An Beuys lässt sich wunderbar zeigen, wie die willentliche Dekonstruktion ästhetischer Konventionen dazu führt, dass die schiere Kunstbehauptung zum eigentlichen Kriterium wird und ins Zentrum aller kunstbegierigen Aufmerksamkeit rückt.
Hans-Joachim Müller
***
Wie können Joseph Beuys in einer Collage unzähliger, bisher unerschlossener Bild- und Tondokumente wiederbegegnen, Andres Veiel stellte ein Zeitdokument zusammen. Wie sehen wie Beuys sich mit Fragen des Humanismus, der Sozialphilosophie und Anthroposophie auseinandersetzt. Dies führte zu seiner Definition eines „erweiterten Kunstbegriffs“ und zur Konzeption der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk, in dem er Ende der 1970er Jahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik forderte. Der Film „Beuys“ ist eine intime Betrachtung des Menschen, seiner Kunst und seiner Ideenräume.
1976 trat Beuys als Kandidat für die nationalistische Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher an. Der Regisseur Andres Veiel sieht in Beuys‘ Zusammenarbeit mit einem ehemaligen SS-Mitglied und seinen Abenden mit alten Kriegskameraden eine ‚Transformierung der Katastrophe‘ und eine ‚Möglichkeit, sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien.‘ Ging Beuys also zu Kameradschaftsabenden seiner Luftwaffeneinheit, wo er sich lachend mit ihnen fotografieren ließ, nur, weil er sie zu aufrechten Demokraten bekehren wollte?
Einem andern begegnen wir in „Beuys. Die Biographie“: „Unter den Beuys-Anhängern finden sich viele, die man eher dem linken Spektrum zurechnen würde, weil sie nicht wissen oder wahrhaben wollen, was er wirklich vertrat. Aber Beuys hat dezidiert Thesen verkündet, die sich heute bei den Querdenkern wiederfinden. Beuys war gegen den Parlamentarismus, er machte Parteien und Politiker lächerlich. Sein Ziel war eine andere Gesellschaft, die nach anthroposophischem Schnittmuster funktionieren sollte. Eine seiner zentralen Aussagen war immer, dass die Menschen spirituell und geistig unterdrückt würden von höheren, unbestimmten Kräften. Das ist auch eine Kernthese der Querdenker und Verschwörungstheoretiker.“
Beuys. Die Biographie, von Hans Peter Riegel: Aufbau Verlag, Berlin. 2013, 595 S., 28 Euro
Weiterführend →
Joseph Beuys hat den Kunstbegriff erweitert. Auch der Literaturbegriff gehört erweitert. Bestand die Modernität des Aphorismus bisher in der Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur.
→ ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.
Twitteratur, eine Anthologie. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.