Da mein Herz immer höher schlägt
Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen · Landschaft mit Verstoßung. Virtuospoetische Buchklangkunst zu Friederike Mayröckers 90. Geburtstag am 20. Dezember 2014
Ich sehe alles in Bildern, meine ganze Vergangenheit,
Erinnerungen sind Bilder. Ich mache die Bilder zu Sprache, indem ich ganz hineinsteige in das Bild. Ich steige solange hinein, bis es Sprache wird.
Friederike Mayröcker
»Da mein Herz immer höher schlägt, wenn ich den Namen Mayröcker höre, zeigte ich mich begeistert und fragte nicht weiter«, schreibt ORF-Hörfunkredakteur Peter Klein in der kleinen Vorrede zu Bodo Hells und Friederike Mayröckers vielstimmigem Klangbuch Landschaft mit Verstoßung, das ich mir am 10. Dezember 2014 ›zu Gemüte führ‹. (Wie sehr ich das dreifaltige Hörstück im Geblüte spür, viel mehr noch wies in den Ohren saust, das erleb ich, weit nach Mitternacht, zur sogenannten nachtschlafenden Zeit, alle Wortträume verließen mich sobald ich die Augen aufgeschlagen hatte, als ich in die machtprachtvolle Bildklangwelt von Terrence Malicks – ebenfalls mit Verlust, Verstoßung befaßtem – Film »The Tree of Life« hineingesogen werd und sich fortwährend fiepend klagende Rehgeißen, Waldohreulen, Weidenmeisen wie selbstverständlich Gehör verschaffen.) Ich sitz, mucksmäuschenstill, in der Dämmrung des einbrechenden Abends, ja, das sind wahrhaft kurze Tage in diesen stürmischen Zeiten unmittelbar vor der Wintersonnenwend, und fühl, ganz stark, indem ich der pointiert klingenden Stimme Bodo Hells, der bedachtsam, behutsam tastend schwingenden Stimme, fliederfarbenes Schweifen in hypnotischen Redebildern, Friederike Mayröckers lausch, das Herz in der Brust (wo sonst?!) hoch und »höher« schlagen. Das signierte Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen mit ›Tageszeichnungen‹ von Linde Waber und Texten von Friederike Mayröcker ist am selben Tag eingetroffen, und so wird dieser Tag, habe gerade die Sprache erfunden rasende Sprache, spätestens mit dem Eintreffen der Post um 10 Uhr 20, zum ersehnten langen Freudentag, so fange ich erst jetzt zu leben an zu lieben, zum vorgezognen Mayröckerschen Geburtstagsfest am 20. Dezember – oder, um mit Wörtern aus einem Gedicht von Axel Kutsch zu sprechen, dessen Herz auch spätestens dann höher schlägt, wenn er Mayröcker-Gedichte zu lesen beginnt, zu einer, Glück wars, vielstündigen »Feier des Wortes«.
Zwei Tage danach bin ich zu einer etwas andren Geburtstagsfete eingeladen, zu der ansonsten ausschließlich Menschen eingeladen sind, die halb so alt sind wie ich. Was wohl, aber schon manchmal hat mich die Landschaft verstoßen, hab ich hier zu suchen? Am reichhaltigen Büfett lern ich drei frischgebackne Deutschlehrerinnen kennen (»When shall we three meet again – in thunder, lightning or in rain?«), die an verschiednen großstädtischen Gymnasien unterrichten. Wir frotzeln, wir knabbern, wir schwatzen, und irgendwann geht es um Lieblingsdichter (die Kunst, unbeirrt auf ein bestimmtes Thema zuzusteuern – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste –, hat mir der Vater beigebracht, der immer, immer, immer aufs Thema ›Amerika‹ zu schwenken in der Lage war, stets fand er irgendein, ach Gott, ja: bloß scheinbar belangloses Stichwort, egal, wie überlegt ich formulierte, um weit, weit weg von Amerika zu bleiben, an das er, irgendwie, anzuknüpfen verstand, und schon befanden wir uns inmitten des Jahres 1944 im Bundesstaat Milwaukee …), und als ich den Namen Friederike Mayröcker nenn, ich beschrieb in meinem Kopf pausenlos was ich geträumt hatte, schaun die sympathischen Damen mich mit mehr oder weniger großen Augen an, freimütig, leicht beschämt einräumend, dem Namen noch nirgends begegnet zu sein, was der Stimmung allerdings keinerlei Abbruch tut – im Gegenteil: Derartig offne Eingeständnisse spornen mich doch bloß zusätzlich an, und mir wird »sternklar«, von einer Sekund auf die andre: Ja, hier bin ich richtig, ja, hier bin ich gern. Na bravo, denk ich, ein Hoch der reformierten gymnasialen Oberstufe, ein Hoch den germanistischen Fakultäten, um danach, ungefragt und verzückt, mir ist, als säß ich daheim mit dem Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen in der Hand, von Lyrik und Prosa Mayröckers zu schwärmen – denn solche gleichsam auf dem Silbertablett servierten Gelegenheiten laß ich mir nie entgehen, niemals, da bin ich ganz der Vater (der Friederike Mayröcker ebenfalls nicht gekannt hat …):
Allein die Ankündigung neuer Bücher von Friederike Mayröcker löst multiplen Endorphinschub aus, zuletzt gleich zweimal an einem Tag erlebt beim mit Bodo Hell auf der Basis des gleichnamigen magischen Blatts verfertigten Klangbuch Landschaft mit Verstoßung (ich hör, mit dem Buch im Schoße mit dem Buch in der Hand den, bei aller naturgemäßen Verschiedenheit der Temperamente, bedacht, klar, ruhig artikulierenden Stimmen von Friederike Mayröcker und Bodo Hell zu, hier lenkt nichts von den Wörtern ab, hier geht es um nichts als Wörter – und Laute: Birkhahnkollern, Hummelbrummen, Kreuzotterzischen, Rauffußkauz- und Ringdrosselwarnruf, Ziegenglocken usw.) sowie dem wunderüberwundertollen Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen, in dem die von Werk und Persönlichkeit Friederike Mayröckers vollkommen besessene Künstlerin Linde Waber (»Jedesmal, wenn ich mit Friederike Mayröcker zusammentreffe, ist mir, als würden Sonne und Mond gleichzeitig aufgehen«) Briefe, Entwürfe, Fetzchen, Manuskriptblätter, Notizzettel, Wortschnipsel, Zeitungsartikel, in ›Tageszeichnungen‹ seit über 30 Jahren auf eine Weise verarbeitet, verwendet, verwertet, daß Wort, Farbe, Form in einer Bildgestalt, vielgestaltige Traumlandschaft, verschmelzen. Matthias Fallenstein, der diesen Wortbilddialog gemeinsam mit Christel Fallenstein wahrhaft ›vorbildlich‹ ediert hat, notiert im Nachwort:
Gleichzeitig bringt die Künstlerin aus Japan den Brauch mit, die Zeichnung durch Schrift zu bereichern und somit zu poetisieren, eine Gestaltungsmöglichkeit, an der sie festhalten wird. Das ist folgenreich in ihrer Begegnung mit der Poesie und der Person Friederike Mayröckers. Sie hat seither Mayröckers Texte immer wieder in ihre graphischen Blätter, auch die Tageszeichnungen, einbezogen und zu einem wesentlichen Element ihrer eigenen Kunst gemacht. Linde Waber ist als Künstlerin kundig in beiden Universen: dem des Tages und dem der Nacht. Wenn sie in der Erscheinung Friederike Mayröckers die Sonne und den Mond gleichzeitig erblickt, erkennt sie in der Mayröckerschen Poesie sich selbst wieder, ihre eigenen Tränen, ihre eigene Lust.
In Anlehnung an ›Paralleltexte zur bildenden Kunst‹, wie Friederike Mayröcker die von ihr verfaßten Gemäldegedichte nennt, die nach 2000 weiterhin eine bedeutende Rolle im Mayröckerschen Lyrikœuvre spielen, betracht ich Linde Wabers Tageszeichnungen als ›Parallelbilder zur Literatur‹. Gerhard Jaschke spricht vom Wechselspiel zweier Medien und Persönlichkeiten, Friederike Mayröcker vom Hinuntersteigen in den Brunnenschacht des Bildes, vom Liebesverhältnis zum Bild, von Bausteinen einer Augenintimität, kulminierend in der Aussage: Um ergreifen zu können, muß man selber ergriffen sein. Für die Kunst der Tageszeichnung bei Linde Waber, die – wie Friederike Mayröcker das Gemälde ins Wort – das Wort ins Gemälde holt, sprech ich analog vom ›Hinuntersteigen in den Brunnenschacht des Textes‹ beim Collagieren, Malen, Zeichnen, ›vom Liebesverhältnis zum Wort‹, ›von Bausteinen einer Sinnesintimität‹, wobei für Linde Waber und jeden künstlerisch tätigen Menschen in gleicher Weise gilt, was Friederike Mayröcker zum rezeptionsästhetischen ›Grundsatz‹ des bildenden und schreibenden Künstlers erhebt, der sich die Fuszspuren der Poesie des ›anderen‹ anverwandelt: Um ergreifen zu können, muß man selber ergriffen sein.
Augenbetrüger Stilleben, ozeanische Lust,
zu Arbeiten von Linde Wabergewisse Schönheitszipfel : die greisen Boote : Plastikkörbchen in rosa, blau und gelb, die Bischofsmütze zwischen Rumpfpapieren, vom Plafond und von den Seitenwänden knallen riesige langgestreckte lichtgraue Wiesel Ratten Hamster Hermeline auf massiertes (massakriertes) Fetzen-, Lumpen Areal, während im Vorgrund blaue Fähnchen, hochgeputschtes rotes Strumpfbein den Augenblick freigeben auf das Dach des visionären vis-à-vis- Gebäudes, zinnengeschmückt in weisz – und dunkler Himmelsfarbe
24.2.03
Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen. Formidables Wörterbilderbuch. Augentaumel. Überquellende Bildwortkaskade. Jetzt sehe ich alles neu. Ein Gedicht von einem Buch. Ich sehe die Welt neu. Ein Buch wie gemalt. Als finge ich jetzt erst zu leben an. Bildundwortkunstwerk, Glanz der Erde Blättchen Pappelherzen, in dessen Farben und Formen, Wörtern und Wellen ich mit sternenweltweit aufgerißnen Augen tauche, lesend, schauend, »zum Augenblicke sagend: / Verweile doch! Du bist so schön!« : Ich habe ein Buch gelesen, sage ich, aber ich habe nichts davon behalten, ich habe in einem Buch gelesen, aber ich habe nichts behalten können, weil ich ununterbrochen auf etwas achthaben wollte, nämlich lauschen wollte, auf ungewöhnliche, schöne, aufreizende Stellen innerhalb des Textes, auf Wendungen, einzelne Wörter, die Zündkraft besitzen, die mich entzünden, etwas in mir entzücken. Ja, welch ein Glück, staunend lesend, auf der Jagd nach jenen funkelnden Einzelteilen, … nach jenen leuchtenden Splittern, die einem den Atem rauben, zu erleben, wie Friederike Mayröcker nach 2000 ein weitres Mal, be:geistert, flammend, entflammt, wörtertoll, durchstartet und schreibt und schreibt und schreibt: Nach dem brillanten Prosabuch brütt oder Die seufzenden Gärten von 1998 erscheinen allein in den Jahren 2001 bis 2014 (diverse Sammelbände nicht mitgezählt) an die zwanzig Bücher, verfaßt in einem immerwährend sprudelnden Schreibrausch, Bild, Vorstellung mit allen Sinnen durchdringend : Augententakel, Ohrentrunkenheit, Griffel /// zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen / zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund / die Gestirne das Gras die Blume den Himmel … Bei der schreibbesessenen Friederike Mayröcker findet, ab dem frühen Morgenblauen, allgegenwärtiges, beständiges, chronisches, dauerndes, eingewurzeltes, faszinierendes, immerwährendes, melancholisch grundiertes, immer wieder auch (selbst-ironisch) parodisierendes, überlebensnotwendiges Nonstopschreiben »voller grotesker Einfälle und ironischer Fallen« (M.F.) statt, eine Kochkunst dies Niederschreiben von Gedichten, Tag und Nacht – und, wahrscheinlich, weit darüber hinaus, ich bin verheiratet mit meiner Hermes Baby – ich knie mich so hinein wie der Glenn Gould in sein Klavier. Und, Glück des Süchtigen, der Blick in die Zukunft verheißt weiterhin Gutes: Der dritte Band der ›französischen‹ Trilogie, fleurs, wird, nach études 2013 und cahier 2014, wohl im Herbst 2015 erscheinen, er ist jedenfalls in Arbeit, und dieses mein Schreiben hat mich zu allen Zeiten beseligt, aber auch aufgerieben verwüstet. – – – Und so blättre ich weiter in diesem einzigartig schönen Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen mit den (von Bodo Hell so benannten) »vegetativen« Tageszeichnungen von Linde Waber und den in punktueller Sprache verfaßten Texten von Friederike Mayröcker aus den Jahren 1983 bis 2014, schwelg weiter in Farben, Formen, Versen, bin, ein ums andere Mal, begeistert, fortwährend, still ergriffen –
Was brauchst du
Was brauchst du? Einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
Ich hab das Gefühl, daß die drei jungen Fraun gern zuhören – obwohl, man weiß ja nie (spätestens am nächsten Morgen setzen die Bedenken ein, ob ich nicht doch …). Jedenfalls sitzen wir, nachdem wir zu Ende gegessen haben, länger als eine Stund, insulanergleich, beisammen, umbraust von fröhlicher Partymusik und ausgelassen tanzenden Menschen, ach ich klebe an diesem / Leben, an diesem Lebendgedicht. Ob sie sich zwischenzeitlich ein Buch von Friederike Mayröcker zur Brust genommen haben, glaub ich kaum, ist eh erst drei Tag her. Vor wenigen Tagen erhalt ich den Brief einer im vergangnen Jahr pensionierten Deutschlehrerin, die Friederike Mayröckers Werk kennt und liebt und die sich lebenslang enorm für die zeitgenössische Literatur eingesetzt hat und von der ich diesen nun doch leicht erschüchternden Bericht les:
Begegnungen mit ›lebenden‹ Autoren sind leider recht schwierig geworden, aus vielerlei Gründen.
Zum einen ist es nicht einfach, die Kinder in die klassische Lesung zu bekommen. Wir hatten Glück mit den eingeladenen Autoren, sie haben die Schüler jeweils erreicht. Aber es hat nur deshalb funktioniert, weil die Deutschlehrer in vielen Klassen Projekte zum jeweiligen Autor durchgeführt haben. Das andere ›Hindernis‹ ist die veränderte Erwartung der Eltern. So bekam ich letztes Jahr massiven Gegenwind von einigen Eltern, als ich für eine 5. Klasse einen jungen Krimiautor, der auch noch beim Fernsehen arbeitet und sehr motivierend erzählen konnte, einladen wollte: 2 € sollten die Kinder dafür bezahlen, daß ich zu faul bin, selber den Kindern vorzulesen! Diese doppelte Arbeit, daß die Eltern oft keinerlei Bildungsanspruch mehr haben, die Eltern und die Kinder also erst mühsam überzeugt werden müssen, schreckt viele Kollegen ab, die ja sowieso schon im Alltagsgeschäft kaum überleben. Das dritte Hindernis sind die Kosten. So mancher Schulleiter meint, Schriftsteller sollten doch froh sein, wenn man ihnen kostenlos die Möglichkeit einräumt, Reklame für ihre Bücher zu machen! Ich hoffe natürlich trotzdem, daß die jungen Kollegen die Arbeit in diesem Bereich fortsetzen, vor allem weil ich ihnen ja im Frühjahr mit der letzten von mir organisierten Literaturveranstaltung zeigen konnte, daß es auch heute noch möglich ist, erfolgreiche größere Lesungen durchzuführen, wenn alle sie unterstützen. Aber es ist leider auch so, daß manche Kollegen sich nicht trauen, Schriftsteller einzuladen, oder nicht wissen, wie sie dies tun könnten, oder – noch schlimmer – gar keine zeitgenössischen Schriftsteller kennen, weil sie nach ihrem Studium offenbar keine Zeit mehr hatten, zu lesen und auf dem Laufenden zu bleiben. Aber es wird immer schwerer für die Lehrer im Beruf eigene Akzente zu setzen und bei Kräften zu bleiben; um nur einen Aspekt zu nennen: Der Ganztag hat eine dramatische Verschlechterung gebracht, die stillschweigend auf dem Rücken der Lehrer ausgetragen wird (viele Aufsichtsstunden, natürlich unbezahlt, viele Springstunden, natürlich ohne Ruhe und eigenen Arbeitsplatz in der Schule etc). Die Gesellschaft muß die Lehrer und Schulen stärken und wo immer möglich unterstützen, ansonsten sind die Lehrer nach wenigen Jahren erschöpft und versuchen nur noch irgendwie den Alltag zu bewältigen, und das ist für die Schüler und unsere Gesellschaft sehr schade. Mancher junge Deutschlehrer stürzt sich zunächst hochmotiviert in alle möglichen Projekte und wird von System und Schulleitung gnadenlos ausgebeutet. Er muß möglichst schnell lernen, Schwerpunkte zu setzen und deutlich nein zu sagen.
Und auf der andren Seit unbedingt und deutlich ja zu sagen zum Lesen, insbesondre auch zum Lesen zeitgenössischer Literatur, beispielsweise Lyrik, Prosa von Friederike Mayröcker, deren erste Verse, erste Zeilen stets schon derart verfangen, daß ich der Poesie dieser alchemistischen Magierin, ach wie kalt der Morgentäuf- / ling ach wie kalt der Morgen- / hauch, wie geflossen die Strö- / me, geflossen ach gestrandet, hilflos ausgeliefert bin – ganz so, wie es Matthias Fallenstein im Nachwort zu Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen umschreibt:
Die Kunst des ersten Satzes besteht nämlich für Mayröcker darin, daß der Leser sich in diesem Satz verfängt, hineingerissen wird in einen Strudel, einem kräftezehrenden Sog erliegt: du kannst hier nicht mehr heraus. Der erste Satz, der erste Vers ist immer ein Angriff, eine Gefangennahme, der Leser sieht sich in ein Chaos versetzt, und er erkennt keinerlei Richtung. Natürlich weiß Mayröcker, daß dem ersten Satz oder Vers ein ebensolcher zweiter folgen muß usw. Und weil der zweite dem ersten nicht nachstehen darf, müßte er ihm ebenso gut voranstehen können: so verweigert sich schon das Verhältnis des ersten zum zweiten der traditionellen Logik, zugunsten einer poetischen Logik, in der die Dinge nebeneinander stehen und nicht aufeinander folgen, in der es also streng genommen kein Erstes und Zweites gibt, sondern ein jedes ebensogut Erstes wie Zweites usw. hätte sein können: Sei allem Anfang voran! Am Ende kennt niemand sich aus.
Schließlich müssen die drei Damen (ach wie gern hätte ich sie seinerzeit als Deutschlehrerin gehabt, eine ist schöner als die andere, und ihre Wangen glühn) auch noch die folgenden ohne Rücksicht auf Orthographie und Zeichensetzung aus mir herausprasselnden Wörter, um die es hier halt bloß geht, über sich ergehn lassen, und während ich überleg, wie der erste Satz lauten könnt (am End bleibts bei dem einen …), denk ich an Mayröckers Wörter in Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen : Wien ist eine Schreibstadt. Hier kann man verrückt werden. Hier kann man verrückt sein. Wien ist für viele Dichter zur Schreibstadt geworden, viele verrückte Dichter kommen aus Wien. Verrücktheit, verrückte Sicht ist eine der Voraussetzungen fürs Schreiben … und denk: Ja, klar, ja, klar, aber vielleicht doch nicht in Wien bloß:
blue windows blue rooftops / and the blue light of rain … lesen … lesen heißt doppelt leben : indem ich das buch aufschlag es war kein traum : über dem atlantik befand sich ein barometrisches minimum wozu noch reisen wenn gestern heute morgen an jenem tag im blauen mond september mit jedem guckfrischen buch neu zu entdeckende formen ∙ menschen ∙ welten ∙ phänomene ∙ sprachen ∙ stile ∙ burning noble words von antik barock bis zeitgenössisch wunder weisen ins haus blattern madonna! die seele zischt mir aus dem leib ich das leinen in den händen liegend spür memory and desire stirring ∙ (wer einmal aus dem sprechnapf liest …) die ersten wörter erfaß ein / satz / und / ich / bin / bei / dir metabolische endlosachterbahnspirale sich mit schwäntänzelnden wörtern vor augen in allen lüften hallt es wie geschrei fortsetzt dämmungsloser buchstabenbausch und schreibe auf 1 fieberkurve mit rätselhaften rhythmisierten oft so herrlich seltsam eigen und widerborstig aufbrandenden wörterwellen ob rosen ob schnee ob meere die in labyrinthischen großstammhirnneokortexwindungen klingen ringen schwitzen die poren schwingen i am reassured ∙ i am reassured phantasiebelügelndes blutinwallungsingen inmitten der exotischen landschaft wo botenstoffe hageln und sich birnrunzelnd bisweilen nichts als nichts als fragen stellen kurzgeschichten von hawthorne, die man / nie mehr los wird / weil sie von herbstfarben durchzogen sind / bevölkert von unaufdringlichen einsamkeiten ah diese verschwundersam wispernde stille trunken von wörtern stealing the scraps at the great feast of language das lesen das leben das leise das schweigen bei all den summenden wörtern wie zweierlei magische momente bedrückende begegnungen dreierlei stimmungen rufen trinken und … weben und weben … trinken versetzt lesen mich in ein schwingen des staunens der begeisterung der zuneigung des sich-fragens der verehrung des zorns der empörung des selber-noch-nicht-wissens! und während der verprächtigsten lesaugenblicke ich lese dich ich schreibe von dir ab wird ätherisches geschehn as the flock suddenly / rises from november stubble zu … levitation ... auffahrt? entgrenzung? weltwerdung oder so: das – dieses lied dieser klang – bin jetzt ich mit diesen stimmen diesen harmonien bin ich wie noch nie im leben der geworden der ich bin wie dieser gesang ist so bin ich ganz! und keiniemand soll den echolalischen wörterdieb mehr fragen ob lesen schreiben beeinflußt wie schreiben lesen durchdringen kann schreiben ist lesen lesen ist schreiben lesen ist leben ich lese ich schreibe um zu arbeiten ich arbeite um zuhause zu sein ∙ wir spielen bis uns der tod abholt ∙ this is it and nothing more ∙ lalu lalu lalu lalu la
Beschwingt mach ich mich unmittelbar darauf auf den Nachhauseweg. Daheim um kurz nach eins, werf ich Mantel und Schal von mir, nein lassen Sie gut sein ich verliere jetzt den Verstand, und greif sogleich nach dem auf dem Wohnzimmertisch liegenden großformatigen, vielfarbigen Künstlerbuch Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen, schlags blindlings auf und seh den Baum Hibiscusbaum / mit seinen schwellenden rosa Blüten / sanft verschlungen verzweigt / im Fenster des Korridors … im Hintergrund hör ich das Auerhahnbalzen, ich lasse mir gern was einsagen … Wasserrauschen …
* * *
Friederike Mayröcker · Linde Waber, Gleich möchte ich mich auf deinem Bild niederlassen · Tageszeichnungen und Texte 1983 bis 2014, herausgegeben von Christel und Matthias Fallenstein, Nachwort von Matthias Fallenstein, Mehrfarbdruck, Format 32 x 24 cm, 160 Seiten, Hardcover im Schuber, von Autorin und Künstlerin signiertes Künstlerbuch in limitierter Auflage von 199 Exemplaren, Vorzugsausgabe (40 Exemplare) mit je einer Malerei auf Japanpapier von Linde Waber, Mandelbaum Verlag, Wien 2014.
Bodo Hell · Friederike Mayröcker, Landschaft mit Verstoßung · Ein dreifaltiges Hörstück · mit psychoakustischen Naturtönen von Martin Leitner am Leitfaden von Friederike Mayröcker, den Stimmen von Bodo Hell und Friederike Mayröcker sowie einer Vorrede von Peter Klein, CD, Format 13 x 18 cm, 32 Seiten, Hardcover, Mandelbaum Verlag, Wien 2014.
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