Begegnungen und Augenblicke

Das erste Gedicht, das ich in meinem Leben vielleicht gehört habe, war der Auszählreim „Eins, zwei, drei – und du bist frei!“ Im Lauf meines bisherigen Lebens – und das gilt auch sicher noch für das mir verbleibende – habe ich mir oft gewünscht, daß dieser Reim als Lebenswahrheit stimmt, aber so einfach war und ist es eben nicht.

Das erste wirkliche Gedicht, habe ich 1945, also mit etwa sechs Jahren gehört, als ein russischer Oberst, ein sowjetischer Besatzungsoffizier, wahrscheinlich ein Jude, vom Zivilberuf ein Germanist an der Moskauer Universität, in Uniform und strammer Haltung ganz feierlich und minutenlang aus den „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke zitiert hat. Mit offenem Mund und ganz erstaunt, daß es so etwas gibt, daß unser russischer Oberst, der Sowjetsoldat, der sonst mit seinen Soldaten nur russisch sprach, plötzlich auf Deutsch, mit mir verständlichen Worten, wenngleich nicht verstehbarem Sinn, auswendig und fehlerfrei, wie ich heute weiß, die siebte Duineser Elegie auswendig rezitierte. Noch heute kann ich mich ganz deutlich an diesen Augenblick erinnern und kann noch immer den Anfang dieser Elegie, der da lautet: „Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen…“ Etwas Geheimnisvolles war in diesem Augenblick der Begegnung mit dem ersten wirklichen Gedicht, mit Rilke, mit dem das Gedicht zitierenden Oberst, und etwas Wunderbares; und das ist mir als Zeichen und Stigma für Poesie, für das Poetische überhaupt (H.C.Artmann) bis heute geblieben.

Der jüngste Dichter, dem ich begegnet bin, hieß Gert Jonke. Das war in Klagenfurt. Und der Jonke war damals ein Bub mit sechzehn Jahren, aber schon ein Dichter; dessen war er sich und war ich mir bewußt und sicher; jedenfalls daß er einer werden wollte und werden würde. Unsere Begegnung und unsere Treffen fanden im „Café Ingeborg“ statt. Das war damals ein Treffpunkt. Und für mich war es sehr praktisch, weil ich in einem Heuhaufen in einer überdachten Hütte gleich unten beim Lendkanal mein Nachtquartier hatte; und daneben angebunden mein Moped, mit dem ich von Wien nach Klagenfurt in einer 16-Stunden-Fahrt gefahren war. Der Jonke war ein schmächtiger Bub, sehr zurückhaltend und bescheiden, immer mit einem Anflug von Ironie, aber irgendwie gütig, jedenfalls mehr als ich, denn ich war gerade das nicht, bin es heute noch nicht. Der Jonke war freundlich, umgänglich, ja fast lieb und humorvoll. Und das ist er ja auch sein ganzes Leben geblieben. Bei einem oder mehren Treffen im Cafe Ingeborg, die oft bis spät in die Nacht dauerten und angefüllt waren mit Gedanken anregenden Gesprächen, war auch der damals noch junge, rebellische und völlig andersartige Werner Kofler mit dabei. Beide sind dann einmal nach Wien gekommen, haben bei mir Station gemacht, Quartier und was ich halt hatte, zum Essen bekommen. Der Kofler konnte aufbrausend sein, der Jonke hingegen war stets ruhig, unterbrach nie mein Reden, lächelte nur, manchmal wie so vor sich hin, begehrte nie auf, machte höchstens da oder dort einen Einwand, eine Ergänzumg, teilte eine Überlegung mit, stellte eine Frage oder stellte etwas in Frage. Der Kofler war von allem überzeugt. Alles war so, wie es war; oder auch nicht, egal. Der Kofler war ein Realist, der Jonke ein Phantast, im besten Sinn des Wortes. Korrigiere mich bitte, Jonke, wenn ich da was Falsches sage! Aber ich gebe nur wieder, was ich damals empfand. Mit dem Jonke redete ich über Musik. Ich hatte damals wenn auch oft kein Geld und fast nichts zu essen außer Erdäpfelpürree mit Rindsleber (billig!) so doch schon einen Donauland-Koffer-Plattenspieler, auf dem ich die Platten meiner Musiksammlung, nur Klassische Musik, abspielte; vor allem und am liebsten Klavierkonzerte. Einmal war die Mutter vom Jonke zu Besuch, richtiger gesagt: zum Nachschauen, ob der Bub auch einen anständigen Umgang habe, bei mir in meiner Bude in der Blumengasse im siebzehnten Bezirk zu Besuch. Als sie hörte, daß ich Klassische Musik und da vor allem Klavier liebe, war sie zufriedengestellt. Sie war ja ausgebildete Pianistin. Noch heute sehe ich sie vor mir im alten, mit blauem Stoff überzogenen, wahrscheinlich hundert Jahre alten Sessel mir vis-a-vis sitzen, und wie wir gemeinsam ein Klavierkonzert angehört habe: der Jonke, seine Mutter und ich. Später ist dann der Jonke nach Wien gekommen, zum studieren. Da hat er im Internationalen Studentenheim in Döbling gewohnt, allein, in einem kleinen Einzelzimmer. Er hatte es dort warm. Ich habe ihn beneidet. Ein paarmal war ich dort bei ihm „auf einen Sprung“, wie ich sagte. Es hat immer etwas länger gedauert. Ich habe geredet, der Jonke hat geschwiegen und gelächelt. Ein sanftmütiger Mensch. Und dann sind wir manchmal auch spazieren gegangen, nicht der frischen Luft wegen oder zur Leibesertüchtigung, nein, der Jonke war ganz erpicht darauf, Wien kennenzulernen; und zwar nicht das Wien, das im Reiseführer steht, sondern ein ganz anderes, nämlich das außerhalb der Innenstadt, das Wien draußen außerhalb des Gürtels, das bei der Vorortelinie. Ich bin mit ihm gerne dort herumgestreunt, wir sind in damals noch offene weil unversperrte Häuser hineingegangen, in Häuser mit sogenannten Bassenawohnungen, Zimmer-Küche-Kabinett, Wasser und Klo am Gang. Auch ich habe so gewohnt damals. Der Jonke war auf alles neugierig. „Wie heißt diese Pflanze“, fragte er mich einmal, als wir in einem Stiegenhaus in Hernals hinauf- und hinunter gingen und er am Fenster eine große grüne in Dolden blühende Zimmerpflanze sah. „das ist eine Clivia“, sagte ich, das ist die Hausmeisterpflanze in Wien; im Winter überwintert sie bei den Fenstern auf dem Gang. Jonke schien fasziniert zu sein. Jedes kleinste Detail interessierte ihn. Und ich kannte mich in vielem aus und sagte ihm gern, was ich wußte. Als ich das nächste Mal bei ihm im Studentenheim war, zeigte er mir ein dickes Heft, eigentlich einen Block, in der Art wie ein gebundenes Buch, schlug es auf und wies auf die vollbeschriebenen Seiten. „Ich habe alles aufgeschrieben“, sagte er, „ich habe alles aufgeschrieben, was ich gesehen und mir dabei gedacht habe“. Das war knapp vor seinem ersten Buch, dem „Geometrischen Heimatroman“ und noch vor seinem Bachmann-Preis. Irgendwann ist der Jonke dann weggegangen, vielleicht nach Klagenfurt oder anderswohin, jedenfalls hat er sein Studium – ich weiß gar nicht mehr, was er studiert hat – abgebrochen. Dann ist unser Kontakt abgerissen und wir haben uns aus den Augen verloren. Jahre später bin ich ihm wieder begegnet. Wir waren uns nicht fremd, aber es war keine Vertrautheit zwischen uns; die gab es trotz unserer Begegnungen und Wege sowieso nicht, sowieso nie.

 

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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.