− Panik auf den Rolltreppen im August. −
Diese Offenheit, diesen unverstellten Blick,
unverstellt von Ideologie, Gedankenmustern,
Absichten, Zielen, Pflichten, Moral usw. kann
ich mir hier nicht denken, sie ist nicht da, dieses
winzige Stückchen mehr an Freiheit.
Statt dessen herrscht eine Ideologie und ein
Gedankenterror und ein blindmachendes Abstrahieren,
das von Gedanken ausgeht und immer
weiter abstrakt Gedanken produziert −
dabei geht alle Sinnlichkeit verloren.
Rolf Dieter Brinkmann
Brief an Hartmut Schnell vom 22.1.1975
In
den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Jahres 2005 befaßte ich mich –
in Erwartung des 23. April 2005, dem dreißigsten Todestag Rolf Dieter
Brinkmanns – wieder besonders intensiv mit Westwärts & Co.,
Gedichte lesend, via Google recherchierend, Gedanken notierend,
Gespräche suchend. [Zu Beginn des Jahres 2007 ist es ganz ähnlich: Brinkmanns Zorn,
Bergmanns Film über RDB mit Eckhard Rhode (gemeinsam mit Brinkmanns
Originalstimme) in der Hauptrolle, kommt in die Kinos, die Freunde
(Kutsch, Röhnert, Völkert-Marten) schreiben Mails und/oder rufen an, und
auch die Medien überschlagen sich vor Begeisterung. Ich lese Kommentare
im Internet und sehe Ausschnitte im Fernsehen – wie Brinkmann auf
Mülltonnen eindrischt und die Poesie der Eisenbahn beschwört – und
brenne auf den Film, der im November 2007 als DVD erscheint.]
Am 3.
Dezember 2004 beispielsweise in der Kölner Taubengasse während meines
Besuchs bei Hans Bender: Jedesmal, wenn wir uns sehen, reden wir über
Brinkmann, und dieses Mal hörte ich mich erneut zu einer Lobeshymne
ansetzen, die ich schon so oft gesungen hatte: „Ja, ich bekenne mich
gern zu Rolf Dieter Brinkmann. Ich bin ein großer Verehrer seines
Werks.“ Bender, als Herausgeber der Akzente und anderer
Editionen einer der Förderer Brinkmanns, betont (nachdem er zum
wiederholten Mal sein Unverständnis gegenüber einem Werk wie Rom, Blicke,
das mich unglaublich affiziert, geäußert hat), daß Brinkmann ihm
gegenüber stets höflich und freundlich gewesen sei. [Wahrhaftig keine
Selbstverständlichkeit beim grundsätzlich zornigen Brinkmann, der Kölner
Kneipenwirte anschnauzte, wenn die ihn anraunzten, weil er sein Bier
nicht bezahlen konnte.]
Am 4. Januar 2007 lese ich amüsiert und mit hochgezogenen Augenbrauen in einem Artikel auf der Website der taz:
Wieso
liegt am Anfang des 21. Jahrhunderts von allen literarischen Gattungen
ausgerechnet die Lyrik im Trend? Warum nicht – angesichts von Kriegen,
Amokläufen und abgefilmten Hinrichtungen – das Drama? Der Roman feiert
weiterhin Erfolge, auch die lang geschmähte und vergessene kleine Prosa
wird plötzlich wieder wahrgenommen, sei es, dass Botho Strauß neuerdings
mit Kalendergeschichten Erfolg hat, sei es, dass die Glossen und
Kurzgeschichten der ZIA-Literaturpiraten Holm Friebe, Jörn Morisse und
Kathrin Passig begeistert gefeiert werden. Doch stärker noch als alle
diese rücken seit zwei, drei Jahren die Lyriker ins Rampenlicht. Nico
Bleutge oder Uljana Wolf werden bereits nach einem Lyrikband an die
Seite von Brinkmann, Bachmann und Born gestellt, der feine Lyrikverlag Kookbooks wird mit Preisen überschüttet, und über Leute, die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen, wird nicht mehr gelacht. [An dieser Stelle seien drei Fragen gestattet:
Liegt Lyrik tatsächlich im Trend?
Ich fürchte mehr denn je, daß auch nach 2000, abgesehen von
gutbesuchten großstädtischen Events mit Multimediacharakter, durch die
kaum ein Gedicht in den Köpfen der Besucher haftenbleiben und kaum ein
Lyrikband mehr verkauft werden dürfte, die Lyrik an sich Sache einer
extrem kleinen Gruppe von intrinsisch sprach- und forminteressierten
Menschen bleibt. Daran wird auch der zwar auf sechs Seiten angelegte,
insgesamt jedoch eher rührende als richtungsweisende Versuch der ZEIT
vom 24. Mai 2007, der Lyrik von heute zu mehr Lesern zu verhelfen,
nichts ändern. Ausgerechnet Robert Gernhardt zur Zündkerze in den
Motoren der völlig anders orientierten jüngeren Autorinnen und Autoren
zu stilisieren, wie Ulrich Greiner es tut, sorgt allenfalls für
Erheiterung, ebenso die Frage, wie man Gedichte eigentlich lese.
(Grundsätzlich schlage ich vor: von links nach rechts sowie von oben
nach unten und die gelungenen Verse wieder und wieder.) Michael Braun
faselt auf www.freitag.de unter anderem gar von „Randale“ in der
deutschen Lyrikszene. Lyrikdoktor Jakob Stephan wird in diesem Fall
sicherlich eine schwere Form von Realitätsverlust diagnostizieren.
Wer
– außer vielleicht der unbedarfte Kulturteil-Mitarbeiter – stellt Nico
Bleutge und Uljana Wolf an die Seite von Brinkmann, Bachmann und Born?
Bleutge und Wolf haben Erstlinge vorgelegt, die ich mit Interesse
gelesen habe, in denen ich aber nichts von der anarchischen Kraft und
Gewalt eines Buches wie Westwärts 1 & 2, das zu den
wuchtigsten Gedichtbüchern des 20. Jahrhunderts gehört, finden kann. Sie
in einem Atemzug mit Rolf Dieter Brinkmann zu nennen ist nicht das
lahme Lächeln über einen schlechten Scherz wert.
Lacht man wirklich nicht mehr über Leute, die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen?
Leute, „die sich mit heiligem Ernst Dichter nennen“, sind und bleiben
Witzfiguren. Darüber gibt es bei Brinkmann, Kling und anderen
ernsthaften Dichtern einiges Deftige, Heftige nachzulesen.]
Auch dieser Artikel findet Eingang in Meine Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann,
die ich seit 1997 wie ein Tagebuch führe und die mittlerweile zehn
zweispaltige Seiten umfaßt. Ebenfalls frisch vermerkt ist der Hinweis
auf eine Bemerkung Gerhard Falkners: „… und mein Ärger über den
schlechten Beobachter und den so sehr in seine Ignoranz vernarrten
Brinkmann ist noch nicht verraucht.“
Im grausamen Monat April höre
ich während mehrerer Wochen immer wieder die Audio-CDs, die anläßlich
des dreißigsten Todestags bei Intermedium Records in Erding erschienen sind: Wörter Sex Schnitt (fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 361 Minuten und 60 Seiten Booklet) sowie The Last One (Autorenlesungen während des Cambridge Poetry Festivals 1975, drei bzw. vier Tage vor dem Unfalltod in London).
Die wunderbare Zärtlichkeit, die vielen der Verse und Gedanken dieses
oft so ungeheuer schroff daherkommenden Menschen innewohnt, bezaubert
mich jedesmal neu. Und wenn ich diese jetzt von Brinkmann selbst
gesprochen höre, laufen mir Schauer über den Rücken. Während seines
Besuchs am Karfreitag 2005 hören Axel Kutsch und ich gemeinsam das
Gedicht „Rolltreppen im August“, und wir begreifen erneut, was
Brinkmanns besondere Gabe gewesen ist. Er behauptet die Panik nicht,
sondern hämmert sie in Gehirne: Panik, Panik, Panik…
Ich
weiß, daß es längst nicht nur mir so geht. Seit den 1990er Jahren erlebt
Brinkmann eine Renaissance, von der die FAZ (respektive Ingeborg Harms)
offenbar nichts mitbekommen hat: „Daß dieser gleichsam am Tropf des
Plattenspielers hängende Autor heute kaum noch gelesen wird, liegt nicht
zuletzt an der Illusion, man könne Atmosphärisches durch bloße Nennung
umstandslos in Blocksatz gießen.“ Nun denn. Ich habe in den letzten
Jahren einige Erstausgaben seiner in den 1960er Jahren erschienenen
Gedichtbände erworben und eine Reihe umfangreicher Bücher über Brinkmann
gelesen, die sein umfassendes Werk bearbeiten und in seiner
Vielseitigkeit deutlich machen.
Am 11. September 2001 lernte ich bei
einem Treffen in Köln Jan Volker Röhnert kennen, der mit zahlreichen
vorzüglichen Essays und zwei gewichtigen Büchern über Brinkmann
entscheidend dazu beiträgt, Mißverständnisse, die über den
Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann kursieren, zu korrigieren. [Heute,
am 3. Januar 2007, rettet er meinen Tag mit der einzigen Postsendung,
die ich erhalte. Darin finde ich einen Sonderdruck aus dem 787 Seiten
umfassenden Reader Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, 2006 im Erich Schmidt Verlag
herausgegeben von Ursula Heukenkamp und Peter Geist, mit einem erneut
kenntnisreichen und feinspürig interpretierenden Aufsatz von Röhnert
über Rolf Dieter Brinkmann (1940-1915), eingeleitet mit einem Zitat von The Doors: Before I sink into the big sleep / I want to hear the scream of the butterfly.] Wenn
ich lese, welche Dummheiten das Feuilleton über Brinkmann äußert
(beispielsweise die Reduzierung auf den „Popliteraten“, ohne die kaum
eine Schlagzeile auskommt), freut es mich um so mehr, daß Jan Röhnert
für eine Literatur wirbt, die so lebendig wirkt wie eh und je – und auf
mich stärker mit jedem Jahr, das ich älter werde und die
Ausnahmestellung und Qualitäten des Brinkmannschen Werks noch genauer zu
erkennen in der Lage bin. Röhnerts 2001 in der edition bauwagen erschienener Gedichtband Fragment zum französischen Süden 1 & 2 steht
in der Nachfolge eines Autors, dessen Nachwirkungen auf die aktuelle
Lyrik im deutschen Sprachraum spürbar sind – zahllose postmoderne
Allusionen in Gedichten der letzten Jahre beweisen es: An Brinkmann
führte nach 1975 so schnell kein Weg vorbei. Warum auch? Dieser Autor
hat eine ganze Reihe unsterblicher Gedichte geschrieben. Hierzu schreibt
Röhnert:
Auf eine Weise jedoch haben die Gedichte Brinkmanns auch nach dem Tod ihres Schöpfers „weitergemacht“: Beim Leserpublikum und einer Vielzahl von Lyrikern, die sich durch Brinkmann zu – mehr oder weniger gelungenen – eigenen Versuchen inspirieren ließen. Seine Anregungen scheinen jeweils dort am fruchtbarsten aufgehoben zu sein, wo sie innerhalb eines wiederum selbständigen Dichtungsentwurfs neue Gestalt gewinnen. Etwa für den Kaddish-Zyklus von Brinkmanns Generationskollegen Paulus Böhmer, die Lyrik der rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner (Kopfland. Passagen) oder Richard Wagner (Hotel California) ist Brinkmanns Lyrik ein fester Bezugspunkt, aber auch für das Selbstverständnis 0stdeutscher Lyriker wie Uwe Kolbe, Thomas Böhme oder Michael Wüstefeld spielte Brinkmann eine wichtige Rolle; auch aus den frühen Gedichtbänden Thomas Klings geschmacksverstärker und Durs Grünbeins Grauzone morgens ist Brinkmanns Stimme herauszuhören.
Einem
Gedichte verfassenden Menschen, der sich nicht wenigstens in Form einer
Pflichtlektüre mit Brinkmanns Gedichten und Poetologie befaßt hat, kann
ich nur bedingt Respekt entgegenbringen.
Vor einiger Zeit besuchte
mich Jürgen Völkert-Marten aus Gelsenkirchen, dessen legendäre
Rolf-Dieter-Brinkmann-Sammlung mit den Veröffentlichungen zu Lebzeiten
(beinahe) lückenlos ist, und schenkte mir eine 1978 erschienene Ausgabe
der amerikanischen Literaturzeitschrift New Letters mit zwei
von Hartmut Schnell in Englische übertragenen Gedichten Brinkmanns, von
denen eins – „The African“ – meines Wissens bislang nicht einmal auf
deutsch erschienen ist. Es gibt wahrscheinlich noch einiges
Unveröffentlichte in Frau Brinkmanns und anderer Leute Schubladen –
obwohl nun auch mit den beiden Audio-Editionen ja wieder Fulminantes ans
Tageslicht gekommen ist. Und das waren nicht die einzigen
Überraschungen im Jahre 2005. Nein, aller guten Dinge sind (mindestens)
drei.
Ich drehe jetzt mehrere Seiten lang die Zeit um einige Jahre zurück:
In
den späten 1980er und den gesamten neunziger Jahren hatte ich
vergeblich versucht, Rolf Dieter Brinkmanns vergriffenen Lyrikband Westwärts 1 & 2
in Antiquariaten aufzustöbern. Ich hatte gelegentlich befreundete
Autoren gebeten, für mich mit Ausschau zu halten nach jenem Lyrikband
(für dessen auf 188 Seiten verteilte Bruchstücke, Collagen, Montagen,
präzise, sinnliche Bilder, konkrete, einfache Wörter, Augen-Blicke,
musikalische Sequenzen und wilde, sich über etliche Seiten hinziehende
Wortwirbel ich bis zu achtzig Mark zu zahlen bereit war), der nach
seinem Erscheinen im Jahre 1975 dafür sorgte, daß der Autor Rolf Dieter
Brinkmann total lebendig geblieben ist.
Natürlich konnte ich zahlreiche Gedichte aus Westwärts 1 & 2 in Anthologien finden, so beispielsweise in dem von Axel Kutsch besorgten Lyrikjahrbuch Wortnetze II
(Rolf Dieter Brinkmann und Hans Bender als „großen Schriftstellern und
Herausgebern“ gewidmet), aber was war das schon gegen das Erlebnis des
Ganzen? An einem Tag im Jahre 1997 erhielt ich denn auch einen
dringenden Anruf von Völkert-Marten, der mich auf den aktuellen Katalog
des Antiquariats Seinsoth in Bremen aufmerksam machte, in dem
ein gut erhaltenes Exemplar des Taschenbuchs angeboten wurde. Ich
meldete mich dort umgehend, aber nein, leider war das Exemplar schon
verkauft. Wieder nichts.
Ähnliche Erfahrungen konnten Sie auf
Antiquariatstagen in den neunziger Jahren machen, wo Sie mit
Nike-beschuhten, eigens von gutbetuchten Sammlern für diesen Wettlauf
engagierten Muskelmännern in Konkurrenz treten mußten, um ein
Brinkmann-Bändchen aus den sechziger Jahren wie Le Chant du Monde für
mehrere tausend Mark zu ergattern. Völkert-Marten gehört zu den Lesern,
die sich früher als ich mit Brinkmann befaßt haben, und er ist einer
der wenigen Glücklichen, die mehr oder weniger sämtliche Werke
(einschließlich der zu Lebzeiten Brinkmanns erschienenen Anthologien und
Zeitschriften) in Originalausgaben besitzen. Aber originale Ausgaben
müssen es nicht sein. Die Gedichte sind das Wesentliche, und die ersten
neun Gedichtbände Brinkmanns aus den Jahren 1962 bis 1970 sind in dem
schwarzen Sammelband Standphotos zusammengefaßt.
Das Westwärts-Dilemma
hatte ich selbst heraufbeschworen. Ich studierte seit 1974 in Köln.
Wieso hatte ich mir nicht längst eins der 17.000 Exemplare besorgt? Das
ist eine Geschichte, die Sie in meinem collagierten Gedichtband das letzte wort hat brinkmann (Edition Labyrinth & Minenfeld,
Osnabrück 1996) nachlesen können. Karsten Herrmann, Herausgeber jener
mittlerweile eingestellten Edition, hat 1998 über Brinkmann promoviert
und erweist sich mit seinem Buch Bewußtseinserkundungen im Angst- und Todesuniversum. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher (Aisthesis,
Bielefeld 1999) als einer der besten Kenner des Werks dieses nur einem
erweiterten Insiderkreis bekannten Autors (woran auch der Film Brinkmanns Zorn
letztlich wenig ändern wird). Ich habe Herrmanns Buch mit Genuß und
großem Gewinn gelesen. Über zehn Jahre lang lebte Brinkmann in einer
Seitenstraße Kölns, der Engelbertstraße Nummer 65. In Köln gibt es zwar
das recht gut dotierte Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium (das
auch Thomas Kling einst erhielt), aber das heißt nicht, daß Brinkmann
auch nur annähernd so bekannt unter Kölner Deutschlehrern ist wie etwa
Heinrich Böll. Das Gegenteil ist der Fall. [Nach Paul Schallück ist
sogar eine Straße benannt (ganz in der Näher des Uni-Centers), aber auch
mit diesem Autor haben die Kölner (und andere) Leser nicht viel im
Sinn. Demnächst soll eine Ausgabe der gesammelten Werke Paul Schallücks
im Verlag Ralf Liebe – für ein Revival sorgen. Was für eine
frohe Botschaft.] Wenn der arme Brinkmann von diesem Stipendium wüßte,
er würde sich nicht krank-, nein, er würde sich mal wieder kaputtlachen,
denn wer zu Kölner Lebzeiten so gegen Wände gelaufen ist und später als
Ikone gehandelt wird, nein, das wäre seine Sache nicht gewesen. Oder
täusche ich mich?
Der unbeugsame Brinkmann paßte vom Naturell her nicht ins klüngelige Köln,
wo man gern die Fünf gerade sein läßt, und ich frage mich, warum er
dieser Stadt und ihren Menschen, die er gehaßt hat, wie man eine Stadt
und Menschen nur hassen kann, nicht den Rücken kehrte. [Möglicherweise
scheiterte es immer wieder nur am blöden Gelde. So erzählte mir Michael
Hamburger, Brinkmann, mit dem er für den 24. April 1975 verabredet
gewesen sei (statt dessen habe Jürgen Theobaldy mit der Todesnachricht
vor der Tür gestanden), habe ihn während der Tage in Cambridge inständig
gebeten, ihn bei einer Übersiedlung nach London zu unterstützen.]
Natürlich wäre Köln wiederum nicht Köln, wenn es nicht all die vielen
Künstler und Schriftsteller beherbergen würde, die mit dieser Stadt in
einer Haßliebe verbunden sind oder waren. Beispielsweise hat Dieter M.
Gräf in einem Gespräch, abgedruckt in der von Jochen Arlt edierten
literarischen Anthologie Junger Westen (Rhein-Eifel-Mosel-Verlag,
Pulheim 1996), dazu einiges Bemerkenswerte gesagt. [Mittlerweile ist
Gräf – wie etliche aus dem ganzen Land – nach Berlin abgewandert, um an
die dortigen für Literatur bereitgestellten Fleischtöpfe zu gelangen.
Dieter M. Gräf scheint zu diesen streunenden Literatur-Nomaden zu
zählen, die für das öffentliche Geld, das sie hier und da ergattern
können, ihr Seelchen verkaufen. Aus einer solchen mich an das Leben von
Parasiten erinnernden Lebenshaltung entsteht kein überzeugendes
literarisches Werk. Wer wäre ein besseres Beispiel als Rolf Dieter
Brinkmann für die Untermauerung der Bennschen These, kein Satz, kein
wirklicher Satz komme zustande, wenn nicht hinter ihm das ganze Pathos
und das ganze innere Leiden der Persönlichkeit stehe? Das kann
jedenfalls Dieter M. Gräf, der für das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium vielleicht doch nicht der geeignete Kandidat war, nicht für sich beanspruchen. Da ist Anne Dorn von andrem Schrot und Korn: Köln
als Hauptadresse, dazu einen erreichbaren Flecken in der Eifel, an dem
mich nichts außer Ameisen, Schmetterlingen, Greif- und Singvögel,
Gestrüpp und freie Luft erwartet, ist die Verlockung, der ich erlegen
bin.]
Im Dezember 1998 erreichte mich eine Postkarte von Arlt, die mich darüber in Kenntnis setzte, daß Westwärts 1 & 2
wieder verfügbar sei. Die Karte bewirkte einen Endorphinschub, der mich
taumeln ließ. Am 6. Januar 1999 stieg ich die enge, steile Treppe zur
Kölner Bahnhofsbuchhandlung hinab (hier hat sich Brinkmann auch immer
wieder Bücher besorgt, eine Angestellte erinnert sich gut an ihn) – und
tatsächlich: Da stand das Buch, gleich zehnmal schön in Reih und Glied
hintereinander. So einfach war das also. Im Überschwang meiner Freude
sagte ich leichthin zu der Dame, die die achtzehn Mark und neunzig
Pfennige kassierte: „Auf dieses Buch habe ich jahrelang gewartet. Ist
die Nachfrage denn schon rege?“ „Ach was“, meinte sie, „wieso denn auch,
der Brinkmann ist doch längst passé.“ Mist, dachte ich, hättest du doch
nichts gesagt, denn auf eine Diskussion einlassen wollte ich mich
nicht, konnte aber nicht umhin, ihr im Gehen noch zu sagen, daß sie mit
ihrer Meinung auf dem Holzweg sei. Eine weitere Reaktion wartete ich
nicht ab, es war mir einfach zu blöd. [In den Tagen der Niederschrift
dieser Zeilen – im April 2005 – erscheint – endlich, endlich – die
ursprüngliche Fassung von Westwärts 1 & 2: 360 statt 188
Seiten. Dreißig Jahre lang haben die Leser Brinkmanns darauf gewartet.
Dreißig Jahre. Es ist ein grandioses, ein kolossales, ein mitreißendes
Buch.] So ist das mit Brinkmann: Nichts geht glatt bei dem Mann, nicht
einmal der Kauf eines seiner Bücher. Das beweist ja auch wieder der oben
erwähnte, während der verregneten Sommertage des Jahres 2002
erschienene FAZ-Artikel, zu dessen Niveau Axel Kutsch nur noch ein Wort
einfiel: „Unsäglich“. Symptomatisch auch die Erfahrung mit dem Artikel
in der Digitalenzyklopädie Encarta: Überrascht war ich zunächst
einmal über die Länge des Artikels, und beim Lesen stellte ich
kopfnickend fest, daß dieser Text einen recht guten Überblick über Werk
und Wirkung Brinkmanns vermittelt:
Brinkmann, Rolf Dieter (1940-1975), Schriftsteller. Aufgrund seiner Affinität zur amerikanischen Subkultur Ende der sechziger Jahre gilt er als Begründer einer deutschsprachigen Variante der Underground-Literatur. Brinkmann wurde am 16. April 1940 in Vechta geboren. Nach einer Beschäftigung als Verwaltungsangestellter und einer Buchhändlerlehre begann er 1963 ein Pädagogikstudium. Bereits nach 1959 entstanden zahlreiche Gedichte und Erzählungen, die zwar in Kleinverlagen erschienen, jedoch weitgehend unbekannt blieben. Seit Mitte der sechziger Jahre lebte Brinkmann als freier Schriftsteller, oftmals am Rand des Existenzminimums. Sein 1968 veröffentlichter Roman Keiner weiß mehr machte ihn mit einem Schlag bekannt. Die ein Jahr später folgenden Prosasammlungen Silver Screen avancierten zur Standardlektüre vor allem in der bundesdeutschen 68er-Generation (siehe Studentenbewegung). In der gleichen Zeit wurden u.a. die Lyrikbände Godzilla (1968), Die Piloten (1968) und Gras (1970) publiziert, die allesamt die Züge amerikanischer Popkultur trugen. Auch durch Übersetzer- und Herausgebertätigkeiten (ACID. Neue amerikanische Szene, 1969, zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla) machte Brinkmann die Untergrunddichtung der USA im deutschen Sprachraum bekannt. Zwischen 1970 und 1975 verebbte seine Schaffenskraft. 1974 hielt er sich als Gast des German Departement der Universität Austin (Texas) in den Vereinigten Staaten auf. Brinkmann starb am 23. April 1975 bei einem Autounfall in London. Brinkmann gehörte zu der von Dieter Wellershoff initiierten Kölner Schule des neuen Realismus. Dabei verband er eine wirklichkeitsnahe Darstellungsweise mit modernen Verfahren wie den Stream of Consciousness oder der Montage, wobei er auch Werbespots und Reklameworte miteinbezog. Düstere Zukunftsprognosen, geradezu apokalyptische Visionen und eine starke Aversion gegen den westlichen Kulturbetrieb kennzeichnen die Periode von 1970 bis zu seinem Tod; paradigmatisch wird dies in World’s End (1973) und der autobiographischen Briefsammlung Rom, Blicke deutlich, die während eines Stipendiums der Deutschen Akademie Villa Massimo (1972/1973) in Italien entstanden. Weitere Werke des Autors sind die Erzählungen Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966), die Gedichtbände Was fraglich ist wofür (1967), Westwärts 1 & 2 (posthum 1975), Standphotos (posthum 1980) und Eiswasser an der Guadelupe-Straße (posthum 1985) sowie die autobiographische Sammlung Der Film in Worten (posthum 1982). Darüber hinaus drehte Brinkmann Experimentalfilme und trat als Organisator multimedialer Events hervor.
Den
Kopf schüttelte ich allerdings, als ich auf den Satz „Zwischen 1970 und
1975 verebbte seine Schaffenskraft“ stieß. Das Gegenteil ist der Fall.
Nach 1970 zog sich Brinkmann in die Wohnung in der Kölner
Engelbertstraße am Rudolfplatz zurück (wenn er denn nicht als Stipendiat
in Rom bzw. als Gastprofessor in Austin/Texas weilte oder im Hunsrück
auf einem besonders extremen Rückzugstrip von der Gesellschaft war) und
collagierte, fotografierte, las, montierte, reflektierte und schrieb,
schrieb, schrieb, schlug am Tag und vor allem in der Nacht mit den
Tasten der Schreibmaschine wie besessen und berauscht Buchstaben auf das
Papier – entgegen weit verbreiteter Ansichten viel, viel, viel
intensiver als je zuvor.
In diesen letzten Jahren seines Lebens
bereitete Rolf Dieter Brinkmann in Form von Materialienbüchern (die noch
nicht alle publiziert sind, nehme ich an) sein opus magnum vor, das
alles bisher Dagewesene überwinden sollte. Vorbilder wie Louis-Ferdinand
Céline (Reise ans Ende der Nacht), Blaise Cendrars (Moravagine), Hans-Henny Jahnn (Fluß ohne Ufer, Perrudja), Arno Schmidt (Zettels Traum)
[Die Originalausgabe verscherbelte er nach der Lektüre aus Geldnot an
ein Antiquariat – wie so viele andere Bücher auch.] und Claude Simon (Die Akazie)
hatten ihm Vorlagen geliefert, die er unbedingt zu übertreffen suchte.
Diese Romane waren, bei aller Faszination, die sie ausüben mochten,
immer noch viel zu sehr aufs Wort fixiert; wie beispielsweise James
Joyce mit Finnegans Wake wollte Brinkmann den Literaturbegriff,
den Roman an sich sprengen, nicht mehr in Kategorien denken und
schreiben und zu einer gewaltigen, gleichsam wortelosen Urform vorstoßen, die alles umfaßte, was Leben bedeutete. Ist das möglich? (Nein.) Ist das Material bereits das Werk?
Brinkmann ging es nicht um akademische Formfragen, ob nun Erzählung
oder Gedicht oder Essay oder Cut-up oder Montage oder Collage oder Brief
oder Foto die adäquate Ausdrucksmöglichkeit sei, Inhalte, Phänomene,
Stoffe usw. festzuhalten, nein, Brinkmann ging der Frage nach, was denn
Leben sei, was denn Literatur sei, was denn Sprache sei, was denn
Kommunikation sei – oder wie Leben und Literatur und Sprache und
Kommunikation noch und wieder möglich seien.
Und das nicht in
höflichen, Meinungen wie Pingpong austauschenden Seminarsitzungen, bei
denen man nachher auseinandergeht, als sei nichts gewesen, sondern in
aufs Ganze gehenden, energie- und schlafraubenden, schweißtreibenden,
hochkonzentrierten, rauschhaften, entgrenzenden Bewußtseinserweiterung
und Euphorie auslösenden Mammutsitzungen an Schreibmaschine und
Schreibtisch, sich selbst hemmungslos und total einbeziehend und sich
und die Umwelt nicht im geringsten schonend.
Hier lebte Rolf Dieter
Brinkmann in der Literatur, erfüllte Literatur im Leben. Gerade nach
1970 verwirklichte er dieses Leben mehr als je zuvor – materielle Armut
und Isolation zähneknirschend oder wutschnaubend in Kauf nehmend: Welch eine zynische Phrase, die hier den Kern der Dinge zu treffen scheint.
Nur so konnte Brinkmann sein:
Leben und Literatur waren für ihn ein und dasselbe. Er war kein
lügender Dichter, wie Zarathustra ihn beschreibt. Für ihn gab es nur das
Leben, das Leben bedeutet und nicht Formblatt oder Bürokratie oder
Gesetzgebung oder Verordnung oder: man. Leben heißt: ich.
Einmal und nie wieder. Leben ist: anarchisch, blau, chaotisch, dicht,
energiegeladen, futuristisch, groß, himmlisch, intensiv, jokular,
kapriziös, lebendig, musikalisch, nervenkitzelnd, omnipräsent,
praktisch, qualvoll, radikal, sinnlich, total, universal, verwegen,
wundervoll, zufällig.
Brinkmanns Leben, so wie ich es mir vorstelle,
war geprägt in erster Linie von Haß, der verkappten Sehnsucht nach
Liebe. In der Mehrzahl seiner Texte, in denen er Haß und Sehnsucht
gleichermaßen offenbart, stempelt sich Brinkmann gleichsam zum
Romantiker. [Welcher Verfasser literarischer Texte ist das nicht?] (By the way: Das deutsche Wort Charakter kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet => Stempel.)
Haarscharf nahm Brinkmann wahr, was um ihn herum geschah, und er kam zu keinem guten Ergebnis. Das sollte Leben
sein? Gewalt, Korruption, Oberflächlichkeit, Unwahrheit und Unrecht
waren die Auswüchse dieses faschistoiden, kapitalistischen westdeutschen
Demokratismus, in dem Konzern, Medien, Partei alles, die einzelnen
Menschen nach wie vor nichts waren. Wir erinnern uns alle, was gewisse
Politiker bereits kurz nach 1945 über Schriftsteller und Künstler, die
Sandkörner ins wirtschaftswundersame Getriebe schmissen, zu sagen wagten
und – Beifall dafür erhielten.
Welt und Leben in der Öffentlichkeit
waren für Brinkmann grundsätzlich schwer nur zu ertragen. Empfand er je
Glück? Ich glaube ja – an der Schreibmaschine. Ich möchte betonen, daß
Rolf Dieter Brinkmann mich ausschließlich als Schriftsteller, besser
noch: als Prototyp des Schriftstellers interessiert. [Wie Benn, Brambach
oder Bukowski; es gibt zahlreiche Namen, die ich hier nennen könnte –
mit dem einen Unterschied: Brinkmann ist derjenige, der mich am
stärksten beseelt, fesselt und begeistert.] Ich möchte keinen Blick in
sein Elternhaus werfen, sein Schlafzimmer ist mir schnuppe, ich möchte
nicht an sein Grab in Vechta gehen, von dem ich einmal nur 200 Meter
entfernt war. Am 11. September 2001 allerdings stand ich mit Jan Röhnert
vor dem Haus Nummer 65 in der Kölner Engelbertstraße, in dem er viele
Jahre zur Miete gewohnt hat. Ich will mich nicht in die
Privatangelegenheiten dieses Menschen mischen, eines Menschen, der ein
literarisches Werk hinterlassen hat, das mich immer beschäftigt.
Interessant hingegen ist beispielsweise der Blick in die zahlreichen
Gedichtbände, in denen wir einem Lyriker begegnen, der es versteht,
Wortdias zu entwerfen, in denen ich die Dinge, dir mir schon
tausendunddreimal begegnet sind, nun gleichsam ausgedehnt sehe. Auch
wenn Brinkmann selbst auf Distanz gegangen ist zu seinen früheren
Gedichten (welcher ernsthafte Schriftsteller täte das nicht immer
wieder), so finden sich hier doch Gedichte, die zu den stärksten
gehören, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre geschrieben wurden.
Ich bin fasziniert, wenn ich in den unheimlich langen Texten aus Briefe an Hartmut
Einblick in ein Gehirn erhalte, das sich dem gängigen Sprechen und
Denken widersetzt und dieser von ihm als grauenvoll empfundenen
deutschen Sprache dennoch Ausdrucksmöglichkeiten abringt, die er
halbwegs hinnehmen kann.
Ich finde es traurig, wenn Zeitungen zu
seinem zwanzigsten Todestag nichts Besseres zu tun haben, als
Mutmaßungen darüber anzustellen, ob Brinkmanns Verhältnis zu seinen
Eltern trübe war (wovon laut Brinkmanns eigenen Aussagen unbedingt
auszugehen ist), und Nachbarn zitieren, die dem Vater einen Persilschein
ausstellen. Es ist weiterhin unerheblich, ob irgend jemand irgendwann
einmal gesagt hat, Brinkmann sei das einzige literarische Genie, das
Westdeutschland hervorgebracht habe. 1995 war in mehr als zwanzig
Zeitungsartikeln, die Gunter Geduldig (der damalige Vorsitzende der Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft
mit Sitz in Brinkmanns Geburtsstadt Vechta) mir unverlangt in Kopie
zuschickte und nach deren Kenntnisnahme ich mich so schlecht fühlte, daß
ich mich nur durch die Verwurstung der Kopien zu Collagen (die Teil des
Bandes das letzte wort hat brinkmann wurden) zu helfen wußte, auch diese Schnurre nachzulesen, so, als habe der eine sie vom anderen abgeschrieben.
Brinkmann ist wahrhaftig ein lebender Toter:
Noch heute ist er anscheinend eine Bedrohung für das sogenannte
Establishment, das er als das entlarvt, was es ist: ein hirnloses
Machtkonglomerat namenloser kapitaldiktierter Würstchen, das sich
natürlich nicht die Mühe machen will, seine Bücher zu lesen, zu
verstehen, seine Gedichte zu lesen, zu begreifen. Überhaupt: Wen
interessieren schon Gedichte? Wen interessiert „experimentelle“ (also:
„unlesbare“) Literatur? Nicht wenige Leser (darunter auch Literaten)
empfinden die Lektüre von Brinkmanns herben Materialienbänden als
gleichsam lebensbedrohlich.
Neben mir liegt der Materialienband Schnitte:
In diesem radikalen Buchstaben- und Bilderbuch wird auf
einhundertachtundfünfzig großformatigen (engbeschriebenen, teilweise
zwei- oder dreispaltigen, absatzlos dahinjagenden) Seiten das
widerwärtige Leben in rücksichtslos brutalen Collagen bloßgestellt. Das
ist mühevolle Lesearbeit, zumal die Seiten keineswegs sauber gesetzt,
sondern faksimilierte Wiedergaben der ursprünglichen
Schreibmaschinenseiten sind, die mir mit durchgeixten Wörtern, dauernden
Korrekturen usw. das Leben schwermachen. Da geht es buchstäblich,
wortwörtlich drunter und drüber. Die Lektüre ist anstrengende,
kraftraubende Trauerarbeit, zumal der seitenlange, unaufhaltsame, von
einer Assoziation zur nächsten rasende Bewußtseinsstrom mich fortlaufend
weiterreißt, den nächsten Abgrund hinab, über das nächste Gedankenriff,
zum nächsten Vorort der Seelenhölle.
Ich stelle mich dieser
Lektüre, die mir das ungeheure Erkenntnisinteresse eines
bildungshungrigen Menschen vor Augen führt, der sich gewaltsam von
seiner familiären und gesellschaftlichen Herkunft zu lösen versucht, der
nichts als Verfasser von Texten sein will, total und ganz und gar: Rom, Blicke, Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, Schnitte und teilweise auch Der Film in Worten sind Bücher, die Schmerzen verursachen, aber es sind Bücher, die sich radikal den Dingen nähern, nach denen ich suche.
Ja, Brinkmann will es wissen.
Die Materialienbände entstanden ausnahmslos nach 1968. Mit Sicherheit
hatte sich Brinkmann mehr von den im Mai 1968 in Paris stattfindenden,
von über zehn Millionen Menschen unterstützten Aktionen erhofft, die
weit über das hinausgingen, was in Berlin in jener Zeit vor sich ging.
Am Ende standen die Träumer sozusagen mit leeren Händen da. Kämpfer und
Hoffnungsträger wie Rudi Dutschke (den Brinkmann kritisch sah – wen
nicht?), Che Guevara und Martin Luther King hatten sich, wie der Prager
Student, gleichsam in Rauch aufgelöst. In Deutschland war eine weitere
Revolution gescheitert – wie alle anderen zuvor, aber diesmal nicht nur
in Deutschland.
Das Establishment konnte sich in der Folge breiter
machen denn je, auch wegen des jahrelangen Bürgerkriegs, den eine Reihe
von Brinkmanns Zeitgenossen vergeblich und mit verwerflichen Mitteln
führten. Vergeblich? Ich will nicht pessimistisch sein. Es heißt ja auch
immer wieder, die Schriftsteller seien im Prinzip überflüssig in dieser
Welt, aber das glaube ich nicht. Jeder Mensch erfüllt seine Mission.
Oft unsichtbar, oft nicht erkennbar, sind auch die scheinbar
vergeblichen Kämpfe der Schriftsteller keineswegs vergeblich: Sie werden
weitestgehend immerhin ignoriert. So füllen sie ein gesellschaftliches
Vakuum, dessen geheime Auswirkungen noch nicht erforscht sind. Wenn das
nichts ist.
Rolf Dieter Brinkmann ist, wie bereits betont, kein
Dichter, der lügt. Auch darum hatte er zu Lebzeiten nie den großen
Erfolg. Wäre Brinkmann überhaupt bekannt geworden ohne die Unterstützung
von Dieter Wellershoff (der damals Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch
war), von dem er sich aber wieder abwandte? Müßig eigentlich, die
Frage, aber sie steht im Raum, seit ich sie mit Harald Gröhler, der
Brinkmann verschiedentlich begegnete, diskutierte. Immerhin: Der Roman Keiner weiß mehr
(1968) wurde reichlich verkauft, und ein Kritiker, der sich vor Büchern
fürchtete, die mit Maschinengewehren verglichen wurden, überschlug sich
beinahe mit seiner Lobrede. Hoppla. Ich will notabene nicht behaupten,
alle erfolgreichen Autoren müßten ein Leben führen wie beispielsweise
Bertolt Brecht (der trotz allem zahlreiche große Gedichte
hinterlassen hat). In diesem Text geht es mir ausschließlich um meine
Sicht von Brinkmann, wie ich ihn erlebe, wenn ich seine Bücher lese: Es sind immer nur Wörter, Formulierungen. Aber was ist denn da, tatsächlich? Das kann Sprache, Formulierung nicht sagen.
Brinkmann ging keine Kompromisse ein. Immer wieder machte er Schnitte,
wenn es ihm zu bunt wurde. So landete er schließlich bei Rowohlt (ohne selbst noch etwas davon zu haben), nachdem es mit dem Verlag Kiepenheuer & Witsch
nicht mehr ging. Harald Gröhler erzählte mir, wie er zufällig dem die
Treppe hinunterpolternden Brinkmann im Kölner Verlagshaus begegnet sei.
Die Zusammenarbeit mit Rowohlt war auch nicht gerade berauschend für Brinkmann. Erst dreißig Jahre später – im Jahre 2005 – erscheint Westwärts 1 & 2 in der kompromißlosen Fassung Rolf Dieter Brinkmanns.
Es wird ernsthaft behauptet, Zu- und Abneigung würden in
Sekundenbruchteilen bei der ersten Begegnung entschieden. Wenn dem so
ist, dann weiß ich, warum ich den Autor Brinkmann so gut finde. Ich habe
ihm natürlich nie in die Augen gesehen. Aber die Art, wie der englische
Poet Richard Burns (Begründer jenes ersten internationalen Cambridge Poetry Festival
im Jahre 1975, bei dem Brinkmann zum letzten Mal las), den ich während
eines Arbeitsbesuchs im Sommer 1986 in Cambridge traf, mir in die Augen
blickend sagte: You don’t know Rolf Dieter Brinkmann? Amazing. He’s a fine German poet. A very fine German poet, öffnete mir erstmals die Augen für Brinkmann.
Ich will hier keine übertriebene Vorstellung vermitteln, nein, es war
einfach so: In jenem Augenblick lief ein Schauer mir sanft den Rücken
herunter. Ich spürte, daß ich in jenen wenigen Sekunden an zwei
Dichterleben teilhatte: Es quoll in mir auf, wie etwas Unbestimmtes, Süßes, Liebes und Vergangenes.
(Hugo von Hofmannsthal) Vielleicht wurde in dem Augenblick erst
eigentlich der Schreiber in mir geboren. Was auf jeden Fall geboren
wurde: Ihr nennt es – Liebe?
Eine Liebe, die gewiß auch mit
meiner Vorliebe für die amerikanischen Beatniks und deren Nachfolgern
zu tun haben muß, die ein wenig von dem kernigen, halbwegs ehrlichen
Amerika retteten, das bereits in der Ära McCarthy zu großen Teilen zum
Teufel gejagt wurde. Denn Brinkmann war es ja, der die amerikanische
subkulturelle Literatur der 1960er Jahre nach Deutschland brachte und
mit der heute noch lebendigen, unübertroffenen Anthologie Acid populär machte.
Brinkmanns Gedichte sind ohne die Auseinandersetzung mit amerikanischem
Beat und Pop, ohne die Kenntnis der Lyrik jener tabubrechenden
amerikanischen Autoren nicht denkbar, Autoren, die auf einfache,
direkte, obszöne, sinnliche und radikale Art und Weise sowohl die
gängigen Formen und Themen als auch den üblichen Wortschatz sprengten.
Alles dringt nun ins Gedicht ein, vor nichts wird mehr haltgemacht. Das
war in Deutschland bis dahin – undenkbar.
In erster Linie waren es
die Gedichte von William Carlos Williams und Frank O’Hara, die Brinkmann
den Weg zu seinem Gedicht wiesen, das mich deshalb fasziniert, weil es
nicht beschönigt, gerade deshalb schön ist und in präzisen, zugleich
wilden freimetrischen Versen subjektiv Erlebtes in seine wahrhaftige und
abgründige Welt transformiert, auch mythisiert. Es findet kein Raunen
mehr statt, [Hier wird – vielleicht – der Einfluß der Lyrik des 1956
verstorbenen Gottfried Benn auf Brinkmanns Gedichte deutlich. Die
Mehrzahl der lebenden deutschen Dichterinnen und Dichter wird
grundsätzlich und gnadenlos abgewatscht.] und jeder Mensch, der sich den
Gehörgang hat offenhalten können, kann an diesen Wörtern, Klängen und
Gängen teilhaben:
GEDICHT
Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, daß so was Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
Bei diesen Gedanken möchte ich es im Prinzip belassen, darum abschließend nur noch einige marginale Notizen: Der größte Teil dieses Aufsatzes ist an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Januar 1999 entstanden (überarbeitet und erweitert am 9. bis 11. August 2002, am 3. bis 15. April 2005 sowie vom 27. bis 30. Januar und 10. bis 12. Oktober 2007). An jenen drei Tagen im Jahre 1999 las ich Hans Egon Holthusens Gedichtband Labyrinthische Jahre (Piper, München 1952) sowie Harry Mulischs Essayroman Die Zukunft von gestern (Bittermann, Berlin 1995). Der Zusammenhang, der sich zwischen den drei Texten in meinem Bewußtsein ergab, war verblüffend: Mulischs kreative Analyse des Nationalsozialismus und seine Kritik an der Nachkriegsrestauration präfaschistischer Vorkriegsverhältnisse, die er mit den 68ern teilte, sowie Holthusens apokalyptische, pessimistische Todesgedichte, aus denen ich im Anschluß neun Verse zitiere, vervollständigten mein Bild des dichtenden deutschen Menschen Rolf Dieter Brinkmann und seiner Zeit:
Wie das ertragen, diesen lautlosen Andrang der Ewigkeit,
Wie halten wir’s aus, mitten in der Stadt, unter tausend eiligen Leuten,
Nachmittags gegen halb fünf, die Abendzeitung in der Manteltasche,
Vor uns ein kleines Geschäft, das in der Benommenheit unsrer Gehirne
Wie eine grüne Verkehrsampel brennt unterm Nebel!
Wer bewahrt uns vor einer raschen Verwandlung der Szene ins Tödliche:
Maschinengewehre anstelle von Preßluftbohrern und Aufständische im Telegraphenamt,
Handgranaten in ein Fenster fallend, und wer nach sechs auf den Posten trifft,
Wird verflucht und an die Wand gestellt.
Am
7. April 1997 hielt ich mich nachmittags vor meiner Lesung in einem
düsteren Hotel in Vechta auf und fühlte mich fürchterlich deprimiert und
verlassen. Sicherlich beeinflußt durch die zahlreichen Aussagen
Brinkmanns sah ich Vechta vom ersten Augenblick an negativ, und
schließlich rettete mich in jenem kalten Hotelzimmer die Lektüre des
mehr als fünfzigseitigen Langgedichts „Eiswasser an der
Guadelupestraße“, das ich damals noch nicht kannte und das Gunter
Geduldig mir aus der RDB-Sammlung der Hochschule Vechta bis zum Abend zu
treuen Händen geliehen hatte. Ich erlebte die Simultantechnik eines
ständig das Totale einfangenden Dichters als so aufregendes
Leseerlebnis, das sich die aufziehende Depression in Wohlgefallen
auflöste.
Als Einstiegslektüre für den vorsichtigen Buchinvestor empfehle ich den Reclam-Band Künstliches Licht, der eine passable Auswahl aus Brinkmanns Werk bietet. Wer aufs Ganze gehen will, [Wer will das nicht?] der sollte sich neben Standphotos, Westwärts 1 & 2, den Erzählungen sowie dem Roman Keiner weiß mehr unbedingt die angesprochenen Collagebücher bzw. Materialienbände besorgen.
Das bislang vorliegende Werk erscheint bei Rowohlt.
Ich bin gespannt, wann auch die letzten verstreuten, bislang nur in
Zeitschriften bzw. Anthologien erschienenen Gedichte und sonstigen Texte
in einem Band zusammengefaßt vorliegen. Ich finde es bedauerlich, daß
weder das schöne Gedicht „Meine blauen Wildlederschuhe“ noch das
fulminante „Vanille“ beispielsweise in einem der zehn Gedichtbände zu
finden ist. Die eintausendfünfhundert numerierten Exemplare von Eiswasser an der Guadelupestraße (1985) sind – wie vieles andere – längst vergriffen.
Wer weiteres wissen will, dem empfehle ich die aufschlußreiche, 1997
von Gunter Geduldig und Claudia Wehebrink herausgegebene Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann,
eine kolossale Fundgrube, die in mehr als eintausendzweihundert
bibliographischen Anmerkungen (nahezu) alles von und (das meiste) über
Rolf Dieter Brinkmann zusammenfaßt. Schön wäre es, wenn das Buch in
einer erweiterten Neuausgabe erscheinen könnte. Viel, viel Neues ist
nach 2000 erschienen und nicht nur von mir bibliographisch
zusammengetragen worden.
Am Telefon erfuhr ich kurz nach Neujahr
1999 von Bert Brune, dem sympathischen Kölner Südstadtautor (der seit
einigen Jahren auf der anderen Rheinseite lebt), er habe gelesen, daß
neben Westwärts 1 & 2 auch Brinkmanns Briefband Briefe an Hartmut
erschienen sei. Während der Lektüre dieses Buches wird mir wieder und
noch einmal bewußt, über welche Schreibpower dieser Mensch verfügte.
Über zehn, zwanzig engbeschriebene Schreibmaschinenseiten gehen diese
tagebuchähnlichen Briefe in kurzen Abständen an den in Austin (Texas)
lebenden Hartmut Schnell, der eine Dissertation über einen Gedichtband
Brinkmanns vorbereitet und vom Autor leidenschaftliche Unterstützung
erhält. Diese Briefe sind Mammuttexte, in denen wir mitreißende geistige
Wortachterbahnfahrten erleben.
In Bert Brunes Roman So weit, daß du die Träume lebst
(Köln 1989) erlebe ich einen Menschen, der wie Brinkmann viel Zeit mit
Herumgehen und Beobachten und anschließendem Notieren verbringt. Während
der Lektüre stoße ich auf ein Rolf Dieter Brinkmann gewidmetes Kapitel,
aus dem ich diesen Abschnitt zitieren möchte:
Brinkmann, ein Fanatiker von Fakten, wie er sich selbst nannte und es von sich forderte, beschrieb jeden Bauzaun, den Ölfleck auf dem Asphalt vor seiner Haustür – und eben auch die Lokale, Kneipen, die Diskotheken, die er besuchte, sogar die Bordells in der Kleinen Brinkgasse, und notierte gewissenhaft den Preis für seine Orientzigarettenpackung, und man erfuhr, wieviel der Wein im Wiener Wald am Ring kostete… Brinkmann war allerdings – im Gegensatz zu mir – ein unermüdlicher Hasser seiner Stadt, wohl allgemein jeder Großstadt (…) dieser Dichter gab jedem seiner Leser einen Adrenalinstoß, man sah selbst nun unwillkürlich genauer hin, nahm seine Umgebung intensiver wahr, fühlte sich aufgefordert, selbst zu notieren, zu reflektieren, und alles, was um einen herum geschah, zu registrieren und zu beurteilen.
Ich also gleich am nächsten Morgen in die Bahnhofsbuchhandlung, und ich habe Glück: Das Buch ist da. (Von den zehn Westwärts-Exemplaren
sind nur noch drei da, sieh an.) Ich habe weiterhin Glück, denn es ist
eine andere Angestellte an der Kasse, und ich kann es wieder nicht
lassen, eine Bemerkung zu Brinkmann zu machen, und ich habe noch einmal
Glück, denn Frau Broekmann, mit der ich seit jener kurzen und
freundlichen Begegnung immer wieder ein literarisches Schwätzchen halte,
reagiert interessiert und meint erstaunt: „Ja, daß die den Brinkmann
wieder ausgraben!“
Von wegen „ausgraben“. Zurück im April 2005 denke
und behaupte ich: Brinkmann ist nie eingegraben worden. Ja, ja,
sterbliche Hülle und so, das mag sein. Und ich weiß, auf dem
Familiengrab in Vechta steht:
Rolf Dieter Brinkmann 1940–1975
Trotzdem.
***
aus: Theo Breuer: Kiesel & Kastanie, Edition YE, 2008

Weiterführend →
Ein Blick ins KUNO-Archiv: Lesen Sie auf KUNO eine Betrachtung der Jugendsünden des RDB. Aufzeichnungen eines Abgeschriebenen von Jamal Tuschik. Einen Besuch des RDB-Hauses, von Enno Stahl. Auch Sophie Reyer hat sich in der Domstadt auf die Spuren von RDB begeben. Einen Artikel über Das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums, Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt, von Roberto Di Bella. Und die Beantwortung der Frage: „Wer hat Angst vor RDB? durch Axel Kutsch. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.