Wie soll man da leben? Man soll ja nicht.
Gottfried Benn
Von machen Autoren wird wortreich vieles wiederholt oder variiert. Francisca Ricinski ist die Ausnahme von dieser Regel. Auf großes Echo stieß sie mit Auf silikonweichen Pfoten. Nun erscheint ein neuer Band von Ricinski, der sich in intensiven und ergreifenden literarischen Bekundungen dem Prozess des Verfalls widmet. Dieser lyrischen Prosa haftet einerseits etwas Flüchtiges, Momentanes an, andererseits ist sie melancholisch und bleischwer. Ihre kleinen Arbeiten leben von der Kraft der Assoziation, von Umkehrungen und paradoxen Figuren. Die Bedeutungen verwandeln sich fortwährend, haften nicht an den Namen. Es kommt selten oft vor, dass sich eine Dichterin sich in aller Direktheit den wortwörtlich elementaren Themen widmen. Es geht Ricinski nicht um Lyrik im klassischen Sinn, es geht darum lyrische Formen als Reflexionsmedium fern seiner glitzernden Oberfläche begreiflich zu machen. Natürlich kann dabei nicht gänzlich auf etwas Pathos verzichtet werden. Die sozialen Gegensätze, der Kampf um Freiheit und die Anerkennung der Kulturen, hat Spuren in dieser Poesie hinterlassen.
Lyrik ist mehr als nur poetisches Design
Die Lyrik ist ein Laboratorium, in dem die Dichter versuchen, das zu integrieren, was sie, wenn sie vorurteilslos hinschauen, was sie vorfinden in der europäischen Wirklichkeit. Bei Ricinski sind die Grenzen zwischen Poesie und Prosa fließend: Im Traum vermischen sich Lied und Notiz; die Lyrikerin mutiert zur Tagebuchschreiberin; die Reflexion fällt der poésie pure ins Wort. Es ist eine Melange aus Erinnerung, Beschreibung und poetologischer Reflexion, in der sich das eine vom anderen gar nicht trennen läßt. Unbekümmert, mit feinem stilistischem Gespür mischt sie Genres, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Ricinski versteht es, die große Geschichte mit der kleinen zu verschränken, das Persönliche ins Allgemeine laufen oder besser: stürzen zu lassen. Wenige Skizzen reichen ihr, ihren Protagonisten ein persönliches Antlitz zu geben. Sie hat eine Sprache, die sich auf nichts ausschließlich einlässt, sondern immer mit Augenzwinkern erzählt. Über alldem und um all das herum bilden Humor und Traurigkeit eine Dichotomie. Ricinskis Handschrift ist eine Kennung, ein Ausweis, ein Biorhythmus. Das aktive Ich tritt zurück, die Natur verfügt plötzlich über mächtigere Ressourcen und wird zum bestimmenden Element. Obwohl sinnliche Empfindungen symbolisch aufgeladen werden, reihen diese Texte in die romanische Tradition ein und sind von der manchmal schwerblütigen Tiefe deutscher Naturlyrik weit entfernt.
Reservoirs für Literatur
Durch dieses Buch zieht das Möglichkeitsspektrum der Literatur, durch alle Genres läuft, vom Gedicht über Essay, dramatischen Entwurf bis hin zum Prosa. Vielfältige Parallelen werden sichtbar, auch besondere Motivlagen, die sich durch die Zeiten hindurchziehen. Der poetische Sprachgebrauch entspringt dem Wunsch nach Aufsprengen der Funktionsrichtung moderner Sprache, einem Verweigern gegen die auf Eindeutigkeit gerichtete Tendenz des alltäglichen Sprachgebrauchs. Ähnlich wie im Fall von Erhabenheit und Pathos schafft sie es auch den melancholischen Momenten des Bandes ein selbstironisches Gegengewicht anzuhängen. Ricinski bringt mit ihrer Dichtung eine Stimme in die Gegenwartsliteratur, die in ihrer Evokation und Haltung schier überrascht und ein Verhältnis von Kunst und Mysterium ungetrübt erprobt.
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Als käme noch jemand – lyrische Prosa mit Erzählcollagen von Francisca Ricinski, Pop-Verlag, 2013
Weiterführend →
Lesen Sie auch den Essay: Über das Ausschreiten von Sprachräumen.
Und eine Leseprobe findet sich hier.