Frauen in Marokko
Ein junges Mädchen, das wir vor den Mauern des Agadir-Gartens in Marrakesch nach dem Weg fragten, sagte, wir müssten unverzüglich umkehren, es sei zu gefährlich hier. Ich musterte die herumlungernden Burschen, die im Schatten unter Palmen saßen und griff meine Handtasche fester, Aber sie meinte die Mittagsonne. Wir gingen mit ihr zurück, sie wollte uns zum Platz führen, wo wir ein Taxi nehmen konnten, um der Hitze zu entkommen. Sie sprach Englisch und schnell war der Kontakt zwischen uns geschlossen. Im Gegensatz zu den jungen Männern, die sich uns als heimliche Führer durch die Altstadt anboten, ging sie neben uns, nicht ein paar Meter voraus. Zekia hatte gerade eine Prüfung als Biologiestudentin hinter sich und war auf dem Weg von der Universität nach Hause.
Ich habe sie mehrfach getroffen, jedes Mal trug sie eine Djellaba und das traditionelle Kopftuch, bewegte sich aber mit einer Selbstverständlichkeit durch die Gassen, die ja vor allem durch massive Männerpräsenz geprägt sind, dass ich neidisch wurde. Selbst wenn ich darauf achtete, Arme und Beine zu verhüllen und einen Sonnenhut auf dem Kopf zu tragen - als Ausländerin genoss ich nur Achtung, wenn ich so tat, als sei ich allein auf der Welt. Mit Zekia war ich Teilhaberin des städtischen Lebens.
Zekia und ich verabredeten uns, sie wollte mich in der Medina, der Altstadt besuchen, wo ich für einige Zeit wohnte. Zekia, ein junges Mädchen aus Marrakesch, Halbwaise, deren „Familienoberhaupt“, der ältere Bruder, in Deutschland lebt. Im letzten Jahr war sie verlobt, aber der junge Mann starb bei einem Unfall. Ich fragte sie nach ihren Zukunftsplänen: zu Ende studieren und reisen, natürlich gern nach Deutschland. Falls das nicht möglich sein sollte, sagte sie, sei sie froh, eine Frau zu sein, denn dann könne sie immer noch heiraten und Kinder kriegen. An Berufstätigkeit könne sie nicht denken. Bei hoher Akademikerarbeitslosigkeit rechne sie nicht damit, nach dem Studium etwas zu finden.
Das Schulsystem in Marokko bietet auch den Frauen eine gute Ausbildung, etwa ein Drittel der jungen Leute, die Schulen und Universitäten besuchen, sind Mädchen. Nur ist es schwer, damit etwas anderes zu machen als den Heiratswert in höhere Schichten zu steigern.
Der Kontakt zu den arabischen Frauen wird in der Regel über ihre Männer hergestellt. Der Drechsler Ahmed, an dessen Laden wir täglich vorbeikamen, war immer sehr hilfsbereit, wenn es galt irgendetwas für den provisorischen Haushalt zu besorgen, den wir in der Medina führten, ohne die Hilfe einer „Fatima“, einer einheimischen Haushälterin. Ahmed lädt uns zum Couscous-Essen in seine Wohnung ein. Auf dem Weg dahin ging auch er mehrere Meter vor uns, damit eventuell anwesende Polizei ihn nicht etwa verdächtigt, ein „illegaler Führer“ zu sein. Wie viel einfacher sind freundschaftliche Kontakte zu Frauen!
Ahmeds Familie lebt im ersten Stock, wir stapfen mitten durch die Wohnung der Familie unten. Gekocht wird auf der Balkonbrüstung in den Hof, hinter einem Vorhang. Seine hübsche, korpulente Frau kennt er von Kindheit an, sie begrüßt uns mit Wangenküssen und hat ihre Füße ebenso mit Hennamustern geschmückt wie die ihrer drei kleinen Töchter. Wir werden vor den Fernseher gesetzt, die kleinen Mädchen nähern sich uns schüchtern oder keck, je nach Alter. Während die Eltern sich hinter dem Vorhang zu schaffen machen, blicken wir mit den Mädchen in den Fernseher hoch auf der Kommode, dem einzigen Möbelstück außer ein paar Polstern auf der Erde. Dann essen erst die Kinder im Hof, danach wir Erwachsenen vor dem Fernsehapparat, auf geflochtenen Matten sitzend, dicke Polster im Rücken und greifen in die Schale mit dem im tagine gekochten Couscous. Es schmeckt genauso gut wie am Abend vorher im Spezialitätenrestaurant. Ahmed und wir essen mit Gabeln, Ahmeds Frau ißt mit der Hand, wirft gute Fleischstücke auf unsere Seite. Sie hat nie außerhalb des Hauses gearbeitet - und ihr Mann ist stolz auf sie. Während er das Französisch, Englisch und Deutsch der Händler spricht, lächelt sie nur und schweigt. Sie und die Kinder sind den ganzen Tag zu Hause. Spazierengehen kennt sie nicht, Spielplätze und Parks sind weit entfernt und allenfalls für einen Familienausflug am Wochenende geeignet.
Noch einmal sind wir privat zu Gast in einer marokkanischen Familie. Außerhalb von Marrakesch besuchen wir die Freundin einer in Marokko verheirateten Deutschen, eine Witwe und deren halbwüchsige Kinder. Ihre Älteste, bald neunzehn, wird demnächst heiraten, ihre Kochkünste werden ebenso herausgehoben wie die Handarbeiten, die sie gestickt hat. Draußen ist herrlichstes Wetter, aber der Tee wird drinnen vor dem Fernseher serviert. Es gibt einen indischen Spielfilm, und die triviale Handlung läßt sich fast erraten, so dass ich meine deutsche Bekannte frage, ob sie nicht von den anderen herausbekommen könne, ob meine Vermutungen über den Gang der Handlung im Erb- und Liebesdrama stimmen. Denn begleitet wird der Film von arabischen Untertiteln. „Das wird nicht gehen“, sagte die Deutsche zu mir, „sie können doch nicht lesen.“
Analphabetismus ist in Marokko vor allem ein Frauenproblem. Nach einer Angabe von Ghita El Khayat in ihrem Buch „Le Mahreb des femmes“ waren 1985 von den unter 15 Jahre alten im Schulalter stehenden Marokkanern 66,9 % Analphabeten. Genaue Zahlen zu bekommen ist schwer. Jedenfalls waren nach einer statistischen Quelle 1971 Frauen zu etwa 30 % mehr Analphabeten. Und 1990 gingen über die Hälfte der Kinder von 6 -11 Jahren in die Schule, noch 37 % der 12 - 17 Jährigen. Wenn man davon ausgeht, dass etwas dreimal soviel Jungen in die Schulen gehen, kann man nur ahnen, wie groß der Frauenanteil an Analphabeten im Land sein muss, auch wenn heute andere Zahlen nach den großen Bildungsanstrengungen der letzten Jahre wahrscheinlich sind.
Arbeitslosigkeit ist nur deshalb nicht messbar, weil es sowieso keine Unterstützung gibt. Gearbeitet wird allerdings genug und mehr von Frauen als von Männern, zum Beispiel an den Webstühlen des Landes, in den französischen Vierteln in Büros und Geschäften.
An der Missachtung der Berufstätigkeit von Frauen aber hat weder dieses viel verändert, noch die Tatsache, dass etwa ein Drittel der Ärzte, Rechtsanwälte und Universitätsdozenten Frauen sind.
An einer Person wie Fatima Mernissi, der bekannten Schriftstellerin und Soziologin, die in Rabat an der Universität lehrt, wird deutlich, was sich doch in den letzten fünfzig Jahren für Veränderungen gezeigt haben. Sie ist noch in einem Harem aufgewachsen, wo ein Türhüter darüber wachte, dass die Frauen nicht unerlaubt das Haus verließen. Ihre Großmütter haben sich ihren Mann noch mit anderen Frauen teilen müssen. Aber obwohl inzwischen die Einehe eingeführt wurde, gibt es kein Verbot der Polygamie. Man wollte uns in Marrakesch immer wieder Häuser zum Verkauf anbieten, in denen noch „die Frau meines Vaters“ wohnte, wie uns die junge Frau erzählte, die uns die Räumlichkeiten zeigte. Sie trug Radlerhosen und ein enges T-Shirt, aber die Djellaba lag bereit zum Ausgehen. Die alte Frau, die sie so vorstellte, lebte im unteren Salon, den sie wie ein Berberzelt ausstaffiert hatte. Dass es immerhin ein ungeschriebenes Gesetz gibt, nach dem eine alte Witwe lebenslanges Wohnrecht hat, macht die komplizierten Erbfolgen nicht einfacher.
Fatima Mernissi ist inzwischen auf der Seite der „Mächtigen“: sie hat Einfluss, reist um die ganze Welt, schreibt und lehrt und ist Beraterin bei der UNESCO zur Situation muslimischer Frauen. Von einer früheren Sklavin, die im Harem ihrer Kindheit lebte, hat sie erfahren, was die Mächtigen von den Machtlosen unterscheidet: Wenn man hinauskommt. Der Wunsch herauszukommen aus engen Grenzen, die Welt zu sehen, ist den meisten Marokkanern verweht. Ein Visum kostet Geld und man muss einen Arbeitsplatz vorweisen, an den man zurückkehrt.
Auch wenn der Anteil der weiblichen Schüler und Studentinnen kontinuierlich steigt, ebenso das Heiratsalter (von 1971 bis 1982 erhöhte es sich um drei Jahre von 19 auf 22, vor allem in den Städten), so bleibt den meisten als Lebensperspektive der Weg einer Hausfrau und Mutter mit durchschnittlich etwa 4 bis 5 Kindern, die ihre Wünsche nach Beruf, Selbständigkeit und Reisen beiseite stellen muss. Auch Zekia wird eher Hochzeit feiern, als in Deutschland vor meiner Tür stehen.
Einmal habe ich auf dem Djema el Fnaa, dem „Platz der Gehenkten“ in Marrakesch eine Frau gesehen, um die sich ein beeindruckender Männerkreis gebildet hatte. Sie betrieb ihr Geschäft nicht in Form eines intimen Gesprächs wie die Wahrsagerinnen und Bettlerinnen, sondern hatte sich ein kleines Mikrophon umgebunden, Mit gespreizten Beinen saß sie auf einem Hocker, sprach mit weit ausladenden Gesten wie eine Herrscherin auf dem Thron, die ihren Untertanen, die ehrfurchtsvoll die Köpfe neigten, strategische Pläne erläutert. Die geheimnisvollen Utensilien vor ihr konnten nur für die männliche Potenz von Bedeutung sein. Hier war sie die Wissende. Hingebungsvoll, mit gläubigem Blick, lauschten ihr die Männer.
Erstveröffentlicht:
der überblick 4, 1996 und Feature Marokko, NDR 4, 9.11.1996).
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