Essay

Avantgarde Ukraine

Hamburg

Die Avantgarde war stets der Peripherie verbunden. Zumindest insofern ist sie das in geradezu genuiner Weise, als ein Werden nicht mehrheitlich sein kann, wie Deleuze und Guattari in ihrem Kafka-Essay vermerkten. Es ist dieser Umstand, der die Ukraine heute zu einem avantgardistischen Status verdammt –  schon die traditionelle etymologische Deutung des Landesnamens verweist in diese Richtung, der Name der Ukraine rührt vom altostslawischen Wort ukraina her,„Grenzgebiet, Militärgrenze”. Exponiert ist ihre Lage, die einer Avantgarde, etwa als Heimat einer Mehrsprachigkeit, einer besseren Multikulturalität, war sie auch oft schlimm genug; doch zu dem Status eines Vorreiters verdammt zu sein, das bleibt riskant. Denn eine optimistisch gestimmte Teleologie ist nicht Implikat der Avantgarde, auch wenn der Bruch mit Bestehendem immer diese Hoffnung speist.

Heute sehen wir das: Die Ukraine, die nach Rußland über das zweitgrößte Staatsgebiet in Europa verfügt, brennt, und nicht allein, weil es Putin so will. Viele in der Ostukraine wollen es, oder: wollen etwas, das zum Brand führte. Was macht das Faszinosum Putins und seines autoritären Rußlands für sie aus, die offenbar tatsächlich ihm zugehören wollen? Daran, daß es diesen Willen gibt, kann man kaum zweifeln. Nicht der Wahlen wegen, die mit gläsernen Urnen von Transparenz der Demokratie einen ganz neuen Eindruck gaben... Schon lange war die Ostukraine daran, von der Ukraine abzufallen, die orange Revolution fand hier weniger Echo, man war längst Rußland durchaus zugetan. Putin als starker Mann war dabei kein Gegenargument, ganz im Gegenteil, darin immerhin sind sich manche, die gegen Rußland votieren, freilich aus dumpfem Nationalismus (ein jüdischer Übersetzer, mit dem ich in Kiew sprach, begann schon vor Jahren, wieder sehr behutsam mit der Information umzugehen, ein Jude zu sein, also: dem Volkskörper in den Augen mancher fremd), mit dem meisten der prorussischen Ukrainer einig...

Uns scheint es selbstverständlich zu sein, daß man als Ukrainer Rußland den Rücken kehren müßte. Uns scheint selbstverständlich, daß man Demokrat sein muß. Wäre es so selbstverständlich, wäre die Lage anders. Sie wäre auch in anderen Staaten der EU, um einmal dorthin zu sehen, wo die Ukraine als „demokratisch” und „europäisch” zumindest in Lippenbekenntnissen vereinnahmt wird. Doch rechtspopulistische Parteien haben Zuwachs, der Ruf nach Führerqualitäten ist vernehmlich – man nennt es bloß anders, aber es sind diese starken Männer, charismatisch, die manche herbeisehnen: solche, die alles managen. So hat beispielsweise Strache in Österreich im Moment die stimmenstärkste Fraktion, jedenfalls, wenn man Umfragen traut, die die FPÖ aber zudem notorisch unterschätzen.

Wir setzen also in der Ukraine voraus, was bei uns – was man so nicht sagen kann, weil dies die Ukraine jeder Solidarität beraubt – erodiert. In der Ukraine fehlte Aufklärung, so ließe es sich sagen, sie fehlt auch bei uns längst, Bildungsmangel und Aufklärungsdefizite sind global. Sieht man genau hin, ist auf der einen Seite der Ukraine Putin, auf der anderen aber die EU, regiert von der „Alternativlosigkeit” Merkels; auf der einen der russische Bürger, der nicht wählen darf, auf der anderen der EU-Bürger, der immer weniger wählen will und der lästigen Pflicht nachlässig nachgeht: uninformiert, wenn überhaupt. Beide Bürger ähneln einander, von Totalitarismus oder Beliebigkeit gegängelt, brave Untertanen der feudalen Herrscher etwelcher Provenienz, Bertelsmann-Vorstände oder Oligarchen, von denen jene des Westens nur darüber erschrecken, daß die Untertänigkeit des postmodernen Bürger-Überbleibsels jedem gelten könnte, konzeptlosen Brandstiftern mit rechtsextremen oder pseudoreligiösen Heilsbotschaften (das eine schließt das andere nicht aus), die von innen wirken, oder eben Putin. Resistenz des beschworenen Demokratiebewußtseins wider Putin verlangte, es sich nicht so leicht zu machen, Bildung nicht durch Ausbildung und Diskurs nicht durch vorgeblichen Sachzwang zu ersetzen – jene, die Putin als Zaren karikieren, müßten unter dem leiden, worunter Putin nicht leidet: vitalem Widerspruch des Volks, das man leicht überschätzt, ohne das aber Demokratie nur mehr Schlagwort ist.

Man muß sie wiederentdecken, nicht als Selbstverständlichkeit dann gebrauchen, wenn andere sie anders mit Füßen treten. Man muß sie pflegen, Demokratie ist nicht selbstverständlich – und nichts Unbedingtes; sie dafür zu halten ist der erste Schritt ihrer Abschaffung. Sie ist fragil, sie verlangt Engagement; ansonsten ist die Regierungsform, die der Menschenwürde am ehesten entsprechen mag, rasch von dem betroffen, was über jene Würde Karl Kraus formulierte: „»Würde« ist die konditionale Form von dem, was einer ist.” (Die Fackel, Nr. 251-252, 28.04.1908, S.33) Man sollte wissen, daß die Peripherie Avantgarde sein kann, und eine ungute, sei es das bannum leucae, das als Banlieue bekannter ist, oder eben der Satellit Ukraine, der nun zwischen Heteronomien zerrissen wird.

Diese Peripherie ist die Zukunft Europas; noch kann man wenigstens diese gestalten.

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