschieht − natürlich − was beim Lesen aller guten Dichter passiert: Die lyrische Tiefenstruktur der Texte überträgt sich umgehend auf den Leser. Kling ist als Autor der Installationsmeister, ich als Leser (zwangsläufig) sein (souveräner) Geselle, seine Gedichte nennt er nicht Gedichte, sondern – „Sprachinstallationen“, anarchisch, bissig, knochig, hier „glitscht“, „spült“ und „bröckelt“ es − horizontal und vertikal.] während Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte mich bekanntermaßen mitreißen. Ich habe großen Respekt vor der Leistung dieses lyrischen Schwerarbeiters Kling, dieses Hauers und Steigers in Personalunion, empfinde aber – außer dem höchsten Respekt vor der großen lyrischen Leistung – bei weitem nicht das, was ich für das Werk Brinkmanns empfinde. Dazwischen liegen tatsächlich Welten. [Schwer zu erklären das, ich weiß, aber hier geht es natürlich auch um Neigungen und Vorlieben, die über das Intellektuelle hinausgehen.] Allerdings – ohne die Auseinandersetzung mit Thomas Kling fehlt Dichtern, die in der Welt der deutschsprachigen Lyrik mitreden und mithalten wollen, ein entscheidender Pfeiler in der poetologischen Argumentation. [Gleiches sage ich, wie bekannt, von Rolf Dieter Brinkmann. Überhaupt spricht nichts dagegen, Thomas Kling und Rolf Dieter Brinkmann in einem Atemzug zu nennen. Beide haben am selben Stamm geschnitzt − jeweils am anderen Ende. Kling (der 1990 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln erhielt) beschleift die Wörter, Brinkmann hämmert die Wörter durch dröhnende monotone Wiederholungen in die Köpfe. Beide wollen so die morsch (!) gewordene Sprache: aufmöbeln − aktuell, modern, konkurrenzfähig, zeitgenössisch (…) machen. Kling hatte, glaube ich, mehr Gemeinsamkeiten mit Brinkmann, als ihm lieb waren. Wo er sich mit George gern identifizierte, distanzierte er sich von Brinkmann. Beim Lesen der Neuausgabe von Westwärts 1 & 2 fällt mir auf, daß auch Brinkmann gelegentlich − der gesprochenen Sprache angepaßt − Vokale ausläßt. Wir wissen, daß kein Dichter gesprochene Sprache / Slang / Jargon so konsequent in lyrisches Argot verwandelt hat wie Thomas Kling, dessen Gedichte ich beim Lesen immer wieder vor mich hinflüstere: So gewinnen sie eine zusätzliche Qualität, die Kling gewiß auch vorschwebte − wobei ich eingestehe, daß mir Klings mündlicher Vortrag seiner Gedichte nicht liegt (ich weiß, er gilt als großer Performer), weshalb ich in diesen Notizen auch nicht näher auf diese gewichtige Komponente Klingscher Klangkunst eingehen kann. So findet jeder Leser seinen Weg zum Werk eines Dichters.] Ich sitze wieder im Sessel. Versuche weiterzulesen. Lese eine Seite, blicke hoch, lese, höre, Köln habe sich ein mageres torloses Unentschieden erspielt (damit werden auch Politycki und Seiler nicht zufrieden sein), die Sonne ist hinter dem Haus verschwunden, ich müßte mich jetzt ins Eßzimmer setzen, um auf die sonnenüberflutete Wiese zu blicken, auf der die vielen noch blattlosen Bäume und Sträucher stehen, die ich im Laufe der Jahre angepflanzt habe. Wieder klingelt das Telefon. Es ist für meine Frau. Ich gehe die Treppe hinunter in den Raum, den Axel Kutsch „Lyrikkabinett“ nennt und in dem zwischen all den Büchern der Rechner steht, den ich hochfahre. Ich lege einen neuen Ordner und eine neue Datei an und beginne diese Zeilen. Ich stehe auf und gehe an das Regal mit den Bänden der Autoren, die mit K beginnen: Kästner, Kavafis, Kirsch, Kirsten, Klabund, Kühn, Kunert, Krechel, Krolow, Kutsch und greife das Dutzend Bücher von Kling heraus.
Zunächst blättre ich in erprobung herzstärkender mittel, geschmacksverstärker, brennstabm, nacht.sicht.gerät, dem 1994 bei Suhrkamp erschienenen Sammelband, der die vier ersten Lyrikbände Klings umfaßt, in denen es immer wieder auf ätzende, bellende, auch sarkastische, wenn nicht sogar zynische Sprachart und Sprechweise zur Sache geht, [erprobung herzstärkender mittel ist Thomas Klings Debütband. Er erschien Mitte der 1980er Jahre in der Eremiten-Presse (Düsseldorf), dem feinen Kleinverlag, den Victor Otto Stomps 1949 gründete.] sodann in geschmacksverstärker, das ich zusätzlich als Einzelausgabe besitze (mein erstes Buch von Kling überhaupt); [Mit Thomas Klings Gedicht „sendeschluss“
SENDESCHLUSS
aaaaazackn, faltnwürfe, ge
tränkter nabel; unterm geweihten
hirschn vermischt sich der speichel,
ein entstehendes nach mitternacht
zungenbild;
aaaaaaaaaflackernde couch,
darüber geht das schattenrangeln,
bündige umklammerung; überm kleider-
berg (dunkler bausch) gestöhnte
schrankwand: unüberhörbares weis-
ses rauschn, gebauschtes dunkel,
hingehuscht
und dem kurzen Kommentar über das Buch endet der Hauptteil von Ohne Punkt & Komma: „Und überhaupt, womit wurde die Lyrik der 90er Jahre denn eigentlich eingeläutet? Nein, nein, nicht in diesem globalen Sinne, der Ihnen jetzt vielleicht in den Kopf schießt, ganz konkret will ich mich festlegen, auf ein einziges Buch: Ich habe mich für Thomas Klings geschmacksverstärker von 1989 entschieden. Hier sind Gedichte aus den Jahren 1985/88 versammelt, die Vorreiter sind für (s)einen dominanten repräsentativen Stil der 90er Jahre, mit dem eine Reihe von Dichtern sich besonders intensiv auseinandergesetzt hat: Marcel Beyer, Dieter M. Gräf, Norbert Hummelt, Ingo Jacobs, Enno Stahl sind Namen, die mir in dem Zusammenhang spontan einfallen.“] ich lege das Bändchen aus der Hand, nachdem ich hier und dort ein Wort, ein paar Verse gelesen, nein, wohl in erster Linie die graphische Gestaltung der Gedichte und die Anordnung der Verse betrachtet habe, und greife zu einem meiner Kling-Favoriten: wände machn, das Buch mit Aquarellen und Gedichten, das er gemeinsam mit Ute Langanky gemacht hat und das – in buchkünstlerisch anspruchsvoller Aufmachung – 1994 bei Kleinheinrich in Münster erschienen ist. Meine bevorzugte einzelne Sprachinstallation von Thomas Kling (in dessen Werk Gottfried Benns Diktum „Man muß das Material kalt halten“ eine entscheidende Rolle spielte) – das 12strophige Urbangebilde Manhattan Mundraum, gespickt mit „granitplattn“, „organbank“, „hotelheizkörper“, „nachtthier“, „satellitnphotos“, „nagelschluchtn“, „schwirrflügler“, „morsche palisadn“, „rostplackn“, „schwarzglühende suppe“, „steinbrei, der dickt“, das auch wieder das Klingsche Forschen nach dem Ursprung der Wörter, das Ausschwärmen und Eindringen in alle Schichten der menschlichen Existenz, das Zerhacken und Zerbröseln, Zentrifugieren und Amalgamieren präsentiert steht im hochmodernen, metaphorischen, katachresischen, synästethischen, onomatopoetischen, simultanischen Gedichtbuch morsch, 1996 bei Suhrkamp publiziert, aus dem ich die erste von zwölf sich ständig steigernden Strophen zitiere:
MANHATTAN MUNDRAUM
1
die stadt ist der mund
raum. die zunge, textus;
stadtzunge der granit:
geschmolzener und
wieder aufgeschmo-
lzner text. beiseite-
gesprochen, abgedun-
kelt von der hand: die
ruinen, nicht hier, die
zähnung zählung der
stadt!, zu bergn zu ver-
bergn! die gezähltn, die
mit den weißn gebissn,
die aus den blickn ent-
fertn: die gesperrtn.
maulsperre, mundhöhle
die stadt.
Hören wir Nicolai Kobus: „Mit morsch, so scheint es, hat Thomas Kling sein Schreiben im SYNAPSN-SLANG perfektioniert. Mit beeindruckender Souveränität verfügt er über sein Arsenal an poetischen Gestaltungsmitteln: Kaum einer bricht derzeit virtuoser Zeilen auf und um, bewegt sich leichter durch das permanente Wechselspiel von Demontage und Rekonstruktion, dem Beschaben und erneuten Überschriften verwirrender Palimpseste.“ Dabei gelingen Thomas Kling unterschiedlichste Tonarten, und so überrascht er mich mit diesem vollkommen anders als „manhattan mundraum“ klingenden Gedicht:
DER MÖNCH VON MONTAUDO:
PLAZER
und es gefällt mir sehr im sommer
an quelle oder fluß mich aufzuhaltn;
und grün di wiese, blumenflor unds
singn sanft die kleinen vögel;
und meine geliebte, insgeheim,
es schnell mal mit mir macht.
Lyrikdoktor Jakob Stephan (das ist Steffen Jacobs) stellt in Lyrische Visite (Haffmanns,
Zürich 2000) allerdings keine günstige Diagnose für Thomas Kling: „In
MORSCH nun fallen wohlfeile Pose und höherer Sinn ein ums andere Mal
auseinander.“ Dann wissen wir das auch.
Die beiden gleichartig gestalteten, gleichsam wespengelben Gedichtbücher Fernhandel (1999) [Thomas Kling überrascht in Fernhandel
mit Formen, die ich so bislang von ihm nicht kannte. Die seit
spätestens 1989 präsente, immer wieder auf ihre Haltbarkeit erprobte
typische „Klingform“ (gleichsam seine poetische Haut) ist − natürlich
− durchscheinend, aber die langversigen Dreizeiler auf den ersten Seiten
und am Ende des Buches sind etwas so bei Kling noch nicht Gelesenes.
Und daß (und wie!) er sich u.a. mit dem letzten mittelalterlichen
Minnesänger Oswald von Wolkenstein beschäftigt, macht diesen (in der
Öffentlichkeit mitunter unnahbar wirkenden) Kling auf einmal verblüffend
zugänglich − auch sprachlich: Da sieht man, wie kongenial
nachzuempfinden dieser hypersensible Typ in der Lage ist. Prosahafte
Simultancollagen, extrem rhetorische attributive Kombinationen zu
Bildern aus dem Ersten Weltkrieg − kühle Elegien? Kling zu lesen heißt
sich die totale lyrische Dröhnung geben: Diese antikisierende,
assoziative, dichte, hommagierende, intensive, kritische, lautmalende
Art zu dichten, Wort zu Wort zu setzen, cool, selbstgewiß, kompromißlos
(„es tut mir leid: gedicht ist nun einmal: schädelmagie“), läßt mich zum
einen nicht los und beeinflußt mein weiteres Tagesprogramm enorm, von
der Nacht ganz zu schweigen. Diese forcierte Lyrik empfinde ich wie eine
bewußtseinserweiternde Droge (die anscheinend nicht jedermanns Sache
ist − immer wieder kommen mir geradezu feindselige Töne von Autoren zu
Ohren, die offenbar überfordert sind mit dieser gleichsam
sprachsprengenden Poesie). „Das Gedicht duldet nur keine Unduldsamkeit.“
(O-Ton-Kling)] und Sondagen (2002) fallen mir in die Augen: Sie sind in der gewichtigen Lyrikreihe, die Christian Döring seit einigen Jahren bei DuMont
herausbringt und in der Thomas Kling (vor allen Dingen, wenn wir die
außerhalb dieser Reihe erschienenen Titel hinzurechnen) die erste Geige
spielt. Thomas Kling wird − über seinen Tod hinaus − das lyrische
Zugpferd im Literatur und Kunst Verlag DuMont sein und bleiben. Bei DuMont
hat Thomas Kling endgültig seine Verlagsheimat gefunden, und ich bin
sicher, daß hier in einigen Jahren die Werkausgabe eines der
bedeutendsten deutschsprachigen Dichter seit Ende der 1980er erscheinen
wird.
Thomas Kling hat die Lyrik der 1990er Jahre in ihrer
Aufbruchstimmung und Vitalität maßgeblich geprägt und sein dichterisches
und essayistisches Werk, das er in seinem letzten Buch endgültig
ineinander verschränkt, bis zu seinem Tod im Jahre 2005 konsequent
vorangetrieben und perfektioniert. Das beweist er auch mit seinen
gleichsam polyglotten Sondagen, [Mit Fernhandel, Sprachspeicher, Botenstoffe sowie Auswertung der Flugdaten gehört Sondagen zu den fünf ausgefallenen lyrischen bzw. essayistischen Büchern, die zeigen, wie stark sich der DuMont
Buchverlag für den Dichter Thomas Kling einsetzt. „Manhattan Mundraum“
gehört, wie erwähnt, zu meinen absoluten Favoriten unter den
Sprachinstallationen Thomas Klings. Nun lese ich in Sondagen
die Fortschreibung dieses grandiosen Gedichts, die mich zunächst weniger
anspricht. Thomas Kling, der sein Lebtag an seinem Konzept, die
deutsche Lyrik habe sich seit ihren Anfängen konsequent auf ihn hin
entwickelt, gefeilt und gewirkt hat, zeigt aber auch in Sondagen −
beispielsweise mit inkomparablen komplexen Wortklanggebilden wie „Kiel“
und „villa im rheinland“ − erneut, was er auf der Pfanne hat, indem er
seine eigenen Forderungen einlöst: „Gedichte sind immer vom Rhythmus
geprägt, sonst sind es keine Gedichte. Wenn jetzt offenbar in den
letzten, in den allerletzten Jahren wieder betont werden muß, daß ein
Gedicht aus Rhythmus und Musikalität besteht, dann ist das ein
Armutszeugnis. Das ist absolut die Voraussetzung, da verliere ich kein
Wort darüber, außer im Moment.“] die Heinrich Detering so umschreibt:
Sehr weit hinab geht diese Fahrt, aus den Nato-Bunkern in den Hades der Eurydike, zu Mars und Minerva, zu Sprüchen Anaximanders und des delphischen Orakels, die Kling der „Griechischen Anthologie“ nachdichtet, und in die dionysischen Lavaströme unterhalb aller Geschichte. Immer tiefer, von der Gegenwart im ersten Kapitel bis in die antiken Anfänge des vorletzten, senkt sich das poetische „bleilot“ in jenen „brunnenbereich“, den man wohl unergründlich nennen sollte. Wer mit Kling in die Schlünde der Vergangenheit hinabgefahren ist, sieht nach dem Wiederauftauchen die Gegenwart mit anderen Augen – die erstarrten Basalte in den lichten Gehölzen der Eifel beispielsweise, hinter der aufgegebenen Raketenstellung von Hombroich, dort, wo Kling heute lebt: „bröckelig eine ausgeglühte / vom besenginster bald / schon beleuchtete gegend“. Bis zur Verschmelzung durchdringen sich die Zeiten und Medien, die Kriege der angelsächsischen Helden und die der Nato, die Pergamente und die Tonbänder, der Kiel der archaischen Boote und der gleichnamige Reichskriegshafen.
Kling
gehört zu denen, die die zeitweise etwas verschnarchten 1980er Jahre
überwinden halfen und nach vorn – „ins Offene“ – in die Totale der
Jetztzeit drängten. Statt nun gleich zu Anfang – als Vorreiter –
vorgestellt zu werden, spielt er in Theo Elms bei Reclam erschienener
Jahrzehntanthologie Lyrik der 90er Jahre (siehe „Wir sammeln,
bis uns der Tod abholt“) nur eine Nebenrolle. Kling gehört zu den
exzentrischen lyrischen Gestalten der gesamten 90er Jahre und taucht
doch erst ganz am Ende des Bandes mit gerade mal drei Gedichten auf –
den Altmeistern Mayröcker, Pastior und Jandl nachgeordnet, von denen
Kling bekanntermaßen viel gelesen und erfahren hat, die er aber mit
seinem Prototyp der 1990er Jahre gleichsam überwindet (ohne sie hinter
sich zu lassen!), aber Thomas Kling ist nun einmal derjenige, der die
entscheidenden Akzente setzt. Und das sage ich als jemand, der vor allen
Dingen die Gedichte von Friederike Mayröcker und Ernst Jandl bis über
alle Gipfel und Wipfel hinaus anhimmelt, was bei Thomas Kling ja wohl
ähnlich gewesen ist: Er war es beispielsweise auch, der Benachbarte Metalle – die ausgewählten Gedichte von Friederike Mayröcker – ediert hat.
Ohne die Essaybände Itinerar und Botenstoffe wäre Thomas Klings lyrisches Werk (und dessen ganz und gar tiefgehende Wurzeln) nur höchst unvollständig vorgestellt. Itinerar
(Suhrkamp 1997) wird – nach einem mißglückten ersten Abschnitt, in dem
Kling in der von ihm so bewußt gepflegten Attitüde von oben herab und
pauschal mehrere lyrische Jahrzehnte verunglimpft – zu einem
poetologischen Leseabenteuer mit immer wieder feurig formulierten
Gedanken, die den Leser derart verzaubern, daß dieser schließlich sogar
zum Surfer im Atlantik bzw. Pazifik mutiert: „Gedichte lesen und hören
wird zum Wellenritt in riffreicher Zone.“
Neben wände machen ist der Essayband Botenstoffe
von 2001 ein weiteres Buch von Kling, das ich mit ganz besonderem
Interesse und intensiver Leselust zur Kenntnis genommen habe. Ich habe Botenstoffe,
das Buch des lyrischen Spracharchäologen Thomas Kling, der in Essay und
Gespräch – begeisternd, belustigend, kapriziös, (meistens) extrem
kenntnisreich, polemisch – über die biographischen, historischen,
phänomenologischen und poetologischen Wurzeln seiner Gedichte schreibt,
nicht nur von der ersten bis zur letzten Zeile mit intensivstem
Interesse und größtem Gewinn gelesen, sondern das Buch immer wieder zur
Seite gelegt, um in zitierten Büchern einzelne Gedichte nachzulesen oder
einen kompletten Lyrikband von Kling – wände machen –
wiederzulesen, der mir anschließend nachts Träume bescherte, von denen
manch einer wohl bloß träumen kann. Leser, was willst du mehr, Autor,
was willst du mehr? Dichtung werde von allen gemacht, betonte einst
Lautreamont, und Thomas Kling gehört zu den (auch kongenial
übersetzenden) Dichtern, die nicht nachlassen, zu betonen, wie
wesentlich vorgefundene Sprache und Dichtung für den Dichter ist: „Ohne
Kenntnis der Sprache, der Sprach- und Literaturgeschichte ist nichts zu
machen“, macht Kling deutlich und hält gleichzeitig fest, gegen welche
Riege von Reimern er sich unmißverständlich verwahrt. Was Lautreamont im
tiefsten Sinne meint, ist wohl, daß Dichtung von der ganzen Menschheit
gemacht wird und sich der einzelne Dichter zur Menschheit verhält wie
das Körperteil zum Organismus – eins durch alles, alles durch eins. Oder
mit einem anderen Bild: Der Dichter ist das schamanisierende Mitglied
der Gesellschaft, die permanent – in allen Nischen und Schichten –
Dichtung: hervorruft.
Thomas Kling habe ich als Dichter kennengelernt, der die Entwicklung der
Lyrik in den 1990er Jahren mit seinen komplexen Wortklanggebilden
entscheidend vorangetrieben hat. Botenstoffe ist kein
Gedichtbuch, sondern (in erster Linie) ein Buch über Gedichte und
Dichter. Engagiert und leidenschaftlich beschäftigt sich Kling
essayistisch mit dem Gedicht, und er tut es in der ihm eigenen
facettenreichen, bissigen Art. Ich frohlocke, wenn ich beispielsweise
solche Formulierungen lese:
Oswald von Wolkenstein tut das, was des Dichters ist – er läßt Namen für sich arbeiten. Das Gedicht verzichtet auf anekdotische Nacherzählung, zieht Knappheit vor, durch diese Wirkung erzielend. Das Gedicht reicht seinen Lesern und Hörern das Instantpulver, das wir, lesend, zum Getränk aufschäumen lassen können. So löst der Dichter sich auf im eigenen Produkt.
Oder – verblüffenderweise im ersten Teil beinahe wörtlich so, wie ich es in Ohne Punkt & Komma schrieb, wie ich überhaupt eine ganze Reihe von grundsätzlichen poetologischen Gedanken und Formulierungen finde, die ich in der Vergangenheit so oder ähnlich verwendet habe −:
Kurz: der zeitgenössische Dichter, die Dichterin, sollte ruhig aufs Ganze gehen – also keine Zugeständnisse an die zehn Leser mehr, tatsächlich muß das Gedicht auf einer Ebene voll funktionieren – mit dem nicht augen- und ohrenfälligen, dem submaritimen Teil des Eisbergs kann sich, so sie nichts Besseres vorhat, die Taucherriege der Philologie befassen.
Thomas Kling wurde seit
etlichen Jahren von der feuilletonistisch-medialen Welle getragen (und
zumeist gehätschelt): Unter den Lyrikern bleibt er ein heftig
umstrittener Star, der polarisiert. [Wesentlicher aber ist, was Kling
alles an Gutem für das Gedicht getan bzw. darüber geäußert hat:
„Mallarmé betont, der Vers und alles Geschriebene müsse, weil aus dem
gesprochenen Wort hervorgegangen, imstande sein, die Prüfung durch das
Gesprochenwerden und den Vortrag zu bestehen. Zunächst einmal sind meine
Gedichte aber sehr vom Skripturalen abhängig. Sie kommen aus dem
Gelesenen, nicht aus dem Gehörten, wobei die semantischen
Mehrfach-Aufladungen, die bei der wiederholten Lektüre augen- und
ohrenfällig werden, nur der schriftliche Text leisten kann. Natürlich
ist das Live-Erlebnis für den Vortrag eine hochwichtige Angelegenheit.
Und da komme ich eben wirklich von der Auftrittsebene, also von einer
Genealogie, die letztendlich in die Vorschriftlichkeit zurückgreift. Das
Live-Erlebnis war schon bei einem Stefan George, um die Zeit um 1900,
eine ganz wichtige Erfahrung. Natürlich steckt auch wieder der Gedanke
des Dichters als Blutzeuge und zugleich Erlöserfigur dahinter, und
heute, in dieser Umbruchzeit, die wir erleben, Richtung Mitte, geht das
auch wieder ein bißchen zu diesem Religionsersatz hin, obwohl das keiner
zugeben würde. Das ist klar. Der Dichter zum Anfassen.“] Die
kontroverse Diskussion wird ihm sehr recht gewesen sein. Wer war Thomas
Kling, dessen Werk so mancher aus dem Weg geht? Geht uns das überhaupt
etwas an – außerhalb seiner Gedichte und Essays? Immerhin verrät er in Botenstoffe
ganz unverblümt Details aus seinem Leben. Einige bedeutende Preise hat
er gewonnen, in den ganz wichtigen Anthologien ist er vertreten.
Dennoch: Er ist eher der Typ, der sich rar machte; manche Einladung zu
Anthologien und Zeitschriften schlug er aus. Kling berichtet auf
regelrecht schwärmerische Art von seinem Idol Stefan George (mit dem er
den Geburtsort Bingen teilt), wie rar der sich stets machte! Überhaupt
denke ich, daß Kling, wenn er die Gedichte von Horaz, Quasimodo, Bayer,
Huchel, Lavant, Mayröcker, Dieter Roth, Sabine Scho, Marcel Beyer u.a.
lobt und subtil interpretiert, seine Einschätzung der eigenen
(phonetisch markanten, semantisch frappanten) Gedichte bzw. Standpunkte
mindestens mitschwingen läßt. Auf diese Weise wird Klings poetische
Basis immanent deutlich. Erneut denkwürdig: Zahlreiche Dichter äußern
sich (zum Teil extrem) geringschätzig, wenn Thomas Klings Name fällt.
Mißgunst? Neid? Angst? Was genau meinen sie, wenn sie behaupten, alles,
was Kling gemacht habe, sei nichts Neues, sei eh langweilig, spreche
einen nicht an. Damit kann ich nichts anfangen, und ich behaupte auch,
daß diese Dichterkollegen sich kaum die Mühe machen, sich wirklich mit
Kling auseinanderzusetzen, seine Gedichte in ihrer durchgeplanten
(durchaus dramatischen, epischen oder dokumentarischen) Tiefenstruktur
mit möglichst allen Sinnen −: wahrzunehmen. Ja, diese ziselierten
vielschichtigen Kopfgeburten bereiten, vor allem beim ersten Lesen,
Mühe. (Kling schlüpfte selber oft in die Rolle des kläffenden Pinschers,
wenn er wiederholt seine Ablehnung der Gruppe 47 und der Lyrik
nach 68 betonte. Wir wußten das doch längst von ihm. Was bringt es,
derart undifferenziert einen Rolf Dieter Brinkmann anzupöbeln und dessen
Werk niederzumachen? Der Tiefenstruktur des chaotisch krachenden
Collagenbuchs Rom, Blicke wird er mit seinen läppischen
Bemerkungen alles andere als gerecht. Das fällt auf ihn selbst zurück.
Wenn wir über andere reden und schreiben, reden und schreiben wir in
Wahrheit über niemanden als uns selbst. [Der Mensch lehnt nur ab, wen er
als ebenbürtigen Konkurrenten in Erwägung zieht. Kein Riese kommt auf
die Idee, sich zu einer Kritik an Zwergen herabzulassen. Zu Thomas
Klings auffälligen Eigenarten als Dichter gehörte es unbedingt, radikal
abzulehnen. Bissig, herblassend, polemisch, vehement kanzelte er nicht
bloß einzelne Dichterexistenzen ab, nein, ganze Dichterdekaden wurden
von ihm im Handstreich erledigt. Interessant in diesem Zusammenhang der
Auftakt zu seinem Aufsatz „Zu den deutschsprachigen Avantgarden“ in Lyrik des 20. Jahrhunderts (Sonderband text+kritik,
München 1999): „Im Rahmen des allgemeinen Kassensturzes ist nichts so
billig geworden wie das Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden.“
Vom Prinzip her tat Kling nichts anderes, auch wenn es sich bei ihm oft
− aber nicht nur − um Nachhut oder Etappenhasen usw. handelte. Axel
Kutsch betont immer wieder, daß ein funktionierendes Ensemble nicht nur
aus Stars bestehen darf. Was für die Musik und den Sport gilt, gilt
gleichermaßen für die Poeterey.] Daß der so hochgelehrte – und sich, bei
aller total intendierten Saloppheit, durchweg intellektuell
inszenierende – Thomas Kling plötzlich derart auf stammhirngelenkte
Reaktionen zurückgeworfen wurde, macht mich mißtrauisch. Gönnte er hier
dem 1975 im Alter von 35 Jahren tödlich verunglückten Dichterkollegen
Ruhm und Kultstatus nicht?) An erfolgreichen Dichtern, die nicht dem
Mainstream folgen, reibt man sich. Aber ist das, was Kling vorgemacht
hat, nicht längst Teil des Mainstreams geworden? Lügen so manche
Feuilletonisten, wenn sie Kling in den Himmel heben? Loben sie ihn sich
vom Schreibtisch: Denn wer liest Kling wirklich – mit Hingabe und
Interesse? „Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder
lesen? – Nein.! Wir wollen weniger erhoben, / Und fleißiger gelesen
sein.“ (Lessing)
Wer überhaupt liest Gedichte? Und dann auch noch
„knorrige“, „abstruse“!? Und Abhandlungen über Gedichte? Verkauft sich
ein solches Buch? Wo bleibt dann eine von den Kritikern zu
rechtfertigende Breitenwirkung? Hat Lyrik überhaupt noch etwas im
Kulturteil der Zeitungen verloren, wenn nur ein winziger Bruchteil der
Leserschaft das liest? Vergebliche Liebesmüh? „Keine Zeit bedarf so sehr
des Dichters wie jene, die ihn entbehren zu können glaubt.“ (Jean Paul)
Glaubt unsere Zeit, auf die Dichter verzichten zu können? Immerhin gab
es lange nicht mehr so zahlreiche und unterschiedliche interessante
lyrische Stimmen wie nach 2000 (und Lyriknächte wie vor einiger Zeit im
ZDF sind doch auch schon mal was, wenn auch nichts richtig Gutes). Sind
es trotzdem immer noch nur Enzensbergers berüchtigte 1354 Leser (Kling
spricht übrigens von: 300!!!), die die merkwürdige Gestalt Lyrik zur
Kenntnis nehmen? Und noch einmal: Wie viele von diesen lesen die Bücher
Thomas Klings? Ich habe einiges von ihm gelesen und meine: Der
archäneologistische Thomas Kling bleibt vorläufig einer der auffallenden
zeitgenössischen Dichter, mit immer wieder brillant umgesetzten
Gedichtideen, assoziativ, leidenschaftlich, formbewußt; seine Lyrik ist
systematische Auseinandersetzung mit Welt, Mensch, Sprache, Geschichte,
Gesellschaft; seine kaltgeschweißte Gedichtinstallation ist ästhetisch,
linguistisch, historisch, soziologisch fundiert. Nur hilft es weder ihm
noch uns, wenn manche ihn dermaßen überproportioniert darstellen, daß
von dem, was er ist (nämlich einer, der sich das Gedicht hart
erarbeitete, ein recherchierender, mnemosynischer, etymologischer
Monteur, ein sinnlicher Sammler), nicht mehr viel übrig bleibt. Er war
ein dichtender Mensch – kein mythischer Held. Dichter sind keine Helden
(man lese hierzu Archilochos, den man einst zum Kämpfen zwang). Wer die
wenigen über- und die vielen unterschätzt, wird der Lyrik als Gestalt
nicht gerecht. Zum Gedicht führen viele poetische Wege, was Thomas Kling
als Eiferer (der auch die Lyrik der 50er Jahre mit einer törichten
Äußerung glaubt vom Tisch wischen zu können) bisweilen vergaß.
Als
großen Glücksfall möchte ich es bezeichnen, daß es Thomas Kling in
seinem viel zu kurzen Leben vergönnt war, „seine“ Lyriksammlung
herauszugeben: Sprachspeicher. 200 deutsche Gedichte vom 8. bis
20. Jahrhundert hat. der hochgelehrte Dichter versammelt. Hemmungslos
eigenwillig, viele wesentliche Dichter radikal verwerfend bzw.
ignorierend (dafür sehr wenige – vor allen anderen: Stefan George –
glorifizierend) wählt er aus, radikal nichts außer den eigenen lyrischen
Blick gelten lassend, den er (auch apodiktisch und herablassend) in
kapiteleinleitenden Artikeln verdeutlicht: Sprachspeicher ist
Klings absolutes, persönliches, lyrisches Hausbuch. Es ist begeisternd,
die vielen mir unbekannten Gedichte bekannter Dichterinnen und Dichter
zu lesen, die Lektüre dieser exzentrischen Auswahl ist ein Rausch. Wie
er Außenseiter, Unterschätzte oder (fast) Vergessene einbringt: Norbert
C. Kaser, Christine Lavant, Reinhard Priessnitz. Daß ich mich dabei
immer wieder am Herausgeber reibe, liegt auf der Hand und macht das
Lesen dieses Sammelbandes zu einer Achterbahnfahrt. „Daß Ingeborg
Bachmanns Stärke eher nicht im Gedicht zu suchen ist, dürfte sich
inzwischen herumgesprochen haben“: Hier haben wir ihn wieder, diesen
Thomas Kling, seine lyrische Einäugigkeit zum besten gebend. [Lassen wir
die Dichter auch Menschen sein, denen wir gerecht zu werden versuchen.
Im Kapitel „Tür zum Meer“ heißt es: „Einer offenbar stark vom Thanatos
beherrschten Lyrik Ingeborg Bachmanns beispielsweise werde ich das nur,
wenn ich ihre Gedichte, die besonders Motive des Untergangs, des
Aufbruchs, des Widerstands behandeln, u.a. auch aus der deutschen
Nachkriegszeit heraus lese, in der sie größtenteils geschrieben wurden
− als lyrische Dokumente einer insbesondere für sensible Menschen höchst
fragwürdigen, schwierigen Zeit.“ Zu betonen ist hier natürlich ihre
Rolle als offensive Lyrikerin, die − wie ein Paul Celan, wie ein Werner
Riegel − aus dem Kokon der Naturlyrik ausbrach. Ein Bekannter meinte in
ähnlichem Zusammenhang, natürlich wisse er Bobrowski als großen Lyriker
zu schätzen, dennoch werde er das Gefühl nicht los, daß dessen Art Lyrik
einfach passe sei. Ob ich ihm in diesem Fall zustimme oder nicht, sei
dahingestellt – generell gilt: Es gelingt nur wenigen Gedichten bzw.
Dichtern, schadlos die Zeiten zu überleben, ohne wenigstens einen Hauch
Patina anzusetzen. Zeitlose Gedichte von zeitlosen Dichtern eben − ein
seltenes Phänomen. Ein paar Gedichte von Ingeborg Bachmann gehören für
mich zu diesem Repertoire, und ich lese diese Gedichte auch jedesmal
wieder neu, wenn ich sie in Anthologien entdecke. Ich gehöre nicht zu
den Elitisten à la Kling, die bei Gedichten, denen es gelungen ist,
einige Popularität zu erlangen, nicht nur die Nase rümpfen, sondern
diese vielleicht auch bewußt zu ignorieren − von kleinen Ausnahmen
(Gottfried Benn, „Einsamer nie“ oder Else Lasker-Schüler, „Mein blaues
Klavier“) abgesehen. Sprachspeicher oder auch seine Lyrikauswahl in dem text+kritik-Sonderband Lyrik des 20. Jahrhunderts
(1999) sind gute Beispiele dafür. Immerhin, in beiden Bänden taucht je
ein Bachmann-Gedicht auf! Sensationell, wenn ich bedenke, daß
beispielsweise kein einziges Gedicht von Karl Krolow in Sprachspeicher
zu finden ist, der 1999 84jährig verstarb und eins der größten Werke
der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts überhaupt hinterlassen hat.]
Erstaunlicherweise hat der poeta doctus Kling ein Gedicht des poeta
doctus Rudolf Borchardt in Sprachspeicher aufgenommen, in die
ja nur wenige Dichter des 20. Jahrhunderts Aufnahme gefunden haben: Ist
das wirklich Zeichen einer aktuellen Wertschätzung (für die Adorno
gleichsam die Begründung liefert: „Das Werk Rudolf Borchardts hat alle
dichterischen Gattungen umfaßt und als Gattungen sie gepflegt.
Schlüsselcharakter hat die Lyrik: nicht darum bloß, weil seine
Produktion vom lyrischen Gedicht ausging, sondern weil seine bestimmende
poetische Reaktionsform die lyrische war“)? Jedenfalls verbeißt sich
Kling in seinem letzten Buch derart in die Existenz Borchardts, daß
diesem Hören und Sehen vergehen würde.
Schließlich greife ich zu diesem letzten Buch Auswertung der Flugdaten
(mit lyrischen und essayistischen bzw. auch lyrisch-essayistischen,
also genreüberschreitenden Texten), das ich in der vorletzten Woche
gelesen habe. Das Buch läßt mir keine Ruhe. Die Verse und Zeilen wühlen
mich auf. Eine fieberhafte Vitalität wird spürbar. Hier schreibt einer
um sein Leben. Hier arbeitet einer an seinem Vermächtnis. [Auswertung der Flugdaten
ist ein atemberaubendes Buch, das ich betont bedächtig lese, Vers für
Vers, Gedicht für Gedicht. Thomas Kling lesen ist im besten Sinne harte
Arbeit. Thomas Kling zu lesen ist nicht das Lesen, das der Mensch sich
− landläufig vorstellt, wenn er das Wort „lesen“ hört, das geht nicht
„aus der lameng“ (O-Ton Kling). Genauso wie Kling ein lyrischer
Schwerarbeiter war, ein Bergmann, der im Flöz hing und Schicht um
Schicht abschlug, um an das Innere zu geraten, lebensbedrohliche
Teufelsbrocken um sich herumfliegen ließ, muß auch sein Leser bereit
sein, ihm dorthin zu folgen. Hier gibt es nix für umsonst. ABER: Der
Titel Auswertung der Flugdaten deutet zunächst auf ganz anderes
Terrain als Untertage. Hier muß es einen Totalabsturz gegeben haben,
die Black Box hat der Dichter offenbar gefunden, und nun geht es mit
letzter Leidenschaft an die Auswertung der Flugdaten. Ist Thomas Kling
der reinkarnierte Ikarus, der den Fall überlebt hat? Es sieht ganz
danach aus: Wenn auch zum Denkmal auf dem Sockel erstarrt (scheinbar in
die Ferne schauend − hat er hier „Mailand, Ambrosianische Litanei 2“
− ein Gedicht, das ich heute mit stummer Anteilnahme lese
− nachgestellt?), sehen wir den Dichter hoch vorm (allerdings zerfallen
wirkenden) efeu bewachsenen Knusperhäuschen. „Auf nichts kommt es an als
darauf, Atem zu haben, atmen zu können, zu wissen und am Leben zu
bleiben.“ (William Faulkner, „Absalom, Absalom!“) Erstes Kapitel:
Vorhölle mit den endlosen weißen Gängen und den schwarzen offengelegten
Innereien – Dichter, Patient, Steiger und Hauer (außer sich, rasend
wild). Zweites Kapitel: Es plappert die Mühle, mahlt, malt und spricht.
Echt Kling! Echt gut! Lesen Sie statt meiner lediglich hinweisenden
Worte diese alliterativen, (binnenreimenden) ma(h)lenden Bildgedichte im
Gesamtzusammenhang des Buches: „das licht steht staubig − /
stäubchen-strömung in der tür. // die sonne, feuermühle / die euch
gemahlen hat, geht scharf. // so steht das licht − / steht staubig in
der tür“ – und alles weitere an Gedichten, Aufsätzen und Vorträgen!)
„Was bleibt, ist ein vielsagender Vers, der dann doch zu wenig sagt.“
(Thomas Kling)] Der fragmentarischen Vorstellung in der Fußnote 19 will
ich noch Hubert Winkels feinen Kommentar hinzufügen: „Der neue
Kling-Band beginnt also mit einer fulminanten Reihe von K-Gedichten: K
wie Krankenhaus und Krieg, der in ihm herrscht – wie Körper und
Konkretion, die ihn zum Datum macht, wie Kälte und Kunst, die jedes
Wehleid einfrieren in Wort und Bild.“ Jetzt gilt es, selber zu lesen.
Thomas Kling starb am 1. April 2005, an einem Tag, an dem ich – beseelt von der Lektüre seines Buches Auswertung der Flugdaten,
das viele Tage lang stets greifbar hier neben dem Keyboard gelegen hat –
der festen Überzeugung war, er hätte den Lungenkrebs – vorübergehend
wenigstens – gebändigt. Nun lese ich die Todesanzeigen, die mir jemand
freundlicherweise ausgeschnitten hat, und ich sehe es schwarz auf weiß:
Der 1957 in Bingen am Rhein geborene Thomas Kling ist tot. Es lebe
Thomas Kling.
***
Theo Breuer, aus: Theo Breuer: Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

Weiterführend →
Einen Essay über das Tun von Theo Breuer als Herausgeber, Essayist und nicht zuletzt als Lyriker lesen Sie hier.