Eine poetologische Perspektive auf die Novelle

Man sollte in die literarische Weite der Novelle gleichsam einzutauchen und sich lesend, schauend und staunend gleichsam auf dem Kamm der Welle treiben zu lassen.

Auf KUNO messen wir die Spannungsbreite der Gattungsgrenzen aus. Zwischen dem gattungsbildenden romanischen Muster von Giovanni Boccaccios Decameron und A.J. Weigonis Vignetten liegen sieben Jahrhunderte. Dazwischen liegen aber auch thematische Welten sowie diverse ästhetisch-konzeptionelle Veränderungen. Gemeinsam ist beiden Texten die Zuschreibung der Gattungsbezeichnung „Novelle“. Man sollte dem Goethe-Wort widersprechen, wonach es sich bei der „Novelle“ um eine „Rubrik“ handlet, „unter welcher gar vieles wunderliches Zeug kursiert“. Zugleich zeigt ein Blick in die Buchhandlungen und Bibliotheken, dass novellistisches Erzählen über Jahrhunderte hinweg einen festen Anteil am literarischen Markt für sich behaupten konnte, nicht zuletzt, da ein Diktum Friedrich Schlegels bis dato für die fluide, für gestalterische Innovationen offene Gattung gilt:

Die Kunst gut zu erzählen.

Die „Vignetten“ sind eine zyklische Erzählweise und eine geregelte Ganz- beziehungsweise Geschlossenheit der Erzählorganisation. Das novellistisches Erzählen geschieht hier zugleich mit und ohne Rahmenerzählung. Neben dem Verzicht auf wunderbare Elemente fällt vor allem die stoffliche Orientierung an der Lebenswelt im Rheinland und Ägypten auf, zudem die Konzentration auf die poetische Stilisierung mittels der Symbolik eine Spannung zwischen thematischer Alltäglichkeit und literarischer Inszenierung eröffnet wird, es ist – wie kann es anders bei Weigoni sein – experimentelles Erzählen, sebstverständlich vor dem Horizont von Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus. Spätenshier stellt sich die Frage:

Gibt es überhaupt eine echte Novellenform?

Die „Vignetten“ stellen Gattungsinnovationen dar, zugleich stellt sich die ungebrochene Attraktivität des novellistischen Erzählens im 21. Jahrhundert vor, da die Variationsbreite zu den konstituierenden Eigenschaften der Novelle zählt, die seit dem 14. Jahrhundert angelegt ist und sich seither differenziert hat. Novellen sind inzwischen mehr sind als Erzählungen mittlerer Länge sind, zeigen die Novellen Cyberspasz, a real virtuality, dort setzte setzt Weigoni die im Band Zombies begonnenen Erforschungen der Trivialmythen fort. Definierte dieser Romancier mit den Vignetten die Literaturgattung Novelle neu und analysierte zugleich den Somnambulismus der Welt, so oszillieren seine neuen Novellen zwischen dem mokanten Blick einer zuweilen herzlich boshaften Zeitgenossenschaft und der Ekstase einer ins Innere der Erscheinungen zielenden Sehnsucht, zwischen den Wonnen der Gewöhnlichkeit und ihrer argwöhnischen Begutachtung. Weigoni stellt existenzielle Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit. Cyberspasz spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht Weigoni in diesen Novellen die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.

 

 

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Vignetten, Novelle von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Weiterfühend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert ein fein gesponnenes Psychogramm. Aus Sicht von Margaretha Schnarhelt sind sie verdichtet, streng durchkomponiert und durchrhythmisiert. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Ein Hörprobe findet sich hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Weiterfühend → KUNO übernimmt Artikel von Kultura-extra, aus Neue Rheinische Zeitung und aus fixpoetry. Betty Davis sieht darin eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt hybride Prosa. Enrik Lauer deutet Schopenhauer im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.