von Walt Whitman
Stadt der Orgien, Promenaden und Freuden,
Stadt, die ich, in deiner Mitte lebend, besang
und einmal berühmt machen werde.
Nicht deine Feiern, nicht deine wechselnden
Tableaux, deine Spektakel, belohnen mich;
Nicht deine endlosen Häuserreihen, nicht
die Schiffe in den Werften,
Nicht die Festzüge in den Straßen noch die
glitzernden Auslagen mit ihren Waren,
Nicht das Gespräch mit Gelehrten oder
mein Teil an Soiree oder Gelage;
Die alle nicht – aber wenn ich, O Manhattan,
vorbeigeh’, und oft wirft mir ein Augenpaar
einen schnellen Liebesblick zu,
In Antwort auf meinen Blick –
die belohnen mich;
Liebende, nur unaufhörlich Liebende,
sind mein Lohn.
Übersetzung: Ruth Klüger
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Gegenwind, Gedichtinterpretationen von Ruth Klüger, Paul Zsolnay 2018
Ruth Klügers Auswahl erhebt keinen Anspruch, einen Kanon abzubilden, sie zeigt uns, was Gedichte sein können. Der Wahrnehmungsraum des Lesers öffnet sich und zeigt, wie Literatur kann. Keine zwei Leser, so schreibt Klüger, läsen dasselbe Gedicht – sie läsen nur denselben Text. „Und so hat jeder Interpret eines Gedichts mit mehr Widerstand seiner Lesart zu rechnen, als wenn es sich um Prosa handelte, die von der Gattung her zugänglicher ist. Und doch ist gerade dieser Widerstand anregend, denn er fördert das Gespräch, das die Lyrik braucht, um brauchbar zu bleiben. Diesen Widerstand nenne ich einen Gegenwind zum Gedicht selbst. Daraus entstehen Kommentare, in denen sich die Prosa einmischt, um dem Gedicht zu dienen.“ Die Interpretin vermeidet das germanistische Fachvokabular und schreibt nachvollziehbar. Dieser Band sammelt erstmals Klügers Interpretationen, auch übersetzter Gedichte, aus den vergangenen zehn Jahren. Sie deutet und übersetzt Gedichte von Adelbert von Chamisso Chamisso, Hebbel, Rilke, Hesse, Ilse Aichinger, von Elizabeth Barrett Browning bis Anne Sexton.
Weiterführend → Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.