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Martin Walser : Über Rechtfertigung, eine Versuchung

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Und fast zur gleichen Zeit, also am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, sagt Jakob, die Romanfigur Robert Walsers: „Wie glücklich bin ich, dass ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag! Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle hinauf, wo Macht und Glück gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den unteren Regionen atmen.“ Das ist die radikale Absage an die Lebensmöglichkeit. So weit war aber im Jahr 1794 auch schon Jean Paul in seinem „Hesperus“: „Dann spei ich aufs Ganze, wenn ich das Opfer bin, und verachte mich, wenn ich das Ganze bin.“

Entzug der Lebenserlaubnis

Sie sind alle gleich radikal, Jean Paul, Dostojewski, Kafka, Robert Walser. Radikal in der Selbstverneinung. Radikal im Erlebnis, dass es für sie keine Rechtfertigung mehr gibt. Radikal in der Absage an Geschichte überhaupt. Jede gesellschaftliche Veränderung zu ihren Gunsten wird verneint, man könnte sagen: absolut verneint. Was für ein Mangel muss erlebt worden sein, dass Jean Paul, Dostojewski, Kafka und Robert Walser zu solchen Selbstverneinungsorgien hingerissen werden? Den Figuren, in denen sie sich ausdrücken, ist auf dieser Welt, unter den herrschenden Umständen nicht zu helfen. Ja, ihnen ist sogar unter keinen Umständen zu helfen.

Nun hat ja immer noch die Arbeit getaugt zur Rechtfertigung dieser und jener Art von Leben. Thomas Mann denkt für Hans Castorp auch darüber nach, ob Arbeit für ihn eine Rechtfertigung erbringen könnte, und schließt diese Überlegung mit „der Vermutung“, „dass die Arbeit in seinem Leben einfach dem Genuss von Maria Mancini etwas im Wege war“. Dieses die Arbeit Verhindernde ist wahrscheinlich eine Zigarrenmarke. Und überhaupt: „Hans Castorp legt dann lieber Debussy-Platten auf: Hier gab es kein ,Rechtfertige dich‘!, keine Verantwortung . . .“

Auf Debussy-Platten ist Kafka nicht gekommen. „K. lebte doch in einem Rechtsstaat“, heißt es bei ihm, und er mobilisiert alles, alle Mittel, von denen er sich Rechtfertigung erhofft. Ihm ist doch an seinem dreißigsten Geburtstag vom Gericht aufgetragen worden, eine Eingabe zu machen, in der er alle wesentlichen Momente seines Lebens aufzählen und bewerten, also rechtfertigen sollte. Und je mehr er jetzt zu seiner Rechtfertigung tun will, desto ungerechtfertigter kommt er sich vor. Das führt zum Entzug der Lebenserlaubnis, das führt zu der von ihm selbst veranstalteten Selbst-Hinrichtung. Fazit: Wer nur gerechtfertigt leben kann, kann nicht leben.

Diese Schreibweise Kafkas lässt gelten, was gilt, als gelte es. So hat es Hegel formuliert, als er Wesen und Praxis der Ironie formulieren wollte. Ich habe hinzugefügt: Es ist das Ja zum Nein der Welt. So radikale Seinsweisen kommen in der Literatur kaum noch vor. Seit langem gilt Gesellschaftskritik. Und damit die Frage: Wer hat Recht. Verglichen mit der Frage nach der Rechtfertigung ist das ein bescheidener Anspruch.

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